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Auf dem gelblich angehauchten Belinpapier, das auf die Innenseite des Deckels geklebt war, stand mit großen, energischen Buchstaben, deren Tinte von der Zeit schon fast braun war:
»Paris, den 9. Juni 1876.
Mit mir, meiner Kraft und allen Teufeln.
Heute fange ich an!
Paris, den 10. Juni.
Er scheint nicht zu wollen. Ich habe ihn bei seinem Ehrgeiz zu fassen gesucht. Hatte wenig Glück damit. Seine Zurückhaltung ärgert mich.
Abends. Verdammt schlauer Hund, habe ihn unterschätzt. Meine zukünftige Existenz steht in Frage. Muß ihn anders nehmen, aber wie?
Paris, 11. Juni.
Schlaflose Nacht gehabt. Zu keinem Resultat gekommen. Er ist so schlau, entschlüpft mir immer wieder. Mache jetzt noch einen Versuch.
Abends. Glänzend geglückt. Habe ihn kurz entschlossen bei seiner Habgier gepackt. Er hätte mich ebensogut hinauswerfen können. Nahm meinen Vorschlag, die Sache zu teilen, mit größter Ruhe auf. War von diesem Augenblick an seiner sicher.
Paris, 20. Juni.
Vorläufig alles ins Wasser gefallen. Sein Amt steckt ihm noch zu sehr in den Knochen. Im entscheidenden Moment weigerte er sich. Behauptet, unheilvolle politische Verwicklungen dadurch hervorrufen zu können. Habe augenblicklich kein Geld mehr. Heute mit ihm bei Brébant gegessen. Morgen werde ich meinen letzten Frank sorgsam einteilen müssen. Darf ihn natürlich nichts merken lassen. Oder habe ich ihm vielleicht noch zu wenig geboten?
Nachts. Ich kann nicht schlafen. Sollte alles zu Ende sein? Man muß es durchführen. Ich habe mir nun einmal in den Kopf gesetzt, ein reicher Mann zu werden, dadurch, daß wir beide jene Bewegung unterstützen. Ich werde morgen doch noch einen Versuch mit M. machen. Die Leute vom Miz. müssen mir für morgen etwas geben. Ich werde M. in ein Ballokal am Montmartre führen. Vielleicht kann ich ihn da bestimmen.
Paris, 9. Juli.
Wieder ein Monat um. Früher hätte ich die Sekunden der Tage gezählt. Jetzt ist mir dieser Monat, seitdem ich meine neue Karriere vor mir habe, vergangen wie im Fluge. Ich sehe mit Verwunderung aus meinen Aufzeichnungen, daß gerade vor vier Wochen die Affäre begann.
Ich kann ganz zufrieden sein; es macht sich. M. war in den ersten Tagen nach seiner Zusage sehr verstört und schweigsam. Ich erlaubte mir, ihn sacht an sein Ehrenwort zu mahnen. Er fuhr wild auf; daran brauche ihn niemand zu erinnern.
Seitdem gehört er mit Leib und Seele zu den Leuten vom Miz. Er ist ihr tätigstes Mitglied. Mich sieht er seit jenem Tage mißtrauisch und feindselig an, wenn er meint, daß ich ihn nicht beobachte. Ich glaube, er wird es mir innerlich nie verzeihen, daß ich ihn an jenem Abend verleitet habe, ohne eigene Initiative Versprechungen zu geben, die er nüchtern nicht geben wollte.
Äußerlich verkehren wir aber natürlich immer weiter in demselben scheinbar herzlichen Ton.«
Sanders hob den Kopf von den Blättern. Er schwieg und sann eine Weile nach. Dann las er weiter:
»Marseille, 15. Juli.
Ich habe es durchgesetzt, daß M. Urlaub nimmt. Er sagt, er mache eine Erholungsreise. In Wirklichkeit ist es mir klar geworden, daß, wenn bei der Sache etwas herausschauen soll, wir beide persönlich herumfahren müssen. Ich habe ihn bewogen, sich von den Miz. Geld für uns beide geben zu lassen. Die ›Montjoye‹, ein Mittelmeerdoppelschraubendampfer, fährt übermorgen herunter. Wir stehen schon auf der Passagierliste. Angeblich Vergnügungsfahrt, ins Mittelmeer. M. ist jetzt ganz bei der Sache.
An Bord der ›Montjoye‹, 19. Juli.
Das Meer trägt uns noch zwei Tage. Es ist spiegelglatt und von einer schimmernden Durchsichtigkeit. M. und ich reden wenig miteinander, jeder ist zu sehr mit sich beschäftigt.
Nachts. Eben hatte ich ein seltsames Erlebnis. Nach dem Abendessen suchte ich M. auf, und wir gingen in der warmen, sternenklaren Nacht an Bord, als plötzlich M. warnend den Finger an den Mund legte und mir flüsternd hastig zurief: ‹Brandorff, sehen Sie hinter mich in die Dunkelheit – ich habe das Gefühl, als würden wir beobachtet!› Ich sah angestrengt hinter ihn – es brannte an unserer Seite keine Laterne – plötzlich glaubte ich zwei funkelnde Augen in der Dunkelheit zu entdecken. Ich stieß M. leise mit dem Fuß an, er verstand das Zeichen.
Wir erhoben uns beide geräuschlos, und ich stürzte auf die Stelle zu, wo ich den Lauscher vermutete, M. mir nach. Wir kamen zu spät. Niemand war da. Sofort eilten wir hinunter in den Salon, um uns zu überzeugen, wer von den Passagieren fehlte oder eben erst gekommen war. Aber es war absolut nichts Auffälliges zu bemerken. Alle saßen in einer Haltung da, als hätte sie die Ewigkeit so hingesetzt. Wir knüpften mit dem Schiffs-Steward ein Gespräch an und fragten ihn unauffällig, wer von den Passagieren denn schon in den Kabinen sei. Aber es stellte sich heraus, daß nur drei Damen, eine Französin und zwei Italienerinnen, nicht in dem Salon waren. Wir verständigten uns durch einen Blick: Eine Frau konnte es nicht gewesen sein, man hätte sonst das Rauschen von Frauenröcken gehört. Immerhin, es war kein behagliches Gefühl, beobachtet zu werden. Wir beschlossen, äußerste Vorsicht walten zu lassen.
An Bord, 20. Juli nachts.
Wir haben ihn, es ging glänzend. M. und ich gingen zur selben Zeit wie gestern nach unserer Verabredung an die Reling und plauderten, etwas lauter als gestern abend. Auf einen Wink von mir dämpfte M. seine Stimme plötzlich zum Flüstern. Wir neigten unsere Köpfe zueinander und taten so, als ob wir in eifriger, wichtiger Geheimunterhaltung wären. Plötzlich hörten wir hinter uns Geräusch. Sofort zog M. seinen bereitgehaltenen Revolver aus der Tasche, richtete ihn auf die verdächtige Gegend und rief mit gedämpfter, aber energischer Stimme: ›Halt, oder ich schieße!‹ Im selben Moment hatte ich hinter der vorgehaltenen Hand ein Streichhölzchen angezündet. Wenige Schritte vor uns sahen wir das ungeheuer verblüffte Gesicht eines jungen Matrosen. M. ging auf ihn mit vorgehaltenem Revolver los und packte ihn am Arm. Der Matrose war so verwirrt, daß er's willenlos geschehen ließ.
›Von wo kommst du?‹ herrschte ihn M. leise an. Der Matrose machte schweigend eine Bewegung mit zwei Fingern der linken Hand, die nur uns und wenigen von unserer Partei bekannt sein konnte. ›Es ist gut!‹ sagte M. und ließ ihn los. ›Aber sage deinen Vorgesetzten, daß es nicht nötig ist, uns überwachen zu lassen. Wir halten unser Wort!‹ Und ich setzte hinzu: ›Laß dir nicht einfallen, noch einmal während der Fahrt etwas Ähnliches zu versuchen, wir würden dich unweigerlich dem Kapitän melden. Du kannst gehen!‹ Der Matrose neigte kurz den Kopf und verschwand. Diese Orientalen sind doch zu mißtrauische Leute, unsereins kann sich gar keinen Begriff davon machen.
An Bord, 23. Juli.
Heute vormittag kam M. freudestrahlend zu mir gelaufen. ›Hören Sie, Brandorff, eine große Neuigkeit! Haben Sie den neuen Passagier schon gesehen?‹ Ich hatte ihn noch nicht zu Gesicht bekommen. ›Wissen Sie‹, fragte er weiter, ›wer es ist?‹ ›Nun?‹ sprach ich sehr gespannt, denn ich dachte natürlich, es handle sich um ein hohes Mitglied unserer Partei, das der Beschleunigung unseres Unternehmens förderlich sein könne. ›Eine Dame, Brandorff,‹ lachte er, ›ein wundervolles Weib!‹ ›Haben Sie schon mit ihr gesprochen?‹ fragte ich sehr enttäuscht und gleichgültig. ›Nein!‹ erwiderte er. ›Ich sah sie jetzt nur zufällig, als sie ihre Kabine auf ein paar Minuten verließ. Sie ist tief verschleiert, aber sie hat eine herrliche Figur. Ein alter Kerl ist in ihrer Umgebung, der sie offenbar eifersüchtig bewacht. Aber ich glaube, mein Gefühl täuscht mich nicht, wenn ich sage: Ich hoffe, daß mir mein Glück hold ist!‹
M. ist doch unverbesserlich. Mitten in unsere ernstesten Unternehmungen kommt er mit einem Liebesabenteuer. Wenn nur alles gut ausgeht – ich habe unangenehme Gedanken, jetzt, wo wir uns täglich unserm Ziel nähern!
An Bord, 24. Juli.
Am Abend. M. kam erregt zu mir und erzählte mir, es sei ihm gelungen, durch Blicke ein Einverständnis mit Frau Signotani herbeizuführen. Sie habe den dichten Schleier ein wenig gelüftet, als er an ihr vorbeiging, und ihn mit ein paar wundervollen schwarzen Augen angeblitzt. Er sinnt darauf, irgendwie mit ihr eine Verbindung herzustellen.
Wenn das nur gut ausläuft! Ich bin doch auch noch jung, aber für mich gilt der Satz: Der Mann darf sich nicht teilen. Entweder sein Werk oder die Liebe.
Gerade jetzt heißt es doch bei uns alle Fasern anstrengen, wenn uns das Unternehmen glücken soll.«
Sanders machte hier beim Umblättern eine Pause.
Cecily stand auf: »Sanders, ich kann Ihnen bei der Lektüre doch nichts nützen, das haben Sie jetzt gesehen. Ich bin übermüdet. Darf ich Sie mit dem Buch allein lassen und zu Bett gehen? Lesen Sie nur ruhig allein weiter, und gebe Gott, Sie fänden etwas!«
Er küßte ihr respektvoll die Hand. Cecily ging hinaus und ließ Sanders im großen, kahlen Bibliothekzimmer allein mit den Blättern des Tagebuches zurück. Er blätterte die Seiten um.
Pera hieß die Überschrift.
»26. Juli.
Nun liegt Pera vor uns.
Mich verstimmt nur eins: das Abenteuer M.s mit dem schönen Weib. Wer ist sie eigentlich? Ich vermute, sie ist die neue Frau eines vornehmen Türken. Sicher ist sie gar keine Orientalin. Ich halte sie für eine Südfranzösin. Der Alte ist natürlich nicht ihr Mann, wie ich mir gleich gedacht hatte. Heute kam sie aus ihrer Kabine und ging, um die Seeluft noch die letzten Stunden zu genießen, an Deck. Sie war allein. M. sah sie und schritt entschlossen auf sie zu. Sie hatte den Schleier hochgeschlagen, und man konnte ihr reizendes, pikantes Gesicht sehen, das von einer dichten, schwarzen Haarflut umrahmt war. Als sie M. kommen sah, errötete sie tief und lächelte. M. sprach sie französisch an. Schon schien sie antworten zu wollen. Plötzlich stand wie aus der Erde gewachsen der häßliche Alte hinter uns, ergriff sie beim Arm und führte sie mit wutverzerrter Miene, doch ohne eine Silbe zu reden, hinunter. Sie war ganz bleich geworden und warf M. einen tieftraurigen, beredten Blick zu. ›Sahen Sie diesen Blick, Brandorff?‹ fragte mich erregt M. ›War er nicht hilfeflehend? Gewiß führt sie dieser alte Kerl dem Harem irgendeines dieser verdammten Orientalen zu, und sie kann sich nicht wehren!‹ ›Wahren Sie um Gottes willen Ihre Zunge!‹ rief ich ihm warnend zu. ›Denken Sie, wie nahe wir dem Innenhafen sind, und da ist türkisches Gebiet!‹ In der Tat, mich machte dieses Abenteuer besorgt. Ich wußte nur zu gut, wie streng man in der Türkei die Frauen hütet. Ein Europäer, dem die geheime Verbindung mit der Gemahlin eines Türken nachgewiesen werden kann, hat nach türkischem Recht sein Leben verwirkt.
Der leichtherzige Flattersinn M.s könnte um eines schönen Weibes willen alle sorgsam geschmiedeten Pläne zunichte machen, ja uns sogar durch Unvorsichtigkeit in die größte Lebensgefahr bringen! Ich muß doch scharf auf ihn acht geben.
Pera, den 27. Juli.
Beim Verlassen des Schiffes suchte M. noch einen Blick von seiner Dame zu erhaschen. Aber es stellte sich heraus, daß eine reich verzierte Barkasse, die uns schon vorher durch ihren kostbaren Goldschmuck und ihre sechs Mann am Ruder aufgefallen war, anlegte und den Alten mit der dichtverschleierten Dame abholte. Unsere Vermutung hatte uns wohl nicht getäuscht. Alle diese waren mit dem Alten wohl nur Abgesandte des wirklichen Gemahls, eines vornehmen Türken.
Stambul, den 29. Juli.
Dieser Hund, der M.! Er hat doch wirklich durch seinen Leichtsinn beinahe alles verdorben! Als er mich heut im Schreiben unterbrach und mit verstörtem Gesicht zu mir ins Zimmer trat, da ahnte ich gleich, daß etwas Böses vorlag. Kurz und gut: er hat, ohne es mir zu sagen, auf dem Schiff einen Matrosen bestochen, der die Spur der schönen Haremsdame verfolgen sollte. An Land gelingt es ihm wirklich, das Haus in der Stadt zu finden. Es gelingt ihm, ihre Aufmerksamkeit des Abends am Fenster zu erregen. Sie wirft ihm einen Zettel zu. Aber man bemerkt ihn, hat Verdacht, daß er Absichten auf den Harem hat, und will ihn verhaften. Er entgeht den Verfolgern und entflieht wirklich. Da saß er nun verstört im Hotel. Wie, wenn man ihn noch ausfindig machte? Wenn man sich um uns näher kümmerte? Wenn man feststellte, was wir eigentlich wollten? Ist erst die Aufmerksamkeit auf uns gelenkt, so gibt es Spione genug, die unsere Spur zurück bis nach Paris verfolgen können. Und dann ist alles zu Ende. M. muß sich in den nächsten Tagen im Hotel verborgen halten, damit er nicht erkannt wird, alles muß beschleunigt werden. Morgen muß ich zu unseren Leuten. Vorsicht, Vorsicht – es droht Gefahr!«
Die Seite war zu Ende. Sanders drehte sie um, aber ein leeres Blatt gähnte ihm entgegen. Alle noch folgenden Blätter des Buches waren leer. Offenbar war die Erzählung Brandorffs in der Mitte abgebrochen worden. Plötzlich fand Sanders beim langsamen Blättern auf der drittletzten Seite des Buches groß und deutlich an den oberen Rand ein Wort hingeschrieben. Da stand, wie wenn es hätte eine Überschrift sein sollen: »Die Opale».
Sanders stutzte. Er blätterte um – es kam nichts mehr.
Es war Nacht, und Sanders saß noch immer in dem fremden Hause grübelnd, den Kopf in der Hand, beim hellen Schein der Lampe.
Ratlos stellte er sich ans Fenster und sah hinaus in das dichte Laub der dicken, hohen Bäume vor ihm, das in grünlichem Silber unter dem Mondlicht spielte. Plötzlich kam ihm ein Gedanke: Der Garten! – Noch niemand hatte da gesucht!