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II.
Folgerungen

Das Arbeitszimmer Brandorffs war ein kleiner Raum mit wenig Möbeln. In der Nähe des Fensters ein Schreibtisch, daneben ein mittelgroßes Regal, vollgedrückt mit hohen Büchern, gegenüber eine Chaiselongue. Vor dem Schreibtisch ein halb zur Seite gedrehter Arbeitsstuhl, dem gegenüber ein Polstersessel.

Cecily zog die Jalousie hoch. Das plötzlich einfallende Licht vom Garten zeigte, wie bequem und wohnlich dieses so karg möblierte Zimmer doch war. An den Wänden hingen in schlichten Naturholzrahmen alte Stiche. Auf der anderen Seite der Bibliothektür standen auf langen, schwarz gebeizten Füßen zwei lange, schmale, verschlossene Kasten mit schrägen Glasdeckeln – ein klein wenig eingestaubt. Es war die Edelsteinsammlung Brandorffs.

Man sah, daß ihr Besitzer sich längere Zeit nicht recht um sie gekümmert haben mochte. Staub lag auch auf dem alten Ebenholzrahmen, der die vergilbte Photographie einrahmte, die über den beiden Truhen hing. Davor stand ein Tischchen, auf dem zwei halbgeleerte Teegläser waren. Alles sah aus, als sei der Bewohner des Raumes nur eben einen Augenblick fort.

Johns scharfe Stimme durchdrang den Raum leise: »Befehlen gnädiges Fräulein vielleicht, daß zu Herrn Soltau geschickt wird?«

Wie eine Erlösung ging es über Cecilys Gesicht: »Ja, John, sofort, schicken Sie Lehnert auf der Stelle zu meinem Cousin.« Fort waren die Tränen. Beinahe strahlend hatte sie die Worte gesprochen. Doch plötzlich kam ihr ein anderer Einfall. Kaum zehn Minuten entfernt wohnte noch ein Freund des Hauses – Rechtsanwalt Sanders. Er stand als juristischer Beirat ihrem Vater zur Seite, kam oft ins Haus, und sein Verhalten war das eines klugen, ruhigen Mannes, der mit scharfem Verstand ein feines Gefühl verband. Und da er noch dazu mit Soltau innig befreundet war, hatte sie um so mehr Vertrauen zu ihm. Den Rechtsanwalt Sanders wollte Cecily jetzt rufen. Sie wußte, er würde ihr bestens beistehen.

Sofort begab sie sich ans Telephon: Sanders war da, er antwortete, daß er sogleich kommen werde.

Eine bange, schreckliche halbe Stunde verging.

Endlich kam Rechtsanwalt Sanders. Cecily war gerade dabei, ihm den Sachverhalt zu erzählen, da klopfte es. John trat ein,

»Wann kommt mein Cousin?« fragte Cecily ihn erregt.

John antwortete mit seinem unbeweglichen, englischen Gesicht:

»Herr Soltau war nicht zu Hause!«

»Nicht zu Hause?« rief Cecily. »Aber um diese Zeit ist er doch immer zu Hause!«

»Als ich in die Königgrätzer Straße kam«, antwortete John, »sagte mir der Diener, Herr Soltau habe gestern abend, bevor er wegging, befohlen, die Koffer reisefertig zu machen. Heut früh wollte Herr Soltau abreisen. Aber er ist noch nicht wieder nach Hause gekommen!«

In jähem Schreck murmelte Cecily: »Erich will reisen?« Aber bevor sie ihren ängstlichen Träumen weiter nachgehen konnte, trat mit ruhigen Bewegungen Sanders dazwischen:

»Sagen Sie, John«, fragte er, »wann war denn Herr Soltau zuletzt hier?«

»Gestern abend, Herr Rechtsanwalt!«

»Nun – und?«

»Die beiden Herren zogen sich ins Arbeitszimmer zurück, nachdem ich den Tee gebracht hatte!«

»Ja, mein Vater sagte ihm, er solle zu Bett gehen«, bemerkte Cecily.

»Sind Sie da gleich zu Bett gegangen?« fragte Sanders.

»Nein, Herr Rechtsanwalt.«

Cecily sah erstaunt auf. Warum hatte er das verschwiegen?

»Was taten Sie dann?« fragte Sanders ruhig weiter.

»Ich machte erst das Gastzimmer zurecht, weil ich dachte, so spät in der Nacht, da bleibt Herr Soltau vielleicht hier. – Er hat es oft getan, als das gnädige Fräulein noch in England war.«

»Und dann?«

»Dann ging ich ins Billardzimmer und wartete, ob der gnädige Herr vielleicht doch noch etwas brauchte.«

»Wurden Sie gerufen?«

»Nein, Herr Rechtsanwalt!«

»Und was haben Sie dann gemacht?«

»Ich ging zu Bett, Herr Rechtsanwalt!«

»Gleich?«

»Ja – gleich!«

Ein unmerkliches Zögern begleitete Johns letzte Antwort. Aber Sanders' feingeschulten Ohren war es nicht entgangen. Einen Moment besann er sich, dann sah er John ruhig und groß in die Augen:

»Haben Sie irgend etwas wahrgenommen?«

»Nein, Herr Rechtsanwalt!«

»Ist Ihnen nichts aufgefallen? – Gar nichts?«

Einen ganz kleinen Augenblick Pause. Dann: »Nein!«

Im selben Moment trat Sanders dicht vor ihn hin und rief ruhig und kalt:

»Bitte, sagen Sie mir sofort, was Ihnen aufgefallen ist. Sie haben etwas bemerkt – ich weiß es!«

John hielt seinen Blick aus, dann sah er sekundenlang auf Cecily, die voll erregter Spannung zuhörte.

»Wenn Herr Rechtsanwalt es wissen – Herr Soltau schien mir etwas verstört. Und später, als ich im Billardzimmer wartete – hörte ich durch die Türen – aber ich kann mich auch täuschen – ich glaube, einen erregten Wortwechsel zwischen dem gnädigen Herrn und Herrn Soltau.«

Hastig sprang Cecily auf, in höchster Erregung:

»John, wie können Sie es wagen, so etwas zu sagen! Das ist eine unglaubliche Frechheit!«

Sanders trat dazwischen: »Ich bitte Sie, liebes Fräulein Cecily, Sie dürfen sich nicht aufregen! Warum sollte Johns Bericht nicht der Wahrheit entsprechen?«

John war sofort in sich zurückgekrochen: »Ich habe mich wohl getäuscht. Zwischen dem Billard- und dem Arbeitszimmer liegt ja die Bibliothek. Man kann sich leicht irren in den Geräuschen.«

Sanders sagte kalt: »Es ist gut, John. Sie können gehen!«

Cecily ging in höchstem Entsetzen im Zimmer auf und ab. Sie rang krampfhaft die Hände: »Sanders, Sanders – ich bitte Sie – was soll das nur sein! Erich hat doch nie ein heftiges Wort gesagt. Und mein Vater war so ruhig und überlegt. – Mein Vater – wo ist mein Vater? – Und Erich will reisen und ist nicht nach Hause gekommen! – O Gott, was geht nur hier vor? Warum muß das alles gerade auf mich eindringen?« Und in tiefster Verwirrung laut und angstvoll schluchzend, brach sie zusammen.

*

»Unangenehm, höchst unangenehm!« sagte der Kriminalkommissar von Redberg. »Sehen Sie nur, Herr Sanders, wieviel Personen schon im Zimmer gewesen sind! Man hat ja alle Spuren verwischt!«

Aber er stellte zwei Kriminalbeamte ins Haus und trug dafür Sorge, daß das Arbeitszimmer nicht mehr betreten wurde. Sanders kannte die Wohnung bis ins kleinste Eckchen. Er hatte schon als Zwanzigjähriger den alten Brandorff, den langjährigen Freund seines verstorbenen Vaters, oft und gern aufgesucht. Als er dem Kriminalkommissar zur Hand gehen wollte, lehnte dieser nicht gerade unfreundlich ab. »Danke verbindlichst, Herr Rechtsanwalt. Ich werde vielleicht Ihren Rat noch brauchen können, aber vorläufig muß ich sehen, wie ich mich allein zurechtfinde.

Wirklich, die Sache ist höchst mysteriös. Der alte Herr geht sonst nie aus dem Haus, neigt, wie Sie sagen, auch zu keinerlei Extravaganzen, und nun ist er plötzlich verschwunden – und noch dazu aus dem innen abgeschlossenen Zimmer! Mysteriös – höchst mysteriös!«

Er beklopfte die Wände, ging zum Fenster, ließ die Jalousie herab und zog sie wieder hoch. Dann sah er aus dem Fenster hinunter: »Nein, hier kann er nicht heraus! Aber, sagen Sie, Herr Sanders, Sie kennen die Wohnung ganz genau – wirklich ganz genau? Und Sie sind überzeugt, daß außer dieser offenen Tapetentür hier sich nirgends im Zimmer etwa eine Geheimtür oder so etwas Ähnliches befindet? Ich bitte Sie, in so einem alten Haus!«

Herr von Redberg machte sich daran, mit Hilfe von Sanders festzustellen, ob vielleicht irgend etwas in der Wohnung fehle, das sonst da war.

Man untersuchte die Gemäldegalerie. Im Regal des Arbeitszimmers stand der Katalog der Sammlung, den Brandorff sorgfältig bis zu den Erwerbungen der jüngsten Zeit, eine Woche vor seinem plötzlichen Verschwinden, fortgeführt hatte. Auch das allerkleinste Bildchen holländischer Maler hing an seinem Platze. Etwas nervös gespannt gingen die Herren dann zur Besichtigung der Edelsteine. Die Schlüssel zu den beiden Glaskästen waren nicht da. Aber man konnte durch das Glas mit Hilfe des Katalogs feststellen, daß kein Finger an die ganze leuchtende Pracht gerührt hatte.

»Wissen Sie«, sagte Herr von Redberg vertraulich zu Sanders, »von Bildern verstehe ich den Deubel was. – Aber Geschmeide – à la bonne heure – ehemaliger Vortänzer bei Hofe, man hat so seinen Blick. So was an Seltenheit ist mir bei einem Privatmann überhaupt noch nicht vorgekommen! Sehen Sie nur, diese gefaßten Perlen hätte selbst die alte Dame Kleopatra – oder Antonius – oder wer's gerade war von den alten Völkern – nicht in Essig gelegt und gefressen! Nein, und sehen Sie nur – diese beiden Opale – das ist ja das Fabelhafteste, was ich je gesehen habe. Die kleinen Opale sind ja gewöhnlich nicht so wertvoll. Aber diese hier – diese Größe, diese riesige Größe! Fabelhaft, höchst fabelhaft! Sind gar nicht mit Geld zu bezahlen. – Und Sie meinen – unter uns, ganz vertraulich – alles echt? Aber selbstverständlich, selbstverständlich; alter, vornehmer Herr, wird sich doch keine unechten Sachen unter Glas legen!«

Doch Sanders nickte nur langsam und traurig. Kaum hörte er Redbergs letzte Worte. Er dachte an seinen Freund Soltau. Es war toll, dies verrückte Zusammentreffen von Zufällen.

Mit dem schweren, müden Schritt des düster Nachdenklichen stieg er die Treppen zu seiner Wohnung empor. Er schloß auf und durchschritt das leere Bureau, um in seine Wohnung zu kommen. Es war Mittagszeit. Die Angestellten waren zu Tisch gegangen, nur ein seit kurzem engagierter Schreiber machte sich zu schaffen.

»Was vorgefallen?«

»Nein, Herr Rechtsanwalt! Bloß ein Herr ist da, der Sie sprechen will.«

»Sie wissen doch, daß jetzt keine Bureaustunde ist, er soll zur Zeit wiederkommen!«

»Das habe ich ihm auch gesagt, Herr Rechtsanwalt! Aber er ging nicht weg, er sagte, es wäre dringend!«

Ärgerlich riß Sanders die Tür zu seinem Schreibzimmer auf.

Aber das Wort blieb ihm in der trockenen Kehle stecken: In seinem Schreibsessel saß, bleich, mit wirrem Haar, zusammengefallen, schlafend – Erich Soltau.


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