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IV.
Die Polizei spricht

Sanders langte in Brandorffs Hause an, voll Ungewißheit, voll Angst, voller verwickelter Empfindungen im Herzen, die sich unablässig aufs neue kreuzten.

Zögernd schritt er die Treppe hinauf, bei jeder Stufe verlangsamte er den Schritt ein wenig mehr. Was würde er jetzt im Hause finden? Welche neue Überraschung harrte seiner? Hatte man Spuren von Brandorff, hatte man Spuren von Soltau gefunden?

»Ah, Herr Rechtsanwalt Sanders!« rief ihm plötzlich eine Männerstimme zu. Er sah auf: Es war der Kriminalkommissar von Redberg. Ein Schreck durchzuckte ihn – waren diese Leute etwa auch schon auf Soltaus Spuren? Er bezwang mit Gewalt seine Erregung. »Nun, haben Sie etwas gefunden, Herr von Redberg?« fragte er scheinbar ruhig.

Herr von Redberg machte eine verschlossene Miene: »Ja, ich darf eigentlich nichts sagen, Sie wissen, Amtsgeheimnis!« »Bitte sehr!« entgegnete scheinbar gleichgültig Sanders. Aber der Kommissar konnte doch vor dem Gleichmute des Rechtsanwalts nicht ganz an sich halten. »Hören Sie«, sagte er, »hören Sie, Herr Rechtsanwalt, Sie sind ja eine amtliche Person – wir sind also sozusagen Kollegen ... sozusagen!« Sanders' ruhige Miene fragte deutlich: »Nun, und?«

»O Pardon!« rief plötzlich der Kriminalkommissar. »Ich habe ja ganz vergessen, daß auch Sie uns bei der Affäre behilflich sein wollen! Ja, interessanter Fall, die Affäre da!«

Es berührte Sanders unangenehm, die Angelegenheit, die ihm so zu Herzen ging, als »Affäre« und »interessanten Fall« bezeichnet zu sehen. Aber er verhielt sich ruhig und fragte höflich: »Sagen Sie, Herr Kommissar, haben Sie schon Spuren des Mörders?«

»Spuren des Mörders?« entgegnete Redberg schleppend, während er den blonden Schnurrbart zwirbelte. »Mörder? – Hm, Mörder? – Wissen Sie, Herr Rechtsanwalt, ich glaube, hier gibt es gar keinen Mörder!«

»Was?« fuhr Sanders auf.

»Nun, Herr Rechtsanwalt«, meinte Redberg lächelnd, »ich will Ihnen mal was sagen: Soviel ich sehe, ist hier überhaupt kein Verbrechen geschehen!«

»So haben Sie Brandorff gefunden?« rief Sanders erregt.

»Brandorff?« erwiderte der Kommissar. »Brandorff? – Hm, sehr geschickt – sehr geschickt!«

»Ja, was meinen Sie denn?« rief Sanders, der sich gar nicht mehr halten konnte.

»Was ich meine? – Was ich meine? – Nun, ich meine, die ganze Sache ist ein famoser Schwindel! Aber interessant, sehr interessant!«

»Schwindel?« fragte Sanders ganz fassungslos.

»Schwindel!« bestätigte der andere.

»Erlauben Sie, das verstehe ich nicht«, sagte nach einer kurzen Pause Sanders. »Meiner Ansicht nach muß hier ein Verbrechen geschehen sein!«

»O, ich weiß Ihre Ansichten vor Gericht zu schätzen, Herr Rechtsanwalt«, entgegnete höflich Redberg, »aber in der Untersuchung, was die Untersuchung von Spuren betrifft, da sind Sie – bitte um Verzeihung – doch wohl nicht Fachmann!«

»Aber so erklären Sie mir nur!« rief Sanders.

»Gern«, sagte Redberg verbindlich. »Sehen Sie, ich habe mich mal zuerst nach Brandorff genau erkundigt. – Aber, bitte, kommen Sie doch hinein, wir können unmöglich auf dem Treppenflur verhandeln.«

Sie gingen in die Bibliothek. Redberg setzte sich ruhig an den großen Tisch inmitten des kahlen Zimmers und zwirbelte selbstbewußt am Schnurrbart. Sanders ging in Erregung und voll sich jagender Gedanken auf und ab.

»Na, und also, Herr Rechtsanwalt«, sagte der Kommissar beinahe gemütlich, »da habe ich erfahren, daß der alte Herr gar kein so ruhiger Mann war, wie Sie zu glauben scheinen.«

»Aber erlauben Sie«, warf Sanders dazwischen, »ich selbst weiß ganz genau, daß er seit Jahren kaum einen Schritt aus dem Hause gemacht hat. Jedenfalls nie in der Nacht!«

»Ja, ja, das mag wohl sein«, erwiderte der Kommissar, »dagegen habe ich auch gar nichts gesagt. Übrigens, was vor allem gegen ein Verbrechen spricht: es fehlt nichts, in der ganzen Wohnung nichts! Es ist nicht die geringste Kleinigkeit abhanden gekommen. Ich habe das mit Fräulein Brandorff und den beiden Dienstleuten genau festgestellt!«

»Aber vielleicht hat Brandorff etwas bei sich getragen, größere Summen in der Tasche gehabt?« entgegnete Sanders.

»Natürlich habe ich mich auch danach erkundigt«, sagte Redberg. »Nein, das war gar nie seine Gewohnheit. Er hatte auch keinen Grund dazu, weil er eben so selten fortging. Alles, was er an barem Gelde oder an Papieren im Hause hatte, befand sich immer im Geldschrank, der im Schlafzimmer steht. Das Schlafzimmer war ja unberührt. Ich habe also den Geldschrank untersucht – auch nicht die geringste Spur von einer fremden Hand hat sich daran gezeigt. Wir haben zu Arnheim geschickt und jemand kommen lassen, der den Geldschrank öffnen sollte. Der Geldschrank ist ein altes Modell und bot gar keine Schwierigkeiten. An der Tür hing innen eine Liste des im Schrank vorhandenen Bestandes: Es fehlte nicht ein Papierschnitzelchen. Aber etwas ganz anderes habe ich gefunden, was mir zu zeigen scheint, daß der alte Herr doch ein sehr unruhiger Kopf ist, dem man eigentlich alles zutrauen kann. Bitte, sehen Sie selbst!« Er griff in die schwarze Aktenmappe, die er vor sich auf dem Tisch liegen hatte, und holte ein in braunes, biegsames Saffianleder gebundenes Buch hervor, das mit einer silbernen Schnalle verschlossen war. Sanders nahm es in die Hand, und ohne die Schnalle zu öffnen, sah er Redberg zweifelhaft an: »Ich begreife noch nicht recht, was das hier mit dem Verschwinden Brandorffs zu tun haben soll.«

»Bitte«, erwiderte Redberg, »lesen Sie nur darin; Sie werden dann ebenso wie ich zur Überzeugung kommen, daß Brandorff ein ganz phantastisch angelegter Mensch war, der allen Einfällen seines Hirns ohne weiteres nachzugeben pflegte. – Im Hause fehlt nichts, ein Raub liegt also nicht vor. Spuren, die auf Gewaltsamkeiten hindeuten, sind auch nicht da. – Ich habe nun zwar den Diener John verhört, und der hat mir von einem angeblichen Streit erzählt, den Brandorff noch gestern abend mit seinem Neffen gehabt haben soll – wie heißt er doch gleich? Warten Sie, mein Notizbuch – ah, richtig: Soltau. Aber das scheint mir bedeutungslos. Nein, der alte Brandorff war, nach diesem Buch zu urteilen, ein sehr schlauer und recht phantasiebegabter Herr. Meine Überzeugung ist: er hat sich ganz allein davongemacht – weiß der Teufel, wie! Aber das geht mich nichts an. Ich habe also gar keinen Grund, mich amtlich weiter um die Sache zu kümmern. In die Privatangelegenheiten des Herrn Brandorff darf ich mich nicht hineinmischen. Ich habe hier im Hause gar nichts mehr zu suchen.«

»Wissen Sie«, fuhr Redberg fort, »die Sache ist ja sehr interessant! Glänzendes Schwindeltalent hat der Alte – unter uns, natürlich ganz unter uns! So was – sich herauszumachen aus einem Zimmer, das von innen zweimal verschlossen ist! Ich muß Ihnen ja offen sagen: es reizt mich direkt, der Sache auf den Grund zu gehen – aber ich darf nicht. Ich darf doch nicht! Mein Amt ist hier zu Ende! Und wenn ich Sie bitten darf, lieber Herr Rechtsanwalt, behalten Sie alles, was ich Ihnen im Vertrauen gesagt habe, bei sich. Nur meine amtliche Erklärung gilt hier, daß ich die weitere Untersuchung des Falles von Staats wegen ablehnen muß, weil es sich hier offenbar um private Familienvorfälle handelt. Und die gehen uns nichts an! Adieu – ich empfehle mich!«

Sanders saß allein in der Bibliothek, das braune Buch in der Hand, nachdenklich und verwirrt. Dieses Buch sollte also die Lösung des Rätsels enthalten. –

Eben schickte Sanders sich an, sich in das Buch zu versenken, als Cecily ins Zimmer trat. Sie schien nicht so niedergeschlagen wie am Vormittag.

»Nun, Herr Rechtsanwalt, hat die Polizei etwas gefunden?« fragte sie.

»Wenig, sehr wenig, Fräulein Cecily«, sagte Sanders zögernd, »oder richtiger gesagt, gar nichts.«

»Gar nichts? Nichts?«

»Nein, nichts«, erwiderte Sanders. »Ich weiß nicht ... der Kommissar kommt zu höchst eigenartigen Schlüssen, die ich durchaus nicht zu den meinigen machen kann, er meint ... ich kann es Ihnen nicht so sagen« –

»Ach, bitte! Also der Kriminalkommissar ist der Meinung« ...

»Zunächst, daß kein Verbrechen vorliegt und – und« –

»Bitte« –

»Kurz und gut, er meint, daß Ihr Papa sich vielleicht selbst und ganz freiwillig aus dem Hause entfernt hat.«

»Aber das ist doch purer Unsinn!«

»Ich denke dasselbe. Doch, was soll man machen?«

»Ja, dann müssen wir selber suchen!« rief Cecily mit größter Entschiedenheit.

»Ja«, sagte Sanders wie zu sich selbst, »wir müssen selber suchen, Sie haben recht.«

Er erhob sich mit einer Bewegung, als wollte er sein Werk sofort beginnen. Doch plötzlich besann er sich.

»Der Kommissar übergab mir da ein Buch«, sagte er, »das anscheinend Aufschlüsse über das Leben Ihres Vaters gibt. Er meint, die Aufzeichnungen seien so absonderlich und so exzentrisch, daß er geneigt ist, sie mit dem Verschwinden Ihres Vaters in Zusammenhang zu bringen. Wissen Sie etwas von diesem Buche?«

Cecily warf einen flüchtigen Blick auf die vergilbten Blätter.

»Ach, das alte Tagebuch! Ja, ich kenne es. Viel wird er allerdings daraus nicht entnommen haben. Haben Sie es schon durchgesehen?«

»Ich? Nein.«

»Dann lesen Sie es. Meine Hoffnungen sind gering. Ich glaube nicht, daß die Schlüsse der Polizei richtig sind.«

Sanders legte das Buch vor sich hin, und seine Augen begannen die Zeilen zu überfliegen.


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