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VII.
Gefangen

Die Mittagssonne brütete über Berlin. Aber die Weltstadt lag nicht träge da. Durch die Friedrichstraße wälzte sich der bunte Strom des Großstadtlebens.

In dieser wild hastenden Menge fiel ein junger Mann auf, der eben langsam um die Kanzlerecke bog. Seine elegante Kleidung war beschmutzt und hing ihm schlaff am Leib. Seine Wäsche war schmutzig, ebenso sein Modehut. Der Schlips saß schief und ließ den Kragenknopf sehen. Seinem Gesicht sah man die Vornehmheit zwar an, aber es war unrasiert, hatte tiefe Leidensfalten, und das Haar und der blonde Schnurrbart waren ungepflegt und vernachlässigt. Es war Soltau.

Soltau machte einen fast verkommenen Eindruck, schon von ferne sah man ihm an, daß er vielleicht seit Tagen aus den Kleidern nicht herausgekommen sein konnte.

Langsam – es war gar kein Gehen mehr zu nennen – schob er sich die Straße herab.

Erst bei einem neuen Puff, den ihm ein Junge versetzte, schrak Soltau plötzlich zusammen. Er schien sich einen Moment zu besinnen, ballte krampfhaft die Fäuste und ging mit sichtlicher Aufbietung der letzten Willenskraft in das Café hinein, vor dessen Eingang er gerade stand. Aber sofort kam der Oberkellner auf ihn zu: »Es tut mir leid, mein Herr, ich darf Ihnen nichts verabfolgen!« Soltau wendete sich langsam um. Im selben Moment legte sich eine Hand auf seine Schulter: »Pardon, Herr Soltau – nicht wahr?« Und jetzt fuhr Soltau mit einem Ruck zusammen. Nun, wo er seinen eigenen Namen hörte, kam er momentan zur Besinnung. »So ist mein Name!« sagte er mechanisch in Erinnerung alter Formeln. »Darf ich Sie einen Moment bitten?« sagte der elegante Herr vor ihm und winkte eine Droschke herbei.

Soltau ließ sich ohne Widerstand in das Gefährt schieben; im Wagen aber sagte der Herr zu Soltau: »Herr Soltau, im Namen des Gesetzes, Sie sind verhaftet!« –

Als die Tür der dämmerigen Zelle, in der Soltau stundenlang teilnahmlos saß, klirrend geöffnet wurde, folgte er dem Wärter auf seinen Wink schweigend durch graue, unfreundliche Gänge, auf denen jeder Schritt im vielfachen Echo widerhallte. Endlich machten sie vor einer Tür halt. Der Wärter öffnete die Tür und schob Soltau in einen kleinen, hellen Raum mit kahlen, geweißten Wänden. Es war das Zimmer des Untersuchungsrichters.

Der Untersuchungsrichter blickte in die Akten ...

»Sie sind der Fabrikdirektor Erich Soltau?« fragte er dann.

»Ja«, erwiderte Soltau gleichgültig.

»Lesen Sie die Personalakten vor!« sagte der Richter zu dem Schreiber, der an einem Tisch am Fenster saß. Der Schreiber las mit lauter, eintöniger Stimme.

»Stimmt das?« fragte der Richter.

»Ja«, antwortete Soltau teilnahmlos.

»Sie wissen, warum Sie verhaftet sind?« fragte der Richter.

»Nein!« antwortete Soltau. Er hob zum ersten Male den Kopf und sah den Untersuchungsrichter an. Es war ein älterer Mann mit kahlem Kopf und nicht unfreundlichen Gesichtszügen. Die goldene Brille, die er trug, verhinderte, daß man allzusehr in seinen Augen lesen konnte.

»Hm, Sie wissen also nicht, weswegen Sie hier sind«, sagte der Untersuchungsrichter, »wissen nicht, wessen man Sie beschuldigt?«

»Nein!« sagte still Soltau.

»Gut«, sprach der Richter hinter seinem Pult, »so will ich es Ihnen sagen. Sie stehen im Verdacht, vorgestern nacht Herrn Brandorff aus seiner Wohnung mit Gewalt beseitigt zu haben!«

Soltau schwieg.

»Was haben Sie dazu zu bemerken?« fragte der Mann hinterm Pult.

»Nichts!« erwiderte Soltau.

»Sie geben es also zu?«

»Nein!«

»Was soll das?«

Soltau zuckte die Achseln, er machte einen durchaus gleichgültigen Eindruck.

»Behaupten Sie, vom Verschwinden des Herrn Brandorff nichts zu wissen?«

»Nein!«

»Sie wissen also etwas davon?«

»Ja.«

»Was wissen Sie?«

»Nichts!«

»Warum sagen Sie erst, Sie wüßten etwas von dem Verschwinden Brandorffs, und gleich darauf leugnen Sie es wieder ab!«

»Ich weiß eben nur die Tatsache des Verschwindens.«

»Seit wann wissen Sie darum?«

»Seit gestern vormittag!«

»Woher?«

»Von Rechtsanwalt Sanders.«

Der Untersuchungsrichter blätterte in den Akten, fand offenbar eine Stelle, die er gesucht hatte, und nickte mit dem Kopf.

»Brandorff war Ihr Onkel?« fragte der Untersuchungsrichter.

»Ja.«

Dem scharfen Blick des Richters entging es nicht, daß die Stimme Soltaus hier nicht so teilnahmlos klang wie vordem: er fand im stillen, daß sie sogar einen trotzigen Ton hatte. Hier wollte er einsetzen.

»Sie standen nicht sehr gut mit Ihrem Onkel?« fuhr er fort.

»Wer sagt das?« Es war die erste energische Antwort aus Soltaus Munde.

»Einwandsfreie Zeugen haben es bestätigt«, sagte der Richter.

»Das geht niemand etwas an!« erwiderte Soltau.

»Doch – das Gericht geht es etwas an!« sagte der Richter ruhig. Und er fuhr fort: »Sie haben vorgestern abend einen Streit mit Ihrem Onkel gehabt?«

»Das ist eine Lüge!« fuhr Soltau erregt auf.

»Doch«, sagte der Richter sehr ruhig und suchte eine bestimmte Stelle in den Akten, »es ist so! Der Diener John hat es bezeugt.«

Soltau senkte seinen Kopf.

»Der Diener John Barker behauptet, vorgestern abend habe Ihr Onkel bei seinem Zusammensein mit Ihnen befohlen, den Tee ins Billardzimmer zu bringen. Bei Ausführung dieses Auftrages sei er gerade ins Zimmer gekommen, als Sie und Ihr Onkel mitten in einem heftigen Wortwechsel standen. Beim Eintritt des Dieners hätten Sie beide plötzlich geschwiegen. Ist dies so?«

»Ja«, antwortete resigniert Soltau.

»Sie hatten also mit Ihrem Onkel Streit gehabt?«

Soltau schwieg.

»Bitte, geben Sie mir den Inhalt des Wortwechsels an. Um was handelte es sich eigentlich?« Die Stimme des Untersuchungsrichters war schon ganz freundlich geworden, offenbar tat ihm die Hilflosigkeit Soltaus leid.

Aber Soltau richtete sich energisch auf: »Ich verweigere die Auskunft!«

Unangenehm überrascht sah ihn der Untersuchungsrichter an. »Das ist Ihr gutes Recht. Aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie die Folgen tragen müssen!«

Doch es schien, als prallte diese Ermahnung wirkungslos an Soltau ab. Er schwieg; eine kleine Pause entstand, während der der Untersuchungsrichter auf eine Antwort wartete. Man hörte nur die kritzelnde Feder des Schreibers.

»Sie haben also erst mit Ihrem Onkel Streit gehabt«, nahm der Richter den Faden wieder auf. »Die Leute im Hause sind zu Bett gegangen. Zu einer bestimmten Zeit haben Sie dann das Haus verlassen. Wann?«

Soltau gab keine Antwort.

»Sie sprechen nicht? Gut, das wird Ihnen noch unangenehm werden. Sagen Sie mir, was ist dann geschehen, als John das Zimmer verlassen hatte?«

Soltau schwieg.

»Hm. Ging Brandorff dann in sein Arbeitszimmer?«

Schweigen.

»Wie lange ungefähr dauerte Ihr Streit?«

Schweigen.

»Haben Sie Brandorff in sein Arbeitszimmer begleitet?«

»Nein!«

»Was taten Sie denn?«

»Ich ging weg.«

»Wie konnten Sie denn das? Das Haus war doch verschlossen, und alle schliefen schon!«

»Ich hatte einen Hausschlüssel!«

»Woher hatten Sie den? Sie wohnten doch nicht dort?«

»Das nicht. Aber bevor Fräulein Brandorff aus England zurückkam, bin ich oft zu später Stunde zu meinem Onkel gekommen«, entgegnete Soltau mit müder Stimme. »Er hat mir den Hausschlüssel gegeben, weil wir oft nachts zusammen in der Bibliothek arbeiteten.«

»Sie wissen also nicht, was dann mit Ihrem Onkel geschehen ist?«

»Nein.«

»Wollen Sie mir nicht sagen, wann Sie gingen? Das kann vieles für Sie erleichtern, und wenn Sie wirklich Ihre Hand nicht dabei im Spiele haben, kann es Ihnen von großem Nutzen sein!«

Soltau schwieg.

»Mein Gott«, sagte der Untersuchungsrichter etwas ungeduldig. »Sie schweigen immer, sobald ich eine wichtige Frage an Sie richte. Gut, beharren Sie bei dieser Taktik. Aber Sie werden die Folgen sich selbst zuzuschreiben haben! – Antworten Sie mir: Was taten Sie dann?«

Soltau öffnete den Mund zum Sprechen, sah den Untersuchungsrichter starr an und brachte schließlich gequält und mit angetrockneter Zunge hervor: »Ich weiß nicht!«

»Was«, rief der Richter, »Sie wissen nicht? Hören Sie, junger Mann, in Ihrem eigensten Interesse rate ich Ihnen, lassen Sie sich nicht auf derlei Antworten ein! – Sie wissen nicht? Wollen Sie etwa auch behaupten, Sie wissen nicht, wann Sie das Haus verlassen haben?«

»Ich weiß es nicht!«

»Sie wollen mir also keine Auskunft geben?«

»Ich kann nicht!«

»Warum nicht?«

»Ich wiederhole«, sprach Soltau mit matter Stimme, »ich weiß nichts!«

Der Untersuchungsrichter machte eine kleine Pause. Auf einmal fragte er: »Sie sind Mitglied des Westen-Klubs?«

»Ja«, sagte Soltau mit erstauntem Blick. Wie kam das hierher?

Der Richter blätterte eine Seite in den Akten um. Plötzlich traf er Soltau mit einem blitzenden Blick hinter den Brillengläsern: »Kennen Sie das?« Und er hielt das kleine, seidene Band mit dem Monogramm des Klubs hoch.

Mit ungeheucheltem Erstaunen, aber sichtlich ohne jede Verlegenheit, sah Soltau es an: »Ja – es ist das Abzeichen unseres Klubs!«

»Wissen Sie, wo es gefunden wurde?«

Ein fragender Blick Soltaus: »Nein!«

»Unter dem Fenster des Zimmers, aus dem Ihr Onkel verschwunden ist!«

Aber Soltau, anstatt niedergeschmettert zu sein, hatte plötzlich auf einen Moment sein weltmännisches Wesen wieder und fragte höflich: »Bitte – und?«

»Und – und?« erwiderte erregt der Untersuchungsrichter. »Sie haben es da vorgestern nacht verloren!«

»Unmöglich!« entgegnete Soltau bestimmt.

»Unmöglich?« erwiderte erstaunt der Richter, der von seinen Worten eine niederschmetternde Wirkung erwartet hatte. »Warum unmöglich? Wieviel solcher Abzeichen besitzt jedes Klubmitglied?«

»Nur eins!«

»Nun – und? – Haben Sie etwa das Ihrige noch?« fragte gespannt der Richter.

»Leider nein!« gab Soltau verlegen zu.

»Also warum unmöglich?« fragte der Richter, der sein Indiziengebäude, das ihm eben noch zusammenzustürzen drohte, wieder unversehrt dastehen sah.

»Ich habe mein Abzeichen schon vor Monaten auf einer Segelpartie verloren.«

»Ah, Sie haben es auf dem Wasser verloren? Sie verstellen sich gut, das muß ich sagen, aber noch lange nicht gut genug für mich!«

»Ich weiß es nicht anders!« verteidigte sich Soltau mit brechender Stimme.

»Immer: Sie wissen es nicht anders. Sie wollen nicht sagen, worüber Sie mit Brandorff in Wortwechsel gekommen sind; ich nehme an, daß es ein Streit aus unlauteren Motiven war. Sie wissen nicht, wann Sie weggegangen sind; ich nehme an, daß Sie über Tätlichkeiten die Zeit vergessen haben. Sie wissen nicht, was Sie nach Ihrem Fortgang getan haben; ich nehme an, daß Sie mit der Beseitigung Brandorffs zu tun hatten. Sie wissen nicht, wie das Abzeichen des Klubs an jene Stelle kam; ich nehme an, Sie haben es dort verloren. – Erich Soltau, Sie sind verdächtig, Ihren Oheim Brandorff vorgestern ermordet und beseitigt zu« – –

Der Richter sprach seinen Satz nicht aus. Er sprang hinter seinem Pult hervor und fing den Wankenden in seinen Armen auf.

Soltau war ohnmächtig geworden.

*

Die Verhaftung Soltaus traf Cecily wie ein Donnerschlag. Sie eilte sofort zu Sanders ins Bureau. Er führte sie in seine Privatwohnung und sah mit schweigendem Schmerz sie auf demselben Platz sitzen wie am Tage vorher Soltau.

»Entschuldigen Sie, lieber Herr Sanders«, sagte sie mit fliegender Hast, »mein unangemeldetes Kommen. Aber der Anlaß ist furchtbar. Denken Sie, Erich Soltau verhaftet wegen Mordes an meinem Vater – ich kann es kaum glauben. Und obendrein heißt das ja, daß mein Vater tot ist, daß er einen schrecklichen Tod gefunden hat. Oh, es ist entsetzlich!«

Durch Sanders' Kopf ging blitzschnell die Erinnerung: hatte er nicht einmal einen Augenblick lang dieses schöne, begeisterte Mädchen geliebt? Und hatte er nicht sehr bald dieser Idee als hoffnungslos auf ewig entsagt? Fast unwillkürlich kam es ihm auf die Lippen: »Cecily, Sie lieben Soltau!«

Mit flammendem Gesicht hatte Cecily es gehört. Jetzt sah sie Sanders mutig an: »Und wenn es so ist? Ja, ich sage es Ihnen frei heraus, ich liebe Soltau! Und weil ich ihn liebe, darum bin ich auch fest davon überzeugt, daß er unschuldig ist!«

»Cecily, gerade weil Sie Soltau lieben, müssen Sie nicht sich, sondern die Welt von seiner Unschuld überzeugen!«

Aber Cecily trat ihm entgegen: »Wie könnte ich die Welt überzeugen, wenn ich nicht selbst überzeugt wäre! Das ist ein schlechter Verteidiger, der nicht zuerst an die Unschuld seines Klienten glaubt. Das wichtigste ist, Schritt für Schritt nachzuweisen, daß Erich an dem Verschwinden meines Vaters vollkommen schuldlos ist!«

»Und gerade dieser Nachweis dürfte sehr schwer zu führen sein!« unterbrach sie seufzend Sanders.

»Aber so sagen Sie mir nur, warum!« drängte Cecily.

»Sehen Sie«, gab Sanders zur Antwort, »meine Stellung ist die allerschwerste dabei. Sie wissen, wie befreundet ich mit Soltau bin. Ich kenne ihn, nun, gerade wie Sie und alle Welt, als frohen, heiteren, offenen Menschen, peinlich und sorgfältig bis ins Äußerste. Und nun denken Sie: man findet diesen Menschen wieder, verwüstet, gleichgültig, vernachlässigt, verbummelt. Das kommt ganz plötzlich, über Nacht. Man fragt: ›Was ist los, was ist geschehen?‹ Er sagt nur immer: ›Fragt mich nicht – ich weiß nichts!‹ Und nun denken Sie sich, stellt sich heraus, daß dieser Betreffende am Abend vorher mit seinem Oheim beisammen war: daß er mit diesem Oheim heftigen Streit gehabt hat, und daß der Oheim spurlos verschwunden ist. Der Neffe ist derjenige, der am sichersten über den Aufenthalt des Oheims im Hause reden kann, denn er hat ihn von allen im Hause Befindlichen zuletzt gesehen. Aber er gibt keine Auskunft, die Nacht, in der der Oheim verschwand, hat ihn verwandelt!«

»Hören Sie auf, Sanders«, bat Cecily händeringend, »Sie töten mich!«

»Liebes Fräulein Cecily«, entgegnete Sanders, »darf ich erbarmungsvoll sein? – Denken Sie sich weiter, der betreffende, also der Neffe, ist Mitglied eines Klubs und hat als solches ein Abzeichen des Klubs. Und jetzt nach dem Verbrechen an seinem alten Oheim, wie er jede Fährte verwischen will, wie er auf die kühnste und raffinierteste Weise jede Spur von seinem Oheim beseitigen will, da verliert er an einer gewissen Stelle das Abzeichen.«

»O mein Gott – es kann nicht sein!« stöhnte Cecily.

»Ja, es ist so!« bekräftigte Sanders mit unheimlichem Ernst. »Der Kriminalkommissar und der Untersuchungsrichter haben Soltau mit einem furchtbaren Netz von erdrückendem Indizienmaterial umsponnen. Sehen Sie, Cecily, Soltau sagt immer ›Nein‹ und ›Ich weiß nichts‹. Der Untersuchungsrichter sagt sich: ›Ich habe Zeit.‹ Und er wird ihn so lange im Untersuchungsgefängnis halten, bis er eines Tages mürbe wird, und dann holt man aus ihm die Worte hervor: ›Ja‹ und ›Es ist so!‹«

»Das darf nie sein!« rief Cecily mit einem glühenden Rot der Entrüstung auf den Wangen. »Es darf nicht sein, und es kann auch nicht sein, Sanders! Meine tiefste, innerste Überzeugung sagt mir, daß Erich schuldlos ist. Ich liebe ihn, Sanders, ich liebe ihn! – Wissen Sie, was das heißt? Wissen Sie, wie ein liebendes Weib den geliebten Mann heimlich beobachtet, wie genau sie alle Gründe und Abgründe seiner Seele kennt? Wissen Sie, wie sie jedes Wort, das er sagen, jede Handlung, die er tun wird, vorhersagen kann? Sie kennt ihn so genau, fast genauer als er sich selbst. Und sehen Sie, Sanders, so kenne ich Erich Soltau. Und ich weiß, es lag niemals in seinem Charakter, ein Verbrechen zu begehen, und noch viel weniger ein so kalt überlegtes, ein so grausam raffiniertes Verbrechen! Ich kenne ihn so genau, daß ich weiß: wenn jemals das Wort eines solchen Geständnisses über seine Lippen kommen sollte, so ist nur die Unmenschlichkeit der Untersuchungshaft daran schuld!«

»Aber doch«, bemerkte Sanders zaghaft, »wenn nur keine Zeugen für seinen Streit mit Ihrem Vater da wären!«

»Zeugen?« fuhr Cecily ganz erstaunt auf. »Zum ersten Male fällt mir dieses Wort ins Ohr. Wer können denn in unserem Hause diese Zeugen sein?«

»Der Diener John!« betonte Sanders. »Sie waren ja selbst dabei, als er mir gegenüber seine erste Andeutung über diesen Punkt machte.«

»Ja, ich besinne mich jetzt«, gab Cecily erregt zurück, »aber – großer Gott – ich hielt das bisher nur für ein leeres Gerede. Und John hat gelauscht und hat es dem Gericht gemeldet?« Ein unheilverkündender Ausdruck trat in ihre Augen. Plötzlich fragte sie: »Hören Sie, Herr Sanders, Sie haben doch ein Telephon – wo ist es? Bitte, führen Sie mich hin!«

Sanders geleitete sie zum Apparat. Sie rief Amt und Nummer an, die Sanders sofort als die des Hauses Brandorff erkannte. Gespannt lauschte er.

»Wer ist dort?« rief eben Cecily durchs Telephon. »Sind Sie es, Lehnert?« Und zum Portier sprach sie in den Apparat: »Hören Sie einmal, Lehnert, rufen Sie mir sofort den Diener John an den Apparat.« Nach einer kleinen Weile fragte sie: »Sind Sie es, John?« Ihre Stimme hatte dabei etwas Hartes bekommen. Einen Moment Pause. »John, in Abwesenheit meines Vaters teile ich Ihnen mit, daß Sie entlassen sind! – Verlassen Sie sofort unser Haus, ich will Sie bei meiner Rückkunft nicht mehr antreffen. Ihr Lohn bis Ende des Monats wird Ihnen von der alten Martha ausgezahlt werden!«

Sie ließ den Hörer sinken. Sanders hatte, staunend über diesen heftigen Entschluß, zugehört. »Wenn das nur etwas Gutes wird!« dachte er.

Aber Cecily stand jetzt in ihrer ganzen Schönheit vor ihm. Mit blitzenden Augen sprach sie: »Sanders, ich will kein schwaches Weib mehr sein! Ich will sehen, ob ich nicht mit den Männern mitarbeiten kann – und ich kann es, seien Sie überzeugt! Ich werde Erich retten!«


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