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I.
Im Haus ist Lärm

Berlin! – Ein Summen, Klirren und Stampfen steigt in die Nacht auf, und das schillernde Netz der Lichter spannt sich über das tönende Dunkel. Licht und Lärm sind untrennbar vereint in dieser gewaltigen Stadt der Arbeit und der Lust; und wenn die Massen durch die geraden Straßen der jungen Großstadt hasten, weiß man nie, ob es zur Arbeit geht oder zu irgendeiner hastigen, schnell beschlossenen, schnell genossenen und schnell erledigten Vergnügung. In einem verwirrenden Bilde rauscht alles vorüber.

Am Rande des Tiergartens gibt es ein paar ruhige Straßen mit villenartigen, soliden Häusern hinter Bäumen und Vorgärten, die gebaut zu sein scheinen, um einen ruhenden Punkt für beschauliche Leute in dem wüsten Strudel der Großstadtgegensätze zu bilden. Eine riesige, alte Platane mit einer kleinen Umzäunung aus Stein und rostigem Eisen steht inmitten einer Straßenkreuzung. Von hier aus sieht man das Ende der Margaretenstraße, und da scheint die Welt wirklich mit Brettern vernagelt.

Eine trübe, heiße Sommermorgendämmerung rang mit der langsam unterliegenden Nacht. Die Straßenlaternen waren längst erloschen, und über ihnen standen die Fenster, hinter denen die wohlhabenden Bürger der Margaretenstraße ruhig schliefen, weit der eindringenden warmen Nachtluft geöffnet.

An dem alten Baume inmitten der Straßenkreuzung blinkte ab und zu der Helm des Schutzmanns ein wenig auf, der hier Nachtdienst hatte. Gelangweilt stand er da, ein bißchen verärgert, denn sein Nachtdienst war ganz überflüssig. Hier, in dieser vornehmen, stillen Gegend, kam doch nichts vor!

Plötzlich klirrte ganz hinten, wo die Straße sackgassenförmig abschloß, ein Gitter. Ein Herr war auf die Straße getreten. Einen Augenblick blieb er stehen, ein Streichholz flammte auf – eine Zigarette wurde angezündet. Dann ging er, langsam schlendernd, ein paar Schritte; jetzt schien er sich aufzuraffen, sein Gang wurde straff, er schritt schnell vorwärts. Als er näher kam, sah der Schutzmann, daß der Spaziergänger ein junger Mann im Gesellschaftsanzug war. Bleich, nervös mit der Hand am blonden Schnurrbart zupfend, ging er schnell vorbei, ohne den Schutzmann zu beachten. Einen Moment strich er mit den Händen an sich herunter, um die eingedrückte Hemdbrust in Ordnung zu bringen, streifte mit verlorenem Blick die blinkende Helmspitze des Schutzmanns und verschwand dann in einer Seitenstraße.

Mechanisch zog der Schutzmann die Uhr: es war fünf Minuten über vier. Er drehte sich um und sah mit Amtsmiene nach dem Hause, das der Spaziergänger verlassen hatte.

Er zählte die Hausnummer ab: das Haus mußte die Nummer 25 haben. Nummer 25 – da wohnte ja wohl der reiche Brandorff! – Doch plötzlich gab er sich einen Ruck: »Was geht mich das an, wenn hier jemand das Haus verläßt? Die Geheimnisse der Reichen kümmern mich nicht. Ich habe meinen Posten, um die Straße vor Lärm oder vor Schlägereien zu bewahren. Aber hier kommt ja doch nichts vor.«

Und er wendete sich wieder nach der andern Seite und erwartete ungeduldig die Morgenablösung.

*

Der ehemalige Bankier Brandorff war in Berlin als ein sorgfältiger Sammler reicher Kunstschätze bekannt, doch schon seit Jahren kaum mehr als dem Namen nach. Er besuchte niemand, empfing auch keine Besuche, und trotzdem seine Tochter Cecily seit einiger Zeit aus ihrer englischen Pension zurückgekehrt war, gab Brandorff auch keine Gesellschaften. Seit einigen Jahren verließ er sogar nicht einmal mehr zu Spaziergängen das Haus.

Der helle, heiße Morgen, der der Nacht folgte, erfüllte die Atmosphäre Berlins mit bedrückendem Dunst.

In der Portierloge von Brandorffs Hause erhob man sich heute später als gewöhnlich. Eine seltsame Schlaftrunkenheit lag über den beiden alten Leuten, die das Haus hüteten, und die des Morgens sonst die ersten zu sein pflegten. Voll Unruhe steckte der alte Lehnert den Kopf aus der kleinen Glastüre: »Hör' doch mal, Lene«, sagte er zu seiner Frau, »was ist denn da los?«

Ein merkwürdiger, ganz ungewohnter Lärm erfüllte das Haus. Man lief hin und her, Türen wurden geklappt, unterdrückte Rufe wurden laut.

Cecily Brandorff hörte plötzlich heftig an ihre Zimmertür klopfen. »Wer ist da?« fragte sie noch halb im Schlaf. »Bitte, gnädiges Fräulein, machen Sie um Gottes willen auf!« hörte sie die Stimme des Dienstmädchens jammern.

»Ach, Sie sind es, Martha? Aber es muß ja noch ganz früh sein! Sie wissen doch, ich bin gestern erst spät ins Bett gekommen. – Es ist unerhört!« Und unwillig wandte sie den Kopf auf die andere Seite und wollte im künstlich verdunkelten Zimmer weiterschlafen. Aber plötzlich schrak sie auf: »Gnädiges Fräulein!« – kam es von der Tür her in halb unterdrücktem Wimmern. Hastig sprang sie auf, schlüpfte schnell in ein leichtes Negligé und schob den Türriegel zurück.

»Was gibt es, Martha, was wollen Sie?« fragte sie ein wenig verängstigt.

»Gnädiges Fräulein – gnädiges Fräulein – ist – ist der gnädige Herr denn verreist?«

»Wer – mein Vater? Sind Sie verrückt, Martha? – Was ist was ist geschehen?«

»Gnädiges Fräulein, kommen Sie schnell« – es klang fast wie Stöhnen – »der gnädige Herr« –

»Um Gottes willen – mein Vater?« – Wie zwei aufgejagte Vögel strichen die beiden mit den fliegenden Morgenkleidern durchs Haus. Die Sonne funkelte schon hell und hitzedrohend durch die Zimmer, als Cecily und das alte Dienstmädchen von dem im Parterre gelegenen Damenschlafzimmer über die Haupttreppe hinauf in den ersten Stock liefen. Um in die Zimmer Brandorffs zu kommen, mußten sie erst den langen Gang passieren, in dem Brandorff seine bekannte Bildergalerie untergebracht hatte. Von da ging's durch das Billardzimmer, und Cecily sah mit Angst, daß ganz ungewohnterweise die grünverhangene elektrische Lampe über dem Billard jetzt, am hellen Morgen, noch brannte.

»Was ist das!« zeigte sie in aller Hast auf die Lampe.

»Ich weiß nicht, gnädiges Fräulein!« antwortete die alte Martha. »Sie brannte noch, als ich heut morgen ins Zimmer kam; das hat der gnädige Herr nie zugelassen. Ich hab' gesehen, daß die Schlafzimmertür auf war und niemand im Zimmer. Ich hab' vorsichtig den Kopf reingesteckt, aber es war niemand da. Da hab' ich Angst bekommen und bin zu Ihnen gelaufen vielleicht ist der gnädige Herr heimlich weggereist!«

Cecily merkte, daß hinter den Worten des alten Mädchens etwas Unausgesprochenes lag, das ihr Angst machte. Sie stieß die Schlafzimmertür auf – niemand war im Raum. Das Bett war unberührt, es schien eben frisch aufgeschlagen. Was war denn das nur? Der Vater ging doch kaum aus dem Hause, und am allerwenigsten zur Nacht und heimlich. Voll Angst eilte sie ins Billardzimmer zurück und öffnete die Tür zum Bibliothekzimmer. Aber nichts war zu sehen als ein hoher, heller Raum mit Bücherregalen an den geweißten Wänden und einem großen Tisch in der Mitte. Ein wenig zögernd ging sie zur nächsten Tür. Es war die kleine Tür aus getäfeltem Eichenholz, die zum Arbeitszimmer des alten Brandorff führte. Niemand durfte dies Zimmer betreten, selbst Cecily nicht. Brandorff pflegte sogar dies Zimmer selbst aufzuräumen – das war seine Marotte. Nur in früheren Jahren, als er noch von Zeit zu Zeit kleinere Gesellschaften gab, war der Höhepunkt des Abends, wenn er die kleine Tür mit feierlicher Miene öffnete und seine Gäste einlud, jene kostbare Sammlung seltener Edelsteine zu besichtigen, die er sorgsam in Glaskasten geordnet hatte. Aber das war längst vorbei.

Cecily zögerte vor der Tür, sie wagte nicht, ohne weiteres die Klinke herunterzudrücken. Sie klopfte zaghaft. – Keine Antwort. – Zweimal, dreimal – ohne Erfolg. Entschlossen griff sie nach der Türklinke und drückte sie herunter. Die Tür war verschlossen.

Einen Moment standen die beiden Frauen ratlos einander gegenüber. Es zuckte ihnen nervös übers Gesicht. Die alte Martha brach das Schweigen: »Vielleicht soll ich John holen?« brachte sie mit stockender Stimme hervor.

Einen Moment Stille, dann antwortete ein trockenes Schluchzen: »Hole John, Martha!«

Sie kamen auf den Zehen herbeigeschlichen. Man sah Johns kleiner, sehniger Gestalt den ehemaligen Jockei an, und seine kleinen, fast stechenden, graublauen Augen erinnerten an den scharf messenden Blick des Hindernisreiters. Er schien schon vor der Tür gewartet zu haben.

»John, mein Vater gibt keine Antwort«, sagte Cecily halblaut. »Die Tür ist zu, wir müssen ins Zimmer!«

Schweigend griff John zur Türklinke. Seine muskulösen Arme strafften sich, sein Gesicht wurde in der Anstrengung rot. Die Tür blieb geschlossen. Mit ein wenig englischem Akzent in der halblauten Stimme sagte er: »O, gnädiges Fräulein, das Schloß ist aus festem Stahl, ich kenne es!«

Cecilys große, braune Augen, die so seltsam gegen die goldene Masse ihres blonden Haares abstachen, irrten ratlos umher, verschüchtert, hilfesuchend wie die eines geängstigten Vögelchens, das sich in ein Zimmer voll fremder Menschen verirrt hat.

»Was ist denn um Gottes willen nur geschehen, John?«

Und mit einer plötzlichen Eingebung: »Ist mein Cousin noch hier? Ist er über Nacht geblieben?«

»Herr Soltau ist nicht im Gastzimmer, gnädiges Fräulein. Ich habe nachgesehen.«

»Wann ist er weggegangen?« fragte Cecily halb mechanisch.

»Ich weiß es nicht«, antwortete John, »ich brachte gestern abend den Herren den Tee ins Billardzimmer, dann gingen der gnädige Herr und Herr Soltau ins Arbeitszimmer. Der gnädige Herr sagte mir, ich solle zu Bett gehen, es wäre nichts mehr nötig.«

Auch hinter dieser Antwort lauerte etwas Unausgesprochenes, so schien es Cecily.

Plötzlich sagte John in seiner langsamen Redeweise: »Vielleicht hat Herr Soltau das Haus durch die Tapetentür im Arbeitszimmer verlassen.«

Die Tapetentür – welch ein Einfall! Alle atmeten einen Moment auf.

»Schnell«, sagte Cecily, »wir wollen von der anderen Seite ins Zimmer!«

Die drei jagten hinunter ins Erdgeschoß und liefen hastig durch den Hausflur in den Garten.

Die drei liefen zu der hohen, grauen Mauer, deren verwitterten Kalkstein ein dichtes, wildes Getriebe von Efeu hoch und graugrün überspann.

Seltsam genug nahm sich in der breiten Mauer die niedrige, schmale Tür aus, die sofort zu einer eng gewundenen, hölzernen Wendeltreppe führte. Die Tür war offen, hintereinander keuchten sie die Wendeltreppe empor. Droben war ein kleiner Vorplatz, auf dem sie, Atem schöpfend, anhielten. Ein ganz kleines, vergittertes Fensterchen, draußen dicht von Efeu verdeckt, ließ spärliches Dämmerlicht auf das kaum sichtbare Türchen fallen, das zu Brandorffs Arbeitszimmer führte. John rüttelte an der Tür. Auch sie war verschlossen. Nun hielt er sich am krachenden Treppengeländer fest und stemmte die Schulter mit unbezwinglichem Vordringen gegen die Tür.

Ein Knall von geborstenem Holz – und John hielt keuchend die auffahrende Tür zurück.

Cecily raffte heftig ihren Rock empor und schritt mit starrem Blick, tief Atem holend, über die Schwelle.

Das Zimmer war leer.


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