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XIII.
Visionen

Ein schimmernder Sommertag leuchtete, als Brandorff zu Grabe geleitet wurde. Ein kleiner Trauerzug nur war es, der dem Sarge Brandorffs zum Kirchhof folgte.

Es war Cecily, als ob ein dichter, grauer Nebelschleier vor ihren Augen auf und ab wallte. Oft wurde er zart und wie durchsichtig, als schimmere Licht hinter den Wolkennebeln. Cecily kam es vor, als säße sie in einem ungeheuren Zuschauerraum, in dem alles um sie her verschwamm, und hinten – in der Ferne – täte sich der Blick auf eine kleine Bühne auf. Gestalten glitten schattenhaft vorüber, aber, so sehr sie sich auch anstrengte, etwas deutlich zu erfassen, so zerfiel doch alles immer im Moment wieder ins Körperlose, Unbestimmte. Allmählich hob sich aus den vor ihren Augen kreisenden Schemen ein Gesicht heraus: Mohl! – Cecily wußte nun, daß sich in ihrem Hirn ein Moment des Klubabends widerspiegelte, den sie selbst miterlebt hatte. Plötzlich verwischte sich alles, sie sah nur noch die gleitenden Schatten und dann auf einmal Bäume im Dunkel und eine Straßenlaterne vor sich. Sie erkannte das Tor des Klubhauses in der Tiergartenstraße, sie sah Mohl aus dem Hause kommen und sah ihn in den harrenden Wagen steigen, aus dessen Schlag ein Weib sich ihm entgegenbog. Die Kutsche fuhr davon, sie sah jemand hinter dem Wagen herlaufen, sie sah eine andere Gestalt aus dem Dunkel der Bäume treten und die erste zurückreißen. Und im selben Moment zerfloß auch dieses Bild in Luft. Sie begriff, daß ihre Seele alle Einzelheiten jenes Abends noch einmal durchlebte. Sie hatte das Gefühl, als sei sie vollständig getrennt von ihrem Körper, der im Wagen saß, sie fühlte sich der Welt fast entrückt. Von neuem schossen die Nebelschatten zusammen. Cecily erblickte jetzt einen dunklen, engen Raum vor sich, in dem sie undeutlich Gegenstände, von denen einer ein Bett zu sein schien, unterschied. Zwei Männer traten ins Zimmer, Cecily erkannte sie sofort. Mit einer ungeheuren Ruhe, die ihrem halbwachen Bewußtsein einen Moment lang selbst merkwürdig vorkam, sah sie, daß es Mohl und der Diener John waren. Das gelbe, glatte Gesicht des Dieners war verzerrt wie eine Teufelsfratze. Es schien Cecily, als sei alle Verstellung von ihm nunmehr abgefallen, und als sehe sie vor sich das wahre Wesen des Menschen, ein wildes, höhnisches Gesicht, von einer wüsten, höllischen Verruchtheit. Da kam ein Weib dazu, es war Frau von Zemlinska. Sie zeigte mit großer Bewegung auf das Bett. John schlich zum Bett hin. Er nahm die Decke fort, die den dort liegenden Gegenstand verhüllt hatte. Cecily sah, daß es ein Mensch war. Plötzlich zuckte etwas wie ein gewaltiger Blitz vor Cecily nieder, sie stieß einen markerschütternden Schrei aus, und alles vor ihr zersprang in nichts: Sie hatte auf dem Bett das bleiche, von weißem Haar umrahmte Gesicht ihres Vaters erkannt.

Als die Trauernden die Kapelle verließen und dem Sarg zum Grabe folgten, löste sich aus einer Ecke ein schwarzgekleideter, älterer Herr, der bis dahin unbeachtet im Schatten gesessen hatte. Unauffällig schritt er hinter dem kleinen Zug der Leidtragenden her. Nur Sanders streifte ihn mit flüchtigem Blick. Einen Moment lang war es ihm so vorgekommen, als habe er schon einmal irgendwie die Bekanntschaft dieses Herrn gemacht. Irgend etwas erinnerte ihn an ein ehemaliges Zusammentreffen. Aber bei einer raschen Musterung überzeugte er sich sofort, daß er sich geirrt hatte. Er kannte diesen würdigen Herrn mit dem leicht ergrauten Vollbart und Haupthaar nicht, der mit müdem Schritt hinter ihnen ging. Und Sanders hatte ein vorzügliches Personengedächtnis. Nein, es war ein Irrtum, irgendeine flüchtige Ähnlichkeit hatte ihn getäuscht.

Dennoch war er ein wenig erstaunt, als der fremde Herr den hohen Hut zog und ihn leicht grüßte. Er grüßte zurück und versuchte sich noch einmal zu besinnen – vergebliche Mühe, es gelang ihm nicht. Der fremde Herr schien Miene zu machen, ihn anzusprechen. Sanders, neugierig geworden, blieb ein wenig hinter den anderen zurück. Der Herr näherte sich Sanders, die beiden gingen jetzt in einiger Entfernung von dem Trauerzuge.

Mit gedämpfter Stimme sagte der Fremde: »Herr Rechtsanwalt Sanders, nicht wahr?«

»Der bin ich!« erwiderte Sanders. »Mit wem habe ich die Ehre?«

»Es freut mich«, entgegnete der andere, »daß Sie das nicht wissen. Ich glaubte schon einen Augenblick lang, von Ihnen gekannt zu sein.«

»Ja«, erwiderte Sanders auf diese merkwürdige Ansprache, »ich dachte in der Tat einen Moment« –

»Oh«, erwiderte der Fremde, »das bedaure ich ungemein. Bitte, Herr Rechtsanwalt, legen Sie meinen Worten keinen beleidigenden Sinn unter. Sie werden sich vielleicht wundern« –

Als aber Sanders ihn starr und schweigend anstarrte, nahm der fremde Herr von neuem das Wort: »Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle« – und nach einer kurzen Pause mit noch gedämpfter, aber bedeutend hellerer Stimme: »Ich bin der Kriminalkommissar von Redberg.«

»Was?« fuhr Sanders auf, »Sie sind« –

»Kriminalkommissar von Redberg, wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte der andere jetzt mit seiner natürlichen Stimme. »Bitte«, fuhr er fort, »seien Sie nicht erschreckt – ich habe meine Gründe. Daß Sie mich nicht erkannt haben, ist das schönste Kompliment für mich.«

»Und darf ich fragen, welche Gründe Sie zu dieser Maskerade auf dem Friedhof bewogen?« lauteten die Gegenworte des Rechtsanwalts.

»Gewiß«, war die Antwort. »Sehen Sie, Herr Rechtsanwalt, Sie selbst wissen ja aus unserer gemeinsamen Begegnung in jener bewußten Nacht, daß ich den Fall Brandorff nicht habe ruhen lassen. Oder besser – ich will offen sein – der Fall hat mich nicht ruhen lassen. Denn, ehrlich gesagt, ich habe außerordentlich wenig erreicht. Ich weiß jetzt nur eines mit Sicherheit: die Täter müssen der besten Gesellschaftsklasse angehören. Denn die Motive, von denen sie geleitet wurden, scheinen mir nicht die gewöhnlicher Verbrecher zu sein, die sicherlich noch auf ein Lösegeld erpicht gewesen wären. Und nun wissen Sie ja auch aus Ihrer Praxis, daß die meisten Verbrecher eine eigentümliche Neigung haben: sie kehren immer wieder zum Tatort zurück. Sie beobachten mit krankhafter Leidenschaft alles, was mit ihrem Opfer geschieht. Und sie können es nicht lassen, am Grabe ihres Opfers zu stehen, sie umkreisen es, wie der Nachtfalter das Licht. Oft, wenn sie ihren Plan aufs allergenaueste durchgeführt haben, setzen sie später alles aufs Spiel durch jene Neigung, an die man nicht glauben will, wenn man nicht die Verbrecherpsyche kennt. Nun hat sich allmählich in mir die Überzeugung festgesetzt, daß der Täter kein normaler Mensch sein kann. Die ganze Art dieses Verbrechens oder, um bei unserem Beamtenjargon zu bleiben, der Stil des Verbrechens deutet auf einen abnormen Geisteszustand. Es ist meine feste Überzeugung, daß der Täter über kurz oder lang irgend etwas tut, was seinen ganzen, so verrückt sorgsam ausgearbeiteten Plan über den Haufen wirft und ihn der Öffentlichkeit preisgibt.«

»Darf ich eine Frage an Sie richten, Herr Kriminalkommissar?« sagte Sanders.

»Bitte sehr, Herr Rechtsanwalt!« erwiderte dieser. »Nur muß es schnell geschehen, denn wir nähern uns schon dem Grabe, wie Sie sehen!«

»Erinnern Sie sich an das alte Tagebuch Brandorffs?« fragte Sanders.

»Genau!« lautete die Antwort.

»Sie haben«, fragte Sanders weiter, »jedenfalls den Inhalt der Blätter noch in Erinnerung?«

»Vollkommen«, erwiderte Redberg.

»Wissen Sie vielleicht aus dem Kopf«, fragte Sanders sehr gespannt, »welches das letzte Wort im Tagebuch überhaupt war?«

»Ja, das kann ich Ihnen genau sagen«, entgegnete Redberg. »Es fiel mir besonders auf. Das Wort heißt: Opale!«

»Dacht' ich's doch!« rief Sanders erregt.

»Warum?« fragte Redberg.

»Nun«, entgegnete Sanders, »auch ich war bis dahin überzeugt, daß das letzte Wort ›Opale‹ hieß. Ich habe aber vor kurzem auf der letzten Seite ein Wort entdeckt, es ist das Wort: ›Nie‹. Wir, Sie wie ich, haben es bis jetzt einfach übersehen.«

»Das ist unmöglich!« rief der Kriminalkommissar.

»Und doch ist es so!« antwortete Sanders.

»Nein, es kann nicht sein!« sagte Redberg. »Sie müssen wissen, ich habe das Tagebuch immer wieder, Blatt um Blatt, durchgesehen. Besonders auf der letzten Seite wäre es mir aufgefallen!«

Doch schon war der Zug am Grabe angekommen, und es war Sanders nur noch möglich, dem Gespräch rasch hinzuzufügen: »Schön – bei mir zu Hause werde ich Ihnen zeigen, daß es so ist, wie ich gesagt habe.« Der Kriminalkommissar nickte stumm mit dem Kopf.

Der Sarg wurde hinabgelassen. Der Geistliche sprach die letzten Worte von dem im Leibe Ärmsten, den Bubenhände der Erde entrissen hätten, und der doch in der Seele jetzt so reich sei. Die Sonne schien auf die schwarzgekleideten Menschen, und ein Vogel pfiff hinter ihnen, fast als wollte die Natur zeigen, daß sie sich um den Jammer der Menschen nicht kümmere, und daß sie voller Hoffnung auf Reife immer weiter blühe und jubiliere. Drei Hände voll Sand warf jeder noch dem Sarge nach. Und dann fielen dumpf die Erdschollen der Totengräber hinab.

Die Trauerfeier war dem Ende nahe. Cecily stand ganz in ferne Träume versunken da.

Sanders war durch das Gespräch mit dem Kriminalkommissar vor aller innerlichen Versenkung eines Trauernden bewahrt geblieben. Er blickte um sich, und als er die finstere Miene Cecilys sah, war es ihm sofort klar, daß sie an das Verbrechen dachte. Er empfand seine Wahrnehmung schmerzlich genug, denn in seiner Absicht lag es, Cecily hinfort vor allen trüben Rückerinnerungen an jene furchtbaren Tage des Leidens, die nun vergangen waren, zu bewahren.

Als sie wieder auf der Hauptallee des Kirchhofs waren, die sie dem großen, eisernen Ausgangstor zuführte, bemerkte Sanders flüchtig in einer parallel laufenden Allee, in einiger Entfernung von ihnen, einen Mann, der, offenbar in nachdenklicher Haltung, die Hände auf dem Rücken, langsam einherschritt. Jetzt bog er einen Querweg ein. Wenn er so langsam weiterging, mußten sich ihre Wege kreuzen. Sanders hatte das so flüchtig beobachtet, wie man in schweren Gedanken oft kleine, unwichtige Dinge sieht und sie fast mechanisch registriert. Größere Aufmerksamkeit schenkte er dem Spaziergänger nicht.

Wenige Minuten darauf begegneten sie sich wirklich. Scheinbar überrascht blieb der Mann stehen, schritt auf Soltau zu, zog den Hut und reichte ihm die Hand. Soltau hob den Kopf, auch Sanders blickte jetzt schärfer hin – es war Herr von Mohl. Cecily war allein mit ihren Gedanken, den Kopf zur Erde gesenkt, rasch vorwärts gegangen, sie war schon um eine Querallee weiter als die anderen und hatte die Begrüßung gar nicht bemerkt.

Soltau wurde bleich und zuckte zusammen.

»Wie geht es Ihnen?« fragte Mohl mit seiner hohen, dünnen Stimme, während seine hellen, grauen Augen unruhig flackerten. »Wie geht es Ihnen, lieber Soltau? Habe Sie ja so lange nicht gesehen! Dem Klub untreu geworden? Was machen Sie hier? Doch nicht lieben Anverwandten begraben? – äh was?«

Sichtlich aufs unangenehmste berührt, gab Soltau die notwendigsten Antworten.

Sanders grüßte kurz, reichte Mohl schnell die Hand und ging rasch weiter, um Cecily zu erreichen.

Sie waren am Ausgang angekommen.

Sanders kehrte dem Tore den Rücken zu und erzählte Cecily, daß Soltau eben einen Bekannten getroffen hätte. Plötzlich sah er Cecilys Gesicht bleich wie Wachs werden. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und sie starrte über Sanders Schulter nach etwas, das hinter seinem Rücken vorging. Er drehte sich schnell um, sah aber nur Soltau mit Mohl aus dem Tor kommen. Der Schlag des geschlossenen Wagens öffnete sich jetzt. Eine Dame beugte sich heraus: Es war Frau von Zemlinska. Mohl stieg zu ihr in den Wagen. In diesem Moment stieß Cecily einen Schrei aus und sank mit geschlossenen Augen um. Sanders fing die Ohnmächtige auf und schickte Soltau sofort nach Wasser und Hilfe.

Während er noch mit Cecily beschäftigt war, hörte er plötzlich hinter sich eine Stimme.

»Entschuldigen Sie, wie sind die Namen der Herrschaften, die eben wegfuhren?«

Sanders drehte sich, empört über den unzeitgemäßen Aufdringlichen, um. Es war der Kriminalkommissar, der mit einem Interesse, das nicht nur einer menschlichen Teilnahme entsprang, beobachtet hatte, welch furchtbare Wirkung der Anblick des neben Soltau schreitenden Fremden und dessen am Kirchhofstor im Wagen harrender Gefährtin auf Cecily ausübte.

Der Rechtsanwalt hatte nicht übel Lust, die Frage Redbergs unbeantwortet zu lassen. Er sah sich nach Soltau um, der jetzt mit Hilfe herbeikam. Der Kommissar aber stand immer noch abwartend da, und mechanisch sagte Sanders: »Das war Herr von Mohl und Frau von Zemlinska.«

»Ich danke!« sagte der Kommissar und war nach wenigen Sekunden den Blicken der Anwesenden entschwunden, unauffällig, wie er gekommen war.


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