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XV.
Feuer

Die Opale waren also unecht! In die Worte des türkischen Kenners, den sogar der Juwelier gerühmt hatte, konnte man keinen Zweifel setzen.

Es war am Spätnachmittag, als Sanders seine Wohnung betrat. Der Sommer begann schon sacht in leuchtend klare Herbstabende überzugehen, bei denen auf einem mattblau strahlenden Abendhimmel blaßgrünliche Lichter spielen und die Wolken rosa aufglühen. Es war noch nicht ganz dunkel im Zimmer, als der Rechtsanwalt die Aktenmappe hervorsuchte, in der sich das Tagebuch noch immer befand. Seine erste Begierde war, jenes Wort auf der letzten Seite wiederzusehen, an das er sich klammerte, und das ihn trotz der seltsam traurigen Bedeutung »Nie« doch mit Hoffnungen für die Lösung aller Rätsel erfüllte.

Er holte das Tagebuch heraus, ging ans Fenster und blätterte hastig die Seiten um. Auf der letzten Deckelseite machte sein Blick auf der wohlbekannten Stelle halt.

Aber es war kaum mehr etwas zu unterscheiden in der Dämmerung. Er mußte die Lampe anzünden.

Dennoch fühlte er, wie seine Hand zitterte. Er hatte das Wort nicht gleich gefunden.

Die Lampe blakte trüb auf, und Sanders schob hastig die Seite in den Schein des angezündeten Lichtes. Doch was war das? Sollten seine Augen von den Aufregungen der letzten Zeit zu angestrengt sein? Sollte er nervös sein? Er konnte auf der Seite nichts sehen. Er drehte die Lampe hell auf, strich sich mit der Hand über die Augen und richtete dann seine Blicke mit erzwungener Ruhe auf das Papier. Doch mit wildem Herzklopfen sprang er auf – war er etwa schon wahnsinnig? Denn was er sah, war nichts als eine Seite leeren, vergilbten Papiers. Die Stelle am Rand mit dem Wort »Nie«, das er so genau im Gedächtnis hatte, war leer, vollständig leer. Das Wort fehlte!

Während Sanders mit heftiger Bestürzung auf das leere Blatt starrte, klopfte es plötzlich an die Tür. Ins Zimmer herein trat Erich Soltau.

»Höre«, begann Soltau, »mir ist etwas passiert, von dem ich nicht weiß, ob es sehr schlimm oder sehr gut ist.«

Sanders holte eine Flasche Wein und zwei Gläser, schob die Lampe auf dem Tisch zurecht, um Soltaus Gesicht besser sehen zu können, und lehnte sich in seinen Stuhl zurück, als gäbe es auf der Welt für ihn weiter nichts Interessanteres als Soltaus Erlebnis.

»Womit hängt das zusammen, was du erlebt hast?« fragte er.

»Mit Brandorff!« antwortete Soltau.

Jeder Zug in Sanders' Gesicht spannte sich.

Soltau goß ein halbes Glas Wein herunter und erzählte:

»Ich schlenderte heute nachmittag die Friedrichstraße langsam zum Oranienburger Tor hinauf. Jene Gegend interessierte mich; und rasch entschlossen sprang ich auf einen eben vorüberfahrenden Straßenbahnwagen, der an seiner Stirnseite die Aufschrift ‹Tegel› trug. Während der ganzen Fahrt beschäftigte sich mein Denken unausgesetzt mit jenem tragischen Erlebnis, nach dessen Lösung wir immer noch vergeblich suchen. Auf dem Vorderperron des Wagens stehend, musterte ich die Straßen, durch die wir fuhren, mit der schärfsten Aufmerksamkeit! Schon zeigten sich zur Linken die Bäume eines spärlichen Wäldchens, und in der Ferne tauchten bereits die ersten Häuser von Tegel auf, als ich plötzlich vor mir auf dem Wege eine kleine, eckige Gestalt bemerkte, in der ich sofort Brandorffs ehemaligen Diener John erkannte. Du kennst meine Verachtung und den Haß, den ich gegen diesen Menschen hege. Warum wollte er nur damals gerade mich mit seinen versteckten und später deutlich wiederholten Andeutungen als Mörder Brandorffs gelten lassen? Es ist mir unbegreiflich, wenn ich nicht glauben sollte, er habe sich auf niederträchtige Weise für ein böses Wort, das ich ihm einmal zufällig gesagt haben mag, rächen wollen! Als ich ihn nun so vor mir auf der Straße sah, konnte ich mich nicht halten. Ich sprang von dem Wagen, um ihn zu stellen und zur Rechenschaft zu ziehen. Aber kaum war ich ihm nahe, als er, ohne sich umgedreht zu haben, anfing, schneller zu gehen. Auch ich beschleunigte sofort meinen Schritt, aber nun begann er mit seinen fixen Jockeisprüngen sich in Trab zu setzen. Dieses hartnäckige Mir-aus-dem-Wege-Gehen kam mir höchst sonderbar vor, und ich wendete meine ganze Kraft an seine Verfolgung. Immerhin hatte er schon einen bedeutenden Vorsprung gewonnen und stand gerade vor dem großen Tegeler Park. Ich wußte, daß der Park jetzt geschlossen war, und freute mich schon, den Halunken endlich am Kragen packen zu können, als ich plötzlich sah, daß der Kerl die Stäbe des großen eisernen Tores erfaßte und wie ein Wiesel daran hinaufkletterte. Als ich atemlos ankam, war er längst drüben und rannte in den Wald. Ich schrie dem Wächter des Tores etwas zu, er zögerte zu öffnen, aber kurz entschlossen lief ich ein Stück am Gitter entlang und kletterte trotz der lauten Protestrufe des Wächters gleichfalls hinüber. Vor mir tat sich im leuchtenden Nachmittagslicht der ziemlich dichte Tegler Laubwald auf, und unter seinen Schatten versuchte der Fliehende zu verschwinden. Aber ich war ihm auf den Fersen, und so oft er versuchte, über einen Hügel hinter den dicken Baumstämmen zu entkommen, so oft setzte ich ihm mit einer Ausdauer nach, die jetzt schon etwas von verbissener Wut an sich hatte. Schließlich kamen wir bei dieser Hetze zu dem Gitter, das den Park von der andern Seite begrenzt. Wieder packte John zu und schwang sich hinüber. Bei unserer Jagd hatte uns schon das ungewisse Dämmern des sinkenden Tages überrascht. Ich sah ihn wie einen Schatten über das Gitter huschen. Ich hinterher, kletterte ihm nach, und als ich mich jenseits des Gitters umsah, befand ich mich in einer Straße, die zu einigen baufälligen kleinen Häusern führte. Weit hinter den Häusern sah ich einen rötlich glitzernden Schein in die Luft strahlen, es war wohl der See, in dem sich die Abendsonne spiegelte. Plötzlich, während ich noch den Fliehenden suchte, erhielt ich einen heftigen Stoß gegen die Brust, der mich umwarf. Der Schmerz raubte mir fast die Besinnung, ich konnte nur noch so viel erkennen, daß die dunkle Gestalt des Dieners, der mir so heimtückisch aufgelauert hatte, eilends wie im Fluge die Straße entlangglitt. Ich versuchte mich aufzuraffen, es gelang. Mit den letzten Kräften nahm ich die Verfolgung auf, aber plötzlich war der dunkle Schatten verschwunden, als habe ihn die Erde verschlungen.

Ich eilte zur Stelle, wo ich John zuletzt zu sehen glaubte, und befand mich vor einem kleinen, verfallenen Hause, das mit einer grauen Mauer umgeben war. Das starke, hölzerne Tor war fest verschlossen. Vor den Fenstern lagen dichtverstaubte, grüne Fensterläden. Ich klopfte an, niemand kam, zu öffnen. Ich schlug an die Fensterläden, doch nichts rührte sich. Ich mußte eine kleine Strecke zurückgehen, bis ich zum nächsten Hause kam. Durch das Fenster des Erdgeschosses sah ich Leute im Zimmer. Ich entschuldigte mich wegen der Störung und fragte, wer das kleine, einsame Haus eigentlich bewohne. Aber die Leute sahen mich verwundert an und sagten: ›Da wohnt schon seit Jahren niemand. Wem das Haus gehört, wissen wir nicht. Der Besitzer läßt sich nie blicken, und das Haus steht leer. Die Kinder gehen nicht in seine Nähe, denn man sagt, es spukt dort.‹«

Sanders hatte schweigend zugehört. Doch kaum hatte Soltau geschlossen, so sprang er auf und rief: »Wir müssen hin! – Führe mich!«

In eiliger Fahrt begaben sich die beiden im Automobil auf den Weg. Es war fast schon ganz dunkel, als sie in Tegel ankamen. Endlich standen sie vor dem Hause, das Soltau als dasjenige bezeichnete, in dem John so spurlos verschwunden war. Es war stockfinster davor, nur von ferne leuchtete das trübe Licht einer Straßenlaterne herüber.

Plötzlich besannen sich die Männer, daß sie ja in der Eile ohne jede Waffe fortgefahren waren. Aber nun half es nichts, man mußte sein Glück versuchen. Doch soviel sie auch ans Tor und an die Fensterladen klopften und hämmerten, nichts regte sich. Alles war erfolglos.

Die beiden begegneten Redberg, und alle drei fuhren zu Sanders.

Sanders wußte, mit einem Manne wie Redberg konnte man nicht anders als klar und ehrlich sprechen. Er wandte sich zu dem Kommissar: »Seien wir endlich einmal offen zueinander, lieber Herr von Redberg!« rief er. »Ich sehe, daß Sie einen bestimmten Verdacht haben. Irre ich mich, wenn ich annehme, daß er Ihnen an dem Tage von Brandorffs Begräbnis zum ersten Male kam?«

Redberg erwiderte ruhig: »Das stimmt doch nicht ganz, Herr Rechtsanwalt. Seitdem seinerzeit durch die Bekundungen der Leute, die den sterbenden Brandorff in seine Wohnung zurückbrachten, die Spur der Verbrecher nach Tegel wies, dehnte ich meine Streifereien häufig nach jenem Ort aus. Und da sah ich einige Male den einstigen Brandorffschen Diener John Barker in jenem verfallenen Hause verschwinden, vor dem ich Sie heute abend traf. Und einmal folgte ihm auf dem Fuße ein gut gekleideter Herr, der nämliche, bei dessen Anblick Fräulein Brandorff am Kirchhoftore in Ohnmacht fiel. Diese sonderbaren Umstände erweckten damals meinen Argwohn, und meine Nachforschungen haben ihn inzwischen nur verstärkt.«

Sanders dachte einen Moment nach und fragte dann: »Aber wenn Sie Verdacht haben, warum haben Sie noch keine Verhaftung vorgenommen?«

Aber Redberg mußte ihm antworten: »Ich konnte das nicht. Mein Verdacht ist lediglich privater Natur. Ich beobachte nur. Der Beweis dafür, daß der Betreffende jemals mit Brandorff in irgendeiner Verbindung stand, wäre erst zu erbringen.«

Dies war ein Argument, gegen das man nichts sagen konnte. Doch Redberg unterbrach plötzlich seinen Gedankengang, sah Sanders heiter an und fragte:

»Übrigens, Herr Rechtsanwalt, weil wir gerade auf den Tag von Brandorffs Begräbnis gekommen sind, erinnern Sie sich noch unserer Wette?«

»Welcher Wette?« fragte Sanders erstaunt.

»Sehen Sie«, rief Redberg schmunzelnd, »ich dachte mir, daß Sie es vergessen würden! Nun, unsere Wette auf dem Kirchhof, wegen des Tagebuches. Sie behaupteten, etwas Neues gefunden zu haben, ich erlaubte mir, diese Möglichkeit zu bestreiten. Was ist nun damit?«

Sanders Gesicht verdüsterte sich.

»Ich wage kaum davon zu sprechen«, antwortete er leise, »weil es mir fast vorkommt, als müßte ich an meinem Verstand zweifeln. Was ich Ihnen damals sagte, hat sich in der Tat als unrichtig herausgestellt. Das neue Wort, das ich damals zu finden glaubte, existiert nicht!«

»So, so«, sagte Redberg, »es existiert nicht – aber wie kamen Sie nur damals darauf, seine Existenz so fest zu behaupten?«

Sanders antwortete mit trauriger Stimme:

»Bitte, halten Sie mich ruhig für verrückt. Als ich das Tagebuch seinerzeit aus meiner Brusttasche zog und durchblätterte, habe ich auf der letzten Seite mit meinen leiblichen Augen das Wort zu erblicken geglaubt. Heute, bevor Soltau kam, sah ich das Tagebuch wieder an und merkte, daß Sie recht hatten: das Wort ist nicht vorhanden! – Vielleicht muß ich meine damalige Wahrnehmung der starken Erregung und Nervosität zuschreiben, in die mich die Ereignisse im Hause Brandorff versetzt hatten. Aber ich kann Ihnen sagen, bisher waren selbst in meinen erregtesten Augenblicken meine Beobachtungen klar geblieben!«

»Bitte, holen Sie doch das Tagebuch her!« war Redbergs Antwort.

Sanders brachte das kleine braune Buch herbei.

Erich Soltau saß mit abwesender Miene in seinem Fauteuil dicht bei dem Tische. Er hörte offenbar gar nicht recht auf das Gespräch der beiden. Er starrte in die Flamme der Stehlampe, die dicht vor ihm an der Ecke des Tisches stand, und drehte mißmutig an den Quasten der Tischdecke. Vielleicht war er im Geiste noch bei der mißglückten Verfolgung Johns und verärgert darüber, daß ihm jener Bursche doch entschlüpft war. Gedankenverloren beobachtete er das langsame Abbrennen des Dochtes.

Redberg nahm das Tagebuch, breitete die einzelnen Blätter aus und untersuchte sie sorgfältig. Dann schüttelte er den Kopf.

»Nein, lieber Herr Rechtsanwalt, ich glaube, Sie haben sich damals wirklich geirrt – da ist aber auch gar nichts anderes zu sehen, als was ich schon am ersten Tage sah!« Er legte die Blätter wieder in den Deckel hinein, klappte ihn zu und legte das Buch auf den Tisch. »Und nun, meine Herren«, sagte er, »heißt es nachdenken und sich gemeinsam besinnen, was wir an Beobachtungen und Verdachtsgründen gegen Mohl vorbringen können!«

»Gegen Mohl?« Soltau fuhr in seinem Fauteuil zusammen. Sein Gesicht war bleich. »Was für ein Verdacht bezieht sich auf Herrn von Mohl?« fragte er mit zitternder Stimme.

Redberg erwiderte langsam, laut, jedes Wort betonend: »Der Fall Brandorff!«

»Mein Gott!« schrie Soltau und sprang wild auf.

»Erich, die Lampe!« rief Sanders. Aber schon war es zu spät. Krachend klirrte etwas zusammen, und plötzlich war es hell und qualmig im Zimmer, und aus drei Kehlen erscholl der Ruf:

»Feuer!«

Über den Tisch hin wogte es von rotzüngelnden Flammen.

In die Angst hinein rief Redberg plötzlich: »Den Teppich hoch!« Die andern verstanden ihn. Sie packten, halb erstickt, zu und schleuderten den Teppich auf das Feuer. Sanders eilte ans Fenster und stieß es auf. Das Feuer war erstickt, und der Qualm zog langsam ab.

Soltau drehte die grelle Glühlampe auf, die zur Nachtbeleuchtung diente. Es zeigte sich, daß der Schaden gar nicht so schlimm war. Im ersten Moment hatte das alles viel gefährlicher ausgesehen. Man nahm den Teppich vorsichtig herab. »Das Tagebuch ist angekohlt!« rief Redberg. Sanders, im Verantwortlichkeitsgefühl, griff zuerst nach dem braunen, jetzt hie und da schwärzlich aussehenden Buch. Er wollte das Schloß einknipsen und es weglegen, als er es mechanisch noch einmal durchblätterte. Plötzlich schrie er heiser auf:

»Die Schrift – o hier, hier! Da ist noch etwas geschrieben!«

Redberg sah schnell über seine Schulter und sagte ruhig: »Sympathetische Tinte!«

Sanders schlug sich vor den Kopf: »O ich Esel, ich Esel! Daß ich es nicht damals merkte! Die Schrift wird sichtbar, wenn das Papier erwärmt wird! Damals, als ich in meiner Brusttasche die letzte Seite mit meiner Körpertemperatur erwärmte. Hier, sehen Sie – hier unten, da steht das Wort: ›Nie!‹« Und er begann im Zimmer herumzutanzen: »Sehen Sie – ich hatte recht, da steht das Wort!«

Und mitten unter den dampfenden, verkohlten Trümmern lasen die drei Männer die folgenden Seiten.


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