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Die drei Leute, welche den Transport Brandorffs geleitet hatten, boten das typische Bild der gänzlich heruntergekommenen, verhungerten Arbeitslosen, die jede Tätigkeit, die man ihnen anbietet, übernehmen.
»Wo sind Sie gemietet worden?« fragte Sanders den Droschkenkutscher.
»In der Müllerstraße!« erwiderte dieser.
»Von wem?«
»Die Herren hier haben mich gemietet«, antwortete er mit einer Handbewegung auf die drei Männer. Sanders musterte die Männer. Sie sahen absolut nicht so aus, als seien sie bei einem so raffinierten und komplizierten Verbrechen beteiligt. Im Gegenteil, es machte den Eindruck, als erwarteten sie ein besonders fettes Trinkgeld.
»Wie kamen Sie zu dem Herrn?« fragte Sanders einen der drei, der ihm durch eine größere Intelligenz in dem abgehärmten Gesicht auffiel.
Der Angeredete war offenbar unangenehm überrascht, daß er das Trinkgeld nicht sofort bekam, und schien jetzt erst zu merken, daß seine Tätigkeit vielleicht ihm unerwünschte Verwicklungen zur Folge haben könne. Er rückte sich ein wenig unruhig das rote Halstuch zurecht: »Ja, das ist nicht so einfach zu erzählen, Herr!« sagte er. »Aber ich dachte natürlich nicht, daß die Sache nicht ganz sicher ist. Ich übernehme sonst nämlich nur ganz reelle Sachen!« fügte er erklärend hinzu.
»Sie brauchen auch gar keine Bedenken zu haben!« sagte Sanders und gab den Leuten ein schönes Trinkgeld, das sie auch mit befriedigtem Schmunzeln entgegennahmen. »Ich möchte nur einige Fragen beantwortet haben.«
»Können Sie kriegen, Herr!« erwiderte bereitwillig der Sprecher der drei.
»Also dann sagen Sie mir, wer Sie gemietet hat und wo das geschehen ist!«
»Na also, Herr, das ist nicht so ganz leicht zu erzählen. Wie ich mich gestern nacht um den Schlesischen Bahnhof, da draußen an der Koppenstraße, herumdrückte, vielleicht um was aufzuschnappen, wo man 'ne Kleinigkeit verdienen kann, da kam auf mich so ein Mann zu, mit 'ner Mütze auf dem Kopf und 'ner Pfeife im Mund. Sah nicht gerade aus, als ob er's sehr dick im Portemonnaie hätte, aber das tat ja nichts zur Sache. Ich hatte gemerkt, wie er mir schon 'ne ganze Weile zugesehen hatte. Und nun fragte er mich, ob ich helfen wollte, 'nen Kranken zu transportieren.
›Gewiß‹, sagte ich, ›wenn's was einbringt!‹ Darauf gab er mir eine Mark und sagte mir, ich sollte am Tage darauf in der Müllerstraße mich einfinden, er gab genau die Stelle an, da, wo sie abzweigt nach Tegel, und dann gäbe es die anderen vier Mark. Wie ich nun heut nachmittag hinkomme, da stehen schon diese beiden da und warten auch, und nach kurzer Zeit kommt eine Droschke an und hält, mit dem Droschkenkutscher hier! Also wir kannten keiner den andern, aber wie wir so warten, kommen wir ins Gespräch, und es stellt sich heraus, daß jeder von uns herbestellt war und Vorausbezahlung bekommen hatte. Wie wir so etwa eine Viertelstunde warten, kommt von Tegel her ein kleiner Leiterwagen. Auf dem Bock saß ein alter, weißbärtiger, verrunzelter Bauer. Wie er uns warten sah, hielt er und fragte:
›Warten Sie hier auf'n Kranken?‹ ›Jawohl!‹ sage ich. ›Sind Sie's etwa selbst?‹ ›Nein!‹ sagt er in seiner komischen Sprechweise, die man nicht leicht verstehen konnte, ›der Kranke ist hier!‹ Und nun sahen wir erst, daß im Wagen, ganz in Decken eingewickelt, ein Mann lag. ›Den sollen Sie in die Stadt bringen!‹ sagte er zu uns und gab uns die Adresse von dem Haus hier an. Und dann holte er Geld vor und gab jedem, was er zu kriegen hatte. Dann holten wir den Kranken heraus und packten ihn in die Droschke. Der Bauer drehte den Wagen um und fuhr nach Tegel zurück, und wir machten, daß wir hierher kamen. Mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen, Herr!«
So war nun also Brandorff da. Aber woher war er gekommen? Und wie war er gekommen? Als Kranker. Er, der früher ein alter Mann zwar, aber doch durchaus rüstig gewesen war. Und nun? Ein Blick hatte Sanders von der Hinfälligkeit Brandorffs überzeugt.
Sanders trat leise in das Krankenzimmer.
Ein junger Mann stand mit ernstem Gesicht am Bett, der sich als Doktor Heinrich vorstellte. Es war der Arzt, der geholt worden war. Cecily saß zu ihres Vaters Füßen, sie machte einen gefaßten Eindruck, trotzdem ihre Augen von einem mühsam zurückgehaltenen Weinen gerötet waren.
Der Arzt trat auf Sanders zu und sagte mit leiser Stimme: »Der Zustand ist mehr als bedenklich. Der Patient scheint irgendwelchen heftigen äußeren Eingriffen ausgesetzt gewesen zu sein. Es ist ein außerordentlicher Kräfteverfall zu konstatieren. Ich verstehe eigentlich gar nicht, was vorgegangen ist. Sehen Sie hier an den Handgelenken diese wunden, eiternden Stellen – es sieht so aus, als wenn eine unmenschlich grausame Fesselung bei dem alten Mann vorgelegen hätte. Und dann scheint mir auch, als hätte der Patient längere Zeit mit einem Knebel im Mund leben müssen.«
Als Soltau ins Haus trat, hatte er ein Gefühl, als ob sich die Atmosphäre des Krankenzimmers bis hier heruntergeschlichen hätte und jedem lauten Ton eindringlich Ruhe gebot.
Cecily kam ihm entgegen. Soltau und Cecily machten jeder unwillkürlich eine Bewegung und sahen sich aus bleichen Gesichtern in die Augen. Aber keiner schlug die Augen nieder. Man sah es, in Cecily arbeitete ein innerer Zwist, dann ließ sie den Kopf sinken und gab mit einer Handbewegung den Weg für Soltau frei.
Brandorff hatte das Gesicht mit weit offenen Augen gerade auf die Tür hingerichtet, aber er machte keine Bewegung. Man merkte, er erkannte den Eintretenden nicht.
Plötzlich machte Brandorff eine Bewegung im Bett, gleich als habe er die letzten Worte des Arztes verstanden. Seine Lippen bewegten sich, und er murmelte Worte. Cecily beugte sich in unnennbaren Qualen zu seinem Munde, und man konnte endlich das eine Wort unterscheiden: »Cecily!«
Langsam, Silbe für Silbe ward es fast unhörbar gesprochen.
Mit wildem, angstvollem Schluchzen warf sich Cecily über ihn und rief: »Hier bin ich, Vater – hier bin ich! Erkennst du mich?«
Ein schwaches Aufleuchten in Brandorffs Augen zeigte an, daß er sie verstanden und erkannt hatte.
»Du darfst nicht sterben, Vater!« rief sie verzweifelt, »du darfst es nicht!«
Und Soltau, der immer noch an der Schwelle stand, stöhnte mit den Händen vor dem Gesicht: »Oh, spräche er doch!«
»Du darfst nicht sterben, Vater!« rief Cecily von neuem. »Sprich zu mir, Vater!« Aber nur leise Mundbewegungen des Greises gaben die Antwort.
»Was ist?« fragte, aufmerksam gemacht, der alte Sanitätsrat.
»Es handelt sich um ein schreckliches Geheimnis«, antwortete leise Sanders. »Alles kommt darauf an, daß der Sterbende spricht. Stirbt er, ohne gesprochen zu haben, so bleibt der schwerste Verdacht vielleicht auf Schuldlosen haften!«
Der Arzt beugte sich von neuem über das Bett und sagte: »Herr Brandorff – es geht Ihnen jetzt besser. Möchten Sie sprechen?«
Wieder ein leises »Ja«.
»Möchten Sie Herrn Soltau sprechen?« fuhr der Arzt fort.
Die Züge des Kranken umdüsterten sich auf einmal. Weit und erschreckt starrten seine Augen den Fragenden an. Der Arzt winkte Soltau herbei und führte ihn neben sich ans Bett: »Hier ist Herr Soltau!«
Der Sterbende bewegte die Lippen, und plötzlich hörte jeder ein deutliches: »Nein!«
Ein starrer Schreck befiel alle. – Er wollte Soltau nicht in seiner Nähe haben? War am Ende Soltau doch schuldig – war er der Täter, der jetzt den Tod Brandorffs auf dem Gewissen hatte, der Mörder?
Da stürzte Soltau fassungslos vor dem Bett auf die Knie und rief in höchster, gequälter Angst: »Onkel, sprich mit mir! Um Gottes willen sprich! – Vergib mir alles, was früher war, nur sprich! Stürze mich nicht ins Unglück; sag' doch: bin ich schuld an deinem Tode? Bin ich der Verbrecher? Sprich doch, wir alle bitten dich – sprich: Bin ich es?«
Eine atemlose Spannung lag auf allen. Jetzt sollte sich das Geschick Soltaus entscheiden.
Da hörte man deutlich, wie der Sterbende sagte: »Nein!«
Es war, wie wenn allen eine ungeheure Last vom Herzen gefallen wäre. Cecily, von der Nervenerschütterung überwältigt, schluchzte fassungslos.
Doch Soltau ergriff ihre Hand und trat mit ihr zum Bett.
»Vergib mir, Onkel«, sagte er. »Vergibst du mir?«
»Ja!« hauchte Brandorff.
Ein freudiges Zucken überflog Soltaus Gesicht.
»Sieh«, fuhr Soltau fort, »gib mir Cecily. Du weißt, ich begehre sie zum Weibe, und ich werde sie glücklich machen. Ich lege deine Hand in unsere beiden, ziehe sie nicht zurück. Ich bitte dich, Onkel, gib uns deinen Segen!«
Die Stille im Zimmer wurde nur durch das leise Schluchzen Cecilys unterbrochen. Alle lauschten atemlos.
»Ja!« sagte Brandorff. Seine Augen wurden schon wieder matt. Die Ärzte berieten wieder leise. Der Sanitätsrat sagte: »Er wird wohl nicht mehr sprechen!«
Da schien es, als sehe Cecily plötzlich jetzt zum ersten Male, was hier eigentlich geschehe, als wache sie aus einem tiefen Traum auf; als besänne sie sich nun erst auf das furchtbare Geheimnis, das der Sterbende mit ins Grab nehmen wolle.
»Er muß sprechen! Mein Vater muß sprechen!« rief sie in wilder Verzweiflung.
Der Arzt schüttelte den Kopf. Aber der Sanitätsrat flößte dem Sterbenden wieder einige Tropfen ein. Brandorffs Augen wurden wieder heller.
Cecily beugte sich so dicht über ihn, daß ihr Mund fast sein Ohr berührte.
»Höre mich, Vater«, sprach sie, »höre mich – ich bin Cecily, deine Tochter! Ich bin verzweifelt! Du mußt sprechen, lieber Vater! Nimm dein Geheimnis nicht mit dir! Sprich, ich bitte dich! Wir alle müssen es wissen: wer, wer war es, Vater, wer?«
Totenstille herrschte im Raum.
Man sah, wie sich die Brauen des Sterbenden krampfhaft zusammenzogen, wie er gewaltsam seine Lippen bewegte, ohne einen Laut hervorzubringen.
»Sprich doch, sprich doch, Vater!« schluchzte Cecily verzweifelt. »Wir müssen es wissen!« Und mit dem plötzlichen Zweifel, ob sie überhaupt noch gehört würde, fragte sie angstvoll: »Verstehst du, was ich sage, Vater?«
Da richtete sich plötzlich mit ungeheurer Anstrengung der Liegende auf. Seine Augen brannten in unnatürlichem Glanze, seine Hände griffen kraftlos in die Luft. Und heiser, leise und deutlich, durch eine schier übermenschliche Anstrengung brachten seine Lippen die Worte hervor: »Tagebuch – Opale!«
Plötzlich warf er seine Hände hoch, als fehlte ihm die Luft, und fiel lautlos und schwer zurück.