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Ein stiller Sommerabend hatte sich an diesem Tage über Berlin gelagert.
Unter der großen Platane an der Straßenkreuzung der Margaretenstraße standen im letzten Aufglimmen der Abendröte zwei Männer.
»Also, Matuschke«, sagte der eine, »machen Sie Ihre Sache gut! Ich werde jetzt hinter Ihnen hergehen, Sie klingeln am Hause, und wenn der Portier öffnet, dann gehen Sie in die Portierloge hinein; hören Sie: hinein. Da legen Sie dem alten Lehnert und seiner Frau das Protokoll vor, währenddessen gehe ich schnell ins Haus. Nachts über bleibe ich im Hause, Sie müssen also morgen früh um neun Uhr noch einmal kommen und die Portiersleute so lange aufhalten, bis ich wieder hinaus bin. Kein Mensch darf eine Ahnung davon haben, daß ich im Hause bin. Also morgen früh Punkt neun Uhr! So – und nun geben Sie mir meine Sachen!«
Der Kriminalkommissar von Redberg nahm dem Zivilschutzmann das kleine Handtäschchen ab und ging vorsichtig ein paar Schritte hinter der breiten Unteroffiziersgestalt mit den schweren, breiten Stiefeln her.
Niemand, der den eleganten Redberg am Vormittag gesehen hatte, hätte in dem unscheinbaren Herrn im dunkelgrauen Anzuge, der mit leisem, elastischem Schritt durchs Abenddunkel ging, den Kriminalkommissar vermutet.
Matuschke blieb vor dem Hause Nr. 25 stehen und klingelte. Das kleine Fenster zu ebener Erde wurde aufgerissen, und der alte Lehnert steckte mürrisch seinen Kopf durch den Vorhang: »Was wollen Sie?«
»Sind Sie der Portier Lehnert?«
Auf diese mit militärischem Ton gegebene Gegenfrage wurde die Stimme Lehnerts plötzlich weich. Er ahnte nichts Gutes.
»Ja, der bin ich.«
»Ich komme vom Revier, ist Ihre Frau da?«
»Ja, um Gottes willen«, kreischte die Portiersfrau, »was ist denn bloß los? Ich habe doch um Himmels willen nichts getan und weiß doch auch nicht, wo der alte Herr geblieben ist!«
»Darum handelt sich's auch gar nicht, Frau Lehnert«, sagte der Kriminalschutzmann in gebeugter Haltung zu dem kleinen Fensterchen hinunter. »Ich muß nur ein Protokoll aufnehmen!«
Das Fensterchen klappte zu, und Matuschke, der sich überzeugte, daß niemand ihn beobachtete, ließ geräuschlos ein Stückchen schwarzen Gummischlauch fallen, das er in der Hand gehalten hatte. Als die Tür sich öffnete, schob er es schnell mit dem Fuß an den feststehenden Flügel, so daß die Tür sich nicht wieder ganz schließen konnte. Als er im Hausflur war, kam ihm schon Lehnert an der offenen Tür der Portiersloge entgegen. Matuschke holte den blauen Aktendeckel unter dem Arm hervor. »Kommen Sie doch rein, Herr Wachtmeister!« bat Lehnert mit zitternder Stimme. Kaum hatte sich das Türchen hinter den beiden geschlossen, als vorsichtig das Haustor aufgedrückt wurde und blitzschnell, geräuschlos wie ein Windhund, Redberg über den Flur schlüpfte. Er eilte zum hinteren Tore, das auf den Vorhof führte. Es war geschlossen. Als er sich umsah, entdeckte er im Dunkel noch ein Seitenpförtchen und faßte sorgsam nach der Klinke. Diese Tür war offen. Er glitt hindurch. Auf dem Vorhof hielt er vorsichtig an der Mauer, und erst, als er sich genau davon überzeugt hatte, daß niemand sich um diesen Teil des Hauses kümmere, hatte er mit wenigen lautlosen Sprüngen den Garten erreicht.
Zunächst mußte er sich über seinen Standort informieren. Er stellte fest, daß der Garten, der gegen den Vorhof durch das eiserne Tor abgeschlossen war, das er schon vorher passiert hatte, sich in eine beträchtliche Tiefe erstrecke. Tief hinten war der Garten durch eine lange, steinerne Mauer abgeschlossen, die auf der einen Seite an ein Nachbargrundstück anstieß, auf der andern Seite aber plötzlich in einem rechten Winkel umknickte, um einen Teil des Hauses herumlief und plötzlich haltmachte vor einem großen, sehr hohen Zaun, der zwar nicht die Welt, wohl aber die Margaretenstraße mit Brettern vernagelte.
Hinten an der Mauer, ungefähr in der Mitte ihrer Länge, stand eine kleine Laube. Redberg schlich geräuschlos zwischen den hohen, alten Linden hin, wobei er sorgfältig die knirschenden Kieswege vermied, und setzte sich in die Laube, um die Nacht vollends abzuwarten. Erst wenn er alles schlafend wußte, wollte er sich an das Haus heranpirschen und, wie der Jäger nach dem Schweiß des Wildes, nach den Spuren der Täter suchen. Den Revolver hatte er zwar schußbereit bei sich, aber er glaubte ihn kaum zu gebrauchen. Er ließ ihn im Gürtel stecken.
Was Redberg wichtiger schien, das war die Handtasche, mit der er sich ins Haus eingeschlichen hatte. Er stellte sie auf den kleinen Tisch der Laube, öffnete sie und entnahm ihr allerlei seltsame Werkzeuge, die er vorsichtig auf dem Tisch ausbreitete, indem er jedes Geräusch vermied. Zuletzt entnahm er der Tasche eine kleine elektrische Lampe, die er entzündete und so stellte, daß sie nur diejenigen Gegenstände in einem kleinen, hellen und scharf begrenzten Kreis erleuchtete, die er eben untersuchte. Im Scheine des elektrischen Lichts lag da in der kleinen Laube im Dunkel der Nacht das Handwerkszeug des modernen Indianers, des modernen Pfadfinders und Spurensuchers.
*
Rechtsanwalt Sanders hatte, getrieben von einem unwiderstehlichen Tätigkeitsdrange, plötzlich den Entschluß gefaßt, sich so schnell wie möglich Aufschluß über die Art, wie der alte Brandorff verschwunden war, zu holen.
Mehrmals durchmaß er leise das Bibliothekszimmer und ließ seinen Blick spähend umhergleiten, um vorher den besten Plan zu finden, mit dem er auf der Suche im Garten vorgehen wollte.
Da hatte er's. Das Nächstliegende war doch, wenn man schon im Garten irgend etwas zu finden hoffte, denselben Weg einzuschlagen, den der Jemand eingeschlagen haben mußte, der möglicherweise irgendeine Spur im Garten hinterlassen hatte. Und das war der Weg durch Brandorffs Arbeitszimmer. Sanders drückte die Klinke an der Tür des Arbeitszimmers herunter. Die Tür war unverschlossen. Er ging hinein in den kleinen, dunklen Raum. Ein paar Minuten blieb er stehen, um seine Augen an das Dunkel zu gewöhnen. Das Fenster war noch offen, das Mondlicht spielte durch die Zweige der mächtigen Linde, die in einiger Entfernung vor dem Fenster ihre Zweige ausbreitete. In dem ungewissen Schein konnte er erkennen, daß im Zimmer noch alles so lag wie am Morgen. Mitten im Zimmer blieb er einige Augenblicke still stehen, um sich zu überzeugen, ob er durch nichts gestört würde. Doch nichts rührte sich. Er drückte die Klinke der Tapetentür herab und trat auf den kleinen Vorflur hinaus, dann tastete er sich die Wendeltreppe hinab. Unten im Garten, hoffte er, würde die Helligkeit des Vollmondlichtes fürs erste schon genügen.
Als er von der Wendeltreppe aus in den Garten trat, blieb er vorsichtig in der kleinen Holztür stehen und blickte um sich. Keine Menschenseele war weit und breit zu sehen, wie er es erwartet hatte. Nur die riesigen, alten Bäume des Gartens schwankten in dem bleich zitternden Licht gespenstisch hin und her, fast schien es, als streckten sie drohend in die Nacht Arme aus zum furchtbaren Zeugnis eines Verbrechens, das sie mit angesehen hatten.
Ein wenig bangte dem Rechtsanwalt jetzt, in der Stille der Nacht, doch vor seiner Aufgabe. Aber er ließ sich nicht entmutigen.
Spähend trat er aus seinem Versteck hinaus. Als er hinter sich blickte, fiel ihm die große, dichtbewachsene Mauer ins Auge, in der das Pförtchen der Wendeltreppe mündete. Ein Gedanke kam ihm. Wie wär's, wenn er zuerst einmal seine Forschung dicht an der Mauer aufnahm und erst allmählich immer weiter und weiter in die Umgebung vorrückte?!
Er kroch an der Mauer entlang. Jetzt war er unter der Linde angekommen, die vor Brandorffs Arbeitszimmer stand. Hier war es vollkommen dunkel. Nur ein dünner Mondstrahl fiel durch das dichte Blättergewirr hindurch. Erschöpft richtete sich Sanders auf, um, an den Stamm gelehnt, sich einen Moment auszuruhen. Als er sich wieder bückte, um seine Untersuchung fortzusetzen, blitzte ihm an der Erde, gerade in dem dünnen Schein, den die Zweige vom Mondlicht durchließen, etwas Weißes entgegen. Er griff danach und betrachtete es, es war ein kleines, seidenes Band, mit Metallbeschlägen und einem Silbermonogramm. Augenblicklich erkannte er es als das Abzeichen, das die Mitglieder des Westen-Klubs anzustecken pflegten. Mit einer fast ärgerlichen Bewegung steckte er es in die Westentasche. Offenbar war es ihm eben herausgefallen; zu dumm, daß das auch gerade jetzt seine Gedanken ablenken mußte. Er wollte die Hand aus der Tasche ziehen – plötzlich fühlte er in unaussprechlichem Schreck, wie sich jemand über ihn warf. Eine Hand schob sich vor seinen Mund, und eine harte Stimme flüsterte: »Keinen Laut, oder ich schieße.« Der Kerl lag in der Dunkelheit ganz auf ihm, drückte ihn platt auf die Erde und riß ihm beide Arme nach rückwärts. Ein Klirren, ein Einschnappen von Metall war hörbar, und Sanders fühlte plötzlich – das Herz stand ihm fast still – seine Handgelenke auf den Rücken gefesselt. Die Stimme des Kerls flüsterte energisch in sein Ohr: »Stehen Sie auf, und rühren Sie sich nicht!« Sanders gehorchte, er fühlte sich an der Brust gepackt und aufgehoben. Der Schein einer elektrischen Taschenlampe blitzte auf, und er stand seinem Angreifer jetzt von Angesicht zu Angesicht gegenüber.
Es war der Kriminalkommissar von Redberg.
Auch Redberg hatte Sanders erkannt. In maßlosem Staunen standen sich die beiden gegenüber. Redberg brach zuerst das Schweigen: »Was, Sie sind es, Herr Rechtsanwalt? Erlauben Sie, ich war ein wenig energisch! Aber sagen Sie, was haben Sie hier nachts um das Haus zu schleichen?«
Noch konnte Sanders sich nicht fassen. Der gänzlich unerwartete Überfall im Dunkeln hatte ihn völlig verwirrt.
»Kommen Sie, Herr Sanders«, sagte Redberg, »ich will Ihnen die unangenehmen Dinger da hinten wieder abnehmen. Aber das kann ich Ihnen sagen, ich hätte nie erwartet, Ihre Bekanntschaft auf so wunderbare Weise erneuern zu dürfen!«
Und nun erklärte ihm Sanders schnell im Flüsterton, was ihn hergetrieben hatte.
»Ich sah Sie schon längst herumkriechen«, sagte Redberg, »hatte aber natürlich in der Dunkelheit keine Ahnung, daß Sie es sind! Hm, das hätte leicht unangenehm werden können!«
»Auf der andern Seite der Mauer hörte ich im Gebüsch ein Geräusch«, fragte Sanders, »waren Sie das?«
»Freilich«, lachte Redberg leise, »aber haben Sie etwas gefunden?«
»Nein«, antwortete Sanders.
»Nun, ich sah Sie doch eben etwas aufheben!« drängte der Kommissar.
»Ja, das war ein Band, das ich eben selbst verloren hatte!« war die Antwort.
Sanders griff in seine Westentasche, um das kleine Klubband hervorzuholen. Im Licht der Taschenlampe löste er seine Faust, um das Band zu glätten. Plötzlich gewahrte er zu seiner ungeheuren Überraschung, daß er – zwei Klubzeichen in der Hand hielt.
»Was ist das?« fragte Redberg. »Das ist doch vom Westen-Klub? – Aber wieviel solcher Abzeichen besitzen Sie?«
»Nur eins!« erwiderte Sanders, und er fühlte, wie ihm der Schweiß auf der Stirn stand.
»Aber das hier sind doch zwei!« sagte Redberg.
Sanders antwortete mit ausgetrockneter Kehle:
»Ich habe mich geirrt – ich habe nicht mein Band verloren, wie ich vorher dachte, sondern dieses hier jetzt erst gefunden – ich hab's mechanisch in die Westentasche gesteckt!«
»Also muß es jemand verloren haben!« bemerkte ruhig der Kriminalkommissar. »Aber kommen Sie, wir wollen hier nicht stehen bleiben. Wir werden uns in die Laube am Ende des Gartens setzen und ruhig diesen merkwürdigen Fund besprechen. Ich sehe doch, daß ich ein paar Fragen an Sie zu richten habe!«
»Hören Sie mal, Herr Sanders«, fuhr Redberg fort, als sie in der Laube saßen, »ich sage Ihnen offen, daß Sie der einzige Mensch hier aus der Umgebung sind, auf den ich keinen Verdacht habe. Sie brauchen sich nicht geschmeichelt zu fühlen«, unterbrach er sich. »Höflichkeiten gibt es im Amt nicht. Ich habe mich indessen genau erkundigt, kenne Ihre Beschäftigungen, weiß, wo Sie gewesen sind, ich habe Ihr Alibi bis zum heutigen Morgen in Händen ... Vielleicht aber kennen Sie einen jungen Mann, der, wie Sie, Angehöriger des Westen-Klubs ist, und der sich gestern nacht lange hier im Hause aufgehalten hat, der vorher mit dem alten Brandorff einen heftigen Streit hatte! Kennen Sie einen solchen Herrn vielleicht?«
»Soltau!« stöhnte der Rechtsanwalt tonlos.
»Ja, Soltau!« lächelte Redberg kalt. »Hören Sie, Herr Rechtsanwalt«, fuhr er fort, »ich vermute, Sie bleiben heute nacht hier im Fremdenzimmer des Hauses. Gut – tun Sie das, bitte, wirklich. Und wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Ich weiß, Sie sind mit Soltau befreundet – versuchen Sie nicht, ihm einen Wink zu geben. Ich werde doch schneller sein als Sie – und es könnte für Sie Unannehmlichkeiten haben!« – – –