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III.
Unter Freunden

Johannes Sanders stand da und sah den Schläfer an. Er stand und wartete. Unwillkürlich griff er mit beiden Händen nach dem Kragen, um sich Luft zu machen, als er Soltau betrachtete. Soltau, den man seit seiner Jünglingszeit nur als tadellos soignierten Kavalier, als überaus peinlichen Menschen kannte, Soltau, der im Korps lange der Renommierfechter gewesen war, der an die Leistungsfähigkeit seines Körpers stets die höchsten Anforderungen gestellt hatte, er saß im Schlafe nun da, eingesunken, mit verfallenem, schmutzigen Gesicht, den flachkrempigen Modehut eingebeult und fleckig in die Stirn zurückgeschoben, das Haar wirr und schlaff im Gesicht, das Hemd zerknüllt und gelb.

Sanders ergriff seine Hand: »Du hast bei mir nichts zu fürchten, Erich!« Soltau nickte mechanisch.

Auf einmal raffte er sich zusammen. Sein Körper straffte sich, die alte Festigkeit schien wieder auf einen Moment bei ihm zu sein. Aber ebenso plötzlich sank er wieder in sich hinein. Er rang nach Worten. Dann kam es tonlos aus seinem Munde: »Ich kann nicht sprechen, Sanders!« Sanders saß ihm mit milder, beruhigender Miene gegenüber. Er gab kein Zeichen von Ungeduld, nur Güte schien jetzt in dem Antlitz des sonst so energischen, kurz angebundenen Mannes zu liegen. Er wartete ab.

Soltau brachte mit trockener Zunge hervor: »Ich wollte abreisen! – Ich bekam's nicht fertig!«

Still dachte Sanders: »Es zieht ihn nach dem Tatort zurück ich kenne das.« Und er schwieg.

Soltau stand auf und ging matt im Zimmer umher, den Kopf nach der Seite wiegend, wie jemand, der unter einem fürchterlichen Schicksalsschlag schweigsam mit sich selbst ringen muß.

»Sanders«, sagte er endlich, »du bist so gut!«

Sanders wurde es weich ums Herz. Die Dankbarkeit Soltaus rührte ihn. Doch plötzlich erstarrte in ihm das Gefühl. Dieser Mann, der vor ihm stand, bot das Bild eines Zusammenbruchs nach einer schweren Tat. Sicher hatte er sie begangen, sicher ... sicher ... Und der Gedanke, daß Soltau schuldig sei, wurde plötzlich so fest in Sanders, daß er sich zu einer Überzeugung verdichtete. Er mußte wohl die Wahrheit an den Tag bringen.

»Erich«, sprach er, und seine Stimme hatte den alten metallischen Klang, »bitte, laß das! Sag' mir, was du weißt!«

Soltau ging im Zimmer auf und ab. »Wozu darüber reden? Ich kann jetzt doch nicht sprechen!«

Sanders fühlte sich ganz kalt werden.

»Ich bitte dich«, entgegnete er hart, »sage mir nicht das! Auf deine Worte kommt alles an!«

Soltau ging mit mattem Trotz umher.

»Du mußt doch merken, daß ich jetzt auch nicht im geringsten die Stimmung habe!«

Sanders fühlte eine kalte Wut in sich aufsteigen. Wie wenig, merkte er, hatte er doch Soltau gekannt! War das der anständige Mensch, mit dem er befreundet war? Dieser da beging wahrscheinlich die tollste Verruchtheit – Gott weiß, was er aus Brandorff gemacht hatte und aus welchem Grunde – und sprach jetzt schlapp von Stimmung!

»Soltau«, sprach er drohend, »das ist unerhört! Wie kannst du mir mit einer so läppischen Entschuldigung kommen!«

Soltau wand sich: »Es ist nicht nötig – nein – wozu soll ich noch reden!«

»Wozu?« donnerte Sanders. »Zum Teufel, ist es nötig! Kurz und schnell: was weißt du von Brandorff – was hast du gemacht?« –

Ein maßloses Erstaunen glitt über Soltaus Züge, und erregt trat er einen Schritt vor: »Brandorff? Was meinst du? Jetzt verstehe ich dich nicht!« Und als er das hartnäckige Gesicht von Sanders sah, fast flehend: »Ich verstehe dich wirklich nicht – mein Ehrenwort!«

Sanders stahlhart: »Deine Ehre!« –

»Johannes!« schrie Soltau. »Du, der letzte, zu dem ich mich flüchte – du bist der erste, der mich beschimpft.«

Sofort bereute Sanders seine ihm sonst so ungewohnte Handlungsweise. Er setzte sich mit abweisender Miene.

»Bitte«, sagte er trocken, »sprich offen zu mir! Wie konnte ein Mann von deiner Lebensstellung ein so raffiniertes Verbrechen begehen?«

»Aber ich bin doch kein Verbrecher«, stöhnte Soltau, »ich bin nur ein Unglücklicher!«

»Soltau, werde nicht sentimental! Das tun alle Leute in deiner Lage!«

Soltau stand einen Moment starr da. Plötzlich griff er nach seinem Hut auf dem Tisch. Seine Stimme war kühl: »Ich danke dir außerordentlich für deine überraschende Freundlichkeit gegen mich. Du gestattest, daß ich jetzt gehe!«

»Nein«, rief Sanders, »ich gestatte nicht, daß du jetzt gehst!« Er stellte sich breit und unüberwindlich mit dem Rücken an die Tür: »Du wirst nicht eine Sekunde eher gehen, als bis du mir gesagt hast, was du mit Brandorff gemacht hast!«

Soltau mit wütendem und völlig ratlosem Gesicht:

»Zum Donnerwetter, geh' von der Tür weg, ich weiß nicht, was du von mir willst! Niemand hat mit Brandorff etwas gemacht!«

Sanders: »Lügner!«

»Geh' weg, oder ich fahre dir an die Kehle!« schrie Soltau.

»Das glaube ich – das ist ja das einzige, was du kannst«, rief Sanders.

Da brach Soltau völlig zusammen. Die geballten Fäuste fielen schlaff herab, das wutverzerrte Gesicht sank in tiefe Falten.

»Ich verstehe nicht«, stotterte er – »ich weiß nicht, was du willst! Ich weiß absolut nichts mehr!«

»Gut!« sagte Sanders jetzt ganz ruhig. »Erlaube mir, einige Fragen zu stellen.«

»Mache mit mir, was du willst!« stöhnte Soltau, ganz und gar erschöpft.

»Bitte, nimm ruhig wieder Platz!« forderte Sanders in geschäftsmäßigem Tön auf. »Und nun gib mir Auskunft: Du warst gestern abend um ein halb neun bei Brandorff. Stimmt das? Ihr gingt zuerst ins Billardzimmer. Später habt ihr euch ins Arbeitszimmer zurückgezogen. Ist das richtig? – Gut! Der Diener hat den Tee gebracht, einer von euch hat sein Glas halb, der andere ganz ausgetrunken! Richtig? Nun, ich sehe an deinem erstaunten Gesicht, daß du dich besinnst. Dann habt ihr beide im Arbeitszimmer ein sehr aufgeregtes und heftiges Gespräch miteinander« –

»Das geht dich nichts an!« schrie Soltau aufspringend.

»Das geht mich sehr viel an«, sagte Sanders ruhig und drückte Soltau in den Sessel zurück. »Nach dieser heftigen Auseinandersetzung hast du Brandorff aus irgendeinem mir unbekannten Grunde beseitigt!«

Soltau reckte sich im Sessel hoch. Einen Moment Stille, einen Moment nur. Aber dieser Moment schien Sanders ein ganzes Leben lang zu dauern. Er hörte sein Blut in den Ohren rauschen. Da sagte Soltau mit einer Stimme, als käme er aus einem kalten Bade:

»Sanders – du bist verrückt! Ich habe nicht geglaubt, daß ich heute noch lachen werde, wahrhaftig nicht!«

Beide schienen jetzt einander völlig ruhig gegenüber zu sitzen.

»Ich bitte dich, Sanders«, sprach Soltau, »sage mir, warum fragst du mich – nein – sage mir, was redest du da von Brandorff?«

»Vielleicht dürfte dir nicht ganz unbekannt sein«, entgegnete Sanders, »daß Brandorff verschwunden ist – sieh mich nicht so groß an! – aus seinem Zimmer verschwunden – und das Zimmer war von innen abgeschlossen! – Bitte«, unterbrach er Soltau mit einer Handbewegung, als dieser sprechen wollte, »du weißt ebensogut wie ich, daß Brandorff sein Haus nie verlassen hat – und am wenigsten in der Nacht. Es ist ein Verbrechen geschehen – ein ganz raffiniertes, verruchtes Verbrechen.«

Soltau lehnte sich mit weit aufgerissenen Augen in seinen Stuhl zurück. Mit der unsicheren Stimme dessen, dem etwas ganz Überraschendes, Verwirrendes begegnet, und der sich zu fassen sucht, sagte er: »Das ist unglaublich! Ein Verbrechen an Brandorff! Du sagst mir, Brandorff ist verschwunden? – Laß mich nachdenken, Sanders!«

Soltaus Gesicht wurde auf einmal ganz bleich. Er beugte sich im Sessel vor, daß er fast zusammenzuknicken schien. Seine Finger griffen aneinander und krampften sich gewaltsam zusammen. Mit verzerrtem Antlitz, heiserer Stimme sprach er:

»Sanders, ich kann es nicht sagen! Sanders, ich gebe dir mein heiligstes Ehrenwort, was ich auch sonst für ein Lump gewesen sein mag, von Brandorffs Verschwinden weiß ich nichts! – Es wäre lächerlich, zu schwören, aber ich weiß es jetzt nicht anders: Ich schwöre dir, ich weiß von Brandorff nichts!«

Sanders, mit gütiger Stimme, wie wenn er ihn streichelte: »Soltau, sag' es mir, deinem alten Freunde! Denk' doch, du bist dann auch für die andern ganz entlastet! Bitte, sage mir euer Gespräch!«

Soltau stand auf.

»Sanders, dein Verhör, denn anders kann ich es ja nicht nennen, hat mich vollständig zerstört. Ich bitte dich, laß mich jetzt gehen. – Ich bin unschuldig! – Über das Gespräch mit Brandorff wird niemand auf der Welt eine Auskunft von mir bekommen!«

»Niemand?«

»Niemand!«

»Geh'!« sagte Sanders und öffnete ihm die Tür.

*

Sanders fuhr die Potsdamer Straße herunter, als er vom Trottoir seinen Namen rufen hörte. Er sah auf, es war Herr von Mohl, der mit ihm und Soltau im Westen-Klub war. Sanders war nicht übermäßig erfreut, daß ihm der elegante Plauderer, mit dem man wohl zu anderen Zeiten angenehme Abende gern verbrachte, gerade jetzt in den Weg lief. Aber Herr von Mohl winkte ihm so dringend zu, daß Sanders das Automobil wieder halten ließ, ausstieg und Mohl die Hand schüttelte. »Hören Sie mal, lieber Sanders«, sagte Herr von Mohl, »was machen Sie denn nur? Sie lassen sich ja gar nicht blicken! Sie haben uns nun schon einen geschlagenen Monat gröblich vernachlässigt!«

Dabei faßte er Sanders so herzlich und vertraulich unter den Arm, daß dieser merkte, so bald werde er hier nicht loskommen. Er sagte ein paar Worte von »entsetzlich zu tun« und »Geschäften«. Aber Herr von Mohl entgegnete ihm eindringlich: »Nein, mein Lieber, so kommen Sie nicht los! Sie haben uns doch auch Ihren Freund Soltau entführt! Der kommt nun auch schon seit einer Woche nicht mehr in den Klub! Wenn das so weiter geht, dann werde ich bald meine Abende allein verbringen müssen!«

Sanders war befremdet: »Wie meinen Sie, Soltau war schon seit einer Woche nicht mehr im Klub? Er ist doch sonst ganz regelmäßig abends hingegangen, auch wenn ich nicht da war!«

»Nun, nun, verstellen Sie sich nur nicht«, scherzte Mohl, »Sie waren doch sonst unzertrennlich!«

»Nein«, verteidigte sich Sanders, »diesmal weiß ich wirklich von nichts!«

»So«, versetzte Mohl, »ich dachte bestimmt, Sie wüßten, wo Soltau bleibt. Kommt er heute abend? Ich soll ihm nämlich Revanche geben!«

»Ah, wieder gespielt?« fragte Sanders leichthin.

»Ja«, nickte Mohl, »ich warte schon seit einer Woche auf ihn. Wissen Sie, ganz unter uns«, setzte er leise und in vertraulicher Freundschaft hinzu, »er hat ja auch noch seine Schulden von neulich bei mir. Na, bei unserm Soltau hat das nichts zu bedeuten!«

Sanders hemmte seinen Schritt plötzlich, mit einem Ruck. Er fühlte es kalt über seinen Rücken laufen. Hastig riß er seinen Arm aus dem Mohls, ließ den stehen, wo er stand, rannte mitten über die flimmernd belebte Straße. Über einen großen Hund, der ihm wie eine gelbe Kugel durch die Beine schoß, fiel er beinahe, raffte sich wieder auf, sprang in sein Automobil und konnte dem Chauffeur nur noch zukeuchen: »Margaretenstraße!«

Dann saß er atemlos und schweißtriefend im dahinflitzenden Wagen, der Wind strich durch sein flatterndes Haar. Und er murmelte: »Spielschulden? – Er ist es doch – er ist es doch! Dieser Verbrecher!«


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