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X.
Geständnisse

Soltau war frei. Sanders hatte es durchgesetzt, daß man sehr rasch und diskret bei einigen Teilnehmern jener lustigen Nachtgesellschaft im Restaurant Riche Erkundigungen einzog, so daß das Alibi für Soltau nachgewiesen werden konnte. Es ergab sich die vollkommene Unwahrscheinlichkeit einer Schuld Soltaus, und seine Entlassung aus der Haft wurde sofort verfügt.

Sanders holte ihn aus dem Gefängnis ab. Sie fuhren mitten durch die belebten Straßen Berlins, durch das Grün des Tiergartens, und voll Seligkeit trank Soltau in durstigen Zügen die Luft, die um die saftig prangenden Bäume des Tiergartens einen blauen Schleier mit den weißen Tupfen der Nachmittagswölkchen schlang.

Noch war Soltau in sehr geschwächter Verfassung. Mit abgehärmtem Gesicht saß er schlaff in den Fond des Wagens zurückgelehnt da und starrte in den Nachmittagshimmel.

»Wie wird Cecily sich freuen, wenn sie dich wiedersieht!« unterbrach Sanders seine Träumereien.

Soltau fuhr aus seiner Versunkenheit auf: »Cecily? – Weißt du, Sanders«, sagte er langsam, »mir ist so, als hätte ich ein Unrecht begangen. Vielleicht waren diese Tage im Gefängnis nur eine Prüfung für mich – vielleicht eine Strafe dafür, daß ich in jener Nacht in der Weinlaune mich so weit vergessen konnte, ein fremdes Weib zu küssen!« Und er versank in ein selbstanklägerisches Grübeln.

Der Wagen war in der Königgrätzer Straße vor Soltaus Wohnung angekommen. Sie stiegen aus und gingen ins Haus.

Als Soltau die Wohnung öffnete, war das erste, das Sanders in die Augen fiel, ein großer, reisefertig gepackter Rohrplattenkoffer.

Er schlug Soltau auf die Schulter: »Du, was war das mit dem gepackten Koffer? Ich will dir offen sagen, diese Reisevorbereitungen haben nicht wenig Verdacht erregt!«

Aber wenn er gedacht hatte, daß Soltau ihm im gleichen scherzhaften Ton antworten würde, so hatte er sich geirrt.

Mit sehr ernstem Gesicht erwiderte Soltau: »Ja, es war ein tolles Zusammentreffen von unglücklichen Umständen. Ich kann dir mitteilen, daß ich alles abhängig für mich machte von Brandorffs Worten in der Auseinandersetzung, die ich, wie ich wußte, mit ihm haben würde. Und wenn jener seltsame Rauschzustand oder, wie du glaubst, jene Vergiftung nicht dazwischen gekommen, so wäre ich wirklich noch, glaube mir, in jener Nacht gefahren.«

»Nun, dem Himmel sei Dank, daß du es nicht tatest«, erwiderte Sanders. »Ich bin überzeugt, der Verdacht wäre so stark gegen dich gewesen, daß ich dich heute noch nicht freibekommen hätte. Sicherlich nicht; und ich könnte mich jetzt hier nicht so behaglich in deinem bequemen Sessel strecken und in aller Ruhe die Abendzeitung lesen, wie ich es jetzt tue, während ich erwarte, daß du, lieber Junge, dich in dieser Zeit wäschst, rasierst und umziehst! Es tut dir wirklich not. Adieu, mein Sohn, auf Wiedersehen bis nachher! Ich lese!« ...

Und behaglich lachend, lehnte er sich mit der Zeitung in der Hand zurück, während Soltau in dem Toilettenzimmer seiner eleganten Junggesellenwohnung verschwand. Aber wer Sanders genau kannte, der wußte, daß das Lachen bei ihm diesmal nur gemacht war. Als die Tür sich hinter Soltau geschlossen hatte, versank er in tiefes Grübeln.

Die Tatsache ließ nicht ab, seinen Geist zu beschäftigen, die Tatsache, die ihm immer klarer wurde: daß Soltau sich in einem narkotischen Zustande befunden hatte, nachdem er mit seinen Bekannten und der Frau v. Zemlinska, der Freundin Mohls, bei »Riche« zusammen gewesen war.

*

Als Soltau sich mit Sanders auf den Weg zu Cecily machte, war er kaum wiederzuerkennen. Frisch und sorgfältig gekleidet, wie in früherer Zeit, stand er da, heiter, fast strahlend vor Freude über seinen eigenen neuen Menschen. Nur die ausgestandenen Qualen der letzten Tage hatten eine bleiche Farbe auf seinem Gesicht zurückgelassen, die sich nicht so leicht überwinden ließ.

Als sie ins Haus Brandorff traten, kam ihnen Cecily völlig unvorbereitet entgegen.

»Erich!« rief sie in höchster freudiger Überraschung. Und er konnte nur das eine Wort hervorbringen: »Cecily!« Beider Gesichter färbte ein glühendes Rot.

Sanders hielt es für geraten, sich zu verabschieden, unter dem Vorwande, er wolle im Bibliothekzimmer ein Buch einsehen. Und er verschwand auf der Treppe.

Die beiden gingen, fast als ob dies so sein müsse, Hand in Hand in den Garten hinaus. Als sie den Vorhof überschritten hatten, klappte hinter ihnen das rostige, alte Eisentor des Gartens zu, als wenn es wüßte, daß die beiden allein sein wollten.

Cecily fiel das lange Schweigen Soltaus auf. Sie sah ihn an und war aufs höchste betroffen von seinem fast schmerzverzerrten Gesicht.

»Was hast du, Erich?« fragte sie mild. »Oh, nichts, laß nur!« versuchte er sie zu beschwichtigen. Doch sie ließ sich nicht abweisen: »Nein, dich quält etwas, Erich, ich sehe es genau!«

»Oh«, sagte er mit heiserer Stimme, »nichts, es ist wirklich nichts!«

»Du bist verstockt, Erich. Geh', sprich doch zu mir! Du weißt doch, daß du mir alles sagen kannst.« Und sie legte ihm sanft die Hand auf die Schulter. »Sprich ruhig zu mir, vertraue dich mir an. Was ist es denn, das dich quält?«

Soltau stieß nur das eine Wort hervor: »Du!«

»Ich?«

»Ja, du!« Und es war um seine Selbstbeherrschung geschehen. Mit einer Heftigkeit, die ihn selbst erschreckte, packte er ihre beiden Hände und rief: »Cecily, Cecily, weißt du es denn noch immer nicht? Du bist es, die ich meine, du bist es, die mich quält! Denn ich liebe dich maßlos, ohne Ende. Erst in den letzten Tagen ist es mir klar geworden, wie sehr! Mein Selbst, mein alles, die ganze Welt möchte ich darum geben, um dich zu gewinnen. Nichts wäre mir zu schwer, nichts zu gewaltig, das ich nicht für dich erreichen könnte! Alles gäbe ich um deine Liebe, selbst mein Leben!« Mit rasender Wucht stieß er seine Worte hervor, zitternd vor Erwartung, wie im Fieber. Kaum wagte er den Blick auf ihr Gesicht zu richten, in ungeheuerster Angst vor ihrer Antwort. Doch als er sie jetzt ansah, da gewahrte er, wie ein liebliches Rot auf ihren Wangen lag. Sie blickte ihm voll ins Gesicht, mit einem unnennbar glücklichen Ausdruck, und sagte nur: »Erich, ich hab' dich lieb!«

Ihre Hände fanden sich. Selig sahen sie sich in die Augen. Da beugte er sich über sie und küßte sie innig und lange. Noch kaum hatten sie einige Worte über ihr junges Glück gewechselt, als Soltau plötzlich verstummte. Ein schwarzer Schatten huschte über sein Gesicht.

»Was hast du, Liebster?« fragte Cecily.

»Ach, nichts, nichts«, sagte er ausweichend.

»Willst du es mir nicht vertrauen?« bat sie.

»Ich kann es dir nicht sagen. Es war ein Rausch, ein Wahnsinn ... die Überrumpelung eines unbegreiflichen Augenblicks!«

»Du machst mir Angst, Erich!«

Soltau schwieg. Düster vor sich hinblickend, griff er an seine Stirne, als wollte er böse Gedanken wegwischen.

»Was war es denn, Erich?« fragte Cecily dringend, zärtlich. »Ein Unrecht gegen dich – in einem unseligen Augenblick.«

»Gegen mich?« meinte sie erstaunt.

»Ja«, sagte er entschlossen, »ich will es dir nicht verbergen. Ich weiß noch immer nicht, wie es geschehen konnte. Ich war da – ganz gegen meinen Willen – in eine Gesellschaft hineingeraten. Herr von Mohl« –

»Herr von Mohl?« wiederholte sie mit erschrecktem Blick.

»Ja ... und auch andere ... und auch eine Frau von Zemlinska. Wir tranken, und plötzlich fühlte ich mich wie betäubt – wie ausgetauscht – als wäre ich gar nicht ich! Alles brannte in mir, mein Blut kochte und hämmerte in den Schläfen, und neben mir saß Frau von Zemlinska und plauderte und lachte mich an. Dann stand sie auf – ich glaube, sie zog mich mit den Blicken mit sich, und ich ging ihr nach ... In einer Nische, es war da dunkler – blieb sie stehen und blickte mich mit ihren Augen an ... Und ich weiß nicht, wie es über mich kam ... ich ... küßte sie!«

»Du ... du ... küßtest sie? – Diese Frau!« rief Cecily fassungslos.

»Cecily, liebe Cecily – Verzeihung!« flehte er beschämt.

»Nein«, rief sie empört, »wie konntest du! ... O pfui! Geh' jetzt, geh' nur! Geh' zu diesem Weibe!« ... Und ohne auf seine Rufe zu hören, eilte sie davon und ließ ihn in Bestürzung und Trauer zurück.

Sie fühlte sich in ihren Gefühlen schwer verletzt. Während sie sein Bild in der Seele trug, während sie nur darauf wartete, von ihm ein Wort der Liebe zu hören, hatte er eine andere geküßt! – Und danach hatte er ihr von seiner Liebe gesprochen!

Und wer war die andere? Die Freundin jenes Menschen, der ihr, kaum, daß sie ihn gesehen hatte, in tiefster Seele verhaßt war, jene Frau von Zemlinska, die sie an jenem Abend vor dem Westen-Klub im Wagen gesehen hatte.

Cecily weinte fast vor innerer Wut.

Doch nicht lange hatte sie Zeit, ihrem Schmerz freien Lauf zu lassen. Lautes Geräusch drang aus dem Hause an ihr Ohr. Sie hörte aufgeregtes Gehen und Kommen, Leute liefen hin und her, die hastig durcheinandersprachen. Sie unterschied eine Stimme: »Leiser doch zum Teufel, nehmt doch Rücksicht!« Eine andere Stimme – sie erkannte die des alten Portiers – fragte aufgeregt: »Wo ist denn um Gottes willen nur das gnädige Fräulein?«

Cecily runzelte die Stirn. Was war das? Was ging da vor?

Doch als sie in den Hausflur kam, war keine Menschenseele zu sehen. Aber oben im ersten Stockwerk hörte sie unruhig hin und her gehen. Was war denn nur geschehen?

Als sie die Treppe emporstieg, sagte gerade Sanders' helles, scharfes Organ: »Aber man muß zuerst Fräulein Cecily holen!«

In erregter Hast sprang sie die Stufen empor. Mit klopfendem Herzen riß sie die Tür zum Vorsaal auf. Niemand war zu sehen. Die beiden Türen der Galerie waren geöffnet. Sie lief hindurch und war in der Bibliothek. Die Tür zum Fremdenzimmer stand weit offen. Drinnen waren viele Leute, unbekannte Gesichter, darunter ein Droschkenkutscher.

Fragend sah sie sich um: »Ich hörte meinen Namen rufen – was soll ich? – Was wollen diese fremden Leute hier?« sagte sie befremdet, in höchster Unruhe.

Doch niemand antwortete ihr. Ein unheimliches Schweigen herrschte im Zimmer.

Alle wichen respektvoll zurück und ließen einen Gang von der Tür zum Himmelbett frei. Cecilys Blick fiel aufs Bett: Herrgott – was war das? Aber nein, es war ja nicht möglich! Das Gesicht eines Greises lag auf den Kissen, und auf der Decke suchte eine zitternde Hand herum.

Cecily stürzte zum Bett, und in Jubeln und Weinen schluchzte sie völlig fassungslos: »Mein Vater – mein Vater!«

Im Bett lag der alte Brandorff!


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