Joseph Roth
Die Kapuzinergruft
Joseph Roth

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XXXIII

In den ersten Tagen des Monats Februar starb meine Mutter. Sie starb so, wie sie gelebt hatte: nobel und still. Dem Priester, der gekommen war, um ihr die letzte Ölung zu geben, sagte sie: »Machen Sie schnell, Hochwürden! Der liebe Gott hat nicht so viel Zeit, wie die Kirche sich zuweilen einbildet.« Der Priester machte es in der Tat sehr schnell. Dann ließ meine Mutter mich kommen. Sie lallte nicht mehr. Sie sprach geläufig wie in alten Zeiten, als wäre ihre Zunge niemals gelähmt gewesen. – »Wenn du jemals Elisabeth wiedersiehst«, so sagte sie zu mir, »aber ich glaube, es wird nicht passieren, so sage ihr, daß ich sie niemals habe leiden mögen. Ich sterbe, aber ich halte nichts von jenen frommen Menschen, die im Sterben lügen und edelmütig werden. Jetzt bring mir deinen Sohn, damit ich ihn noch einmal sehe.« Ich ging hinunter, ich brachte meinen Sohn, groß und ziemlich schwer war er schon, ich freute mich über sein Gewicht, wie ich ihn so die Stufen hinauftrug. Meine Mutter umarmte, küßte ihn und gab ihn mir zurück.

»Schick ihn weg«, sagte sie, »weit fort! Hier soll er nicht aufwachsen. Geh weg!« fügte sie hinzu, »ich will allein sterben.« Sie starb noch in der gleichen Nacht, es war die Nacht der Revolution. Die Schüsse knallten durch die nächtliche Stadt, und Chojnicki erzählte uns beim Abendessen, daß die Regierung auf die Arbeiter schieße. – »Dieser Dollfuß«, so sagte Chojnicki, »will das Proletariat umbringen. Gott strafe mich nicht: ich kann ihn nicht leiden. Es liegt in seiner Natur, sich selbst zu begraben. Das hat die Welt noch nicht gesehen!...« Als meine Mutter begraben wurde, am Zentralfriedhof, zweites Tor, schoß man immer noch in der Stadt. Alle meine Freunde, das heißt alle unsere Pensionäre, begleiteten meine Mutter und mich. Es hagelte, genauso wie in jener Nacht, in der ich heimgekehrt war. Es war der gleiche böse, körnige Regen.

Wir begruben meine Mutter um zehn Uhr vormittags.

Als wir aus dem zweiten Tor des Zentralfriedhofs hinaustraten, erblickte ich Manes Reisiger. Hinter einem Sarg schritt er einher, und ohne ihn zu fragen, gesellte ich mich zu ihm. Zum dritten Tor führte man den Sarg, in die israelitische Abteilung.

Ich stand vor dem offenen Grabe. Nachdem der Rabbiner sein Gebet gesprochen hatte, trat Manes Reisiger vor und sagte: »Gott hat ihn gegeben, Gott hat ihn genommen, gelobt sei Sein Name in Ewigkeit. Der Minister hat Blut vergossen, und auch sein Blut wird vergossen werden. Fließen wird es wie ein reißender Strom.« – Man versuchte, Manes Reisiger zurückzuhalten, aber er fuhr fort, mit starker Stimme: »Wer tötet«, so sagte er »wird getötet. Gott ist groß und gerecht.« –

Hierauf brach er zusammen. Wir führten ihn abseits, indes sein begabter Sohn Ephraim begraben wurde. Er war ein Rebell, er hatte geschossen und war getötet worden.

Joseph Branco kam noch von Zeit zu Zeit in unser Haus. Er hatte kein anderes Interesse mehr als seine Maroni. Sie waren faul in diesem Jahr, wurmig, und er, Joseph Branco, konnte nur noch gebratene Apfel verkaufen.

Ich verkaufte das Haus. Ich behielt nur noch die Pension.

Es war, als hätte der Tod meiner Mutter alle meine Freunde aus unserem Haus vertrieben. Sie zogen fort, einer nach dem anderen. Wir trafen uns nur noch im Café Wimmerl.

Mein Sohn allein lebte noch für mich. »Wer tötet«, sagte Manes Reisiger, »wird getötet.«

Ich kümmerte mich nicht mehr um die Welt. Meinen Sohn schickte ich zu meinem Freund Laveraville nach Paris.

Allein blieb ich, allein, allein, allein.

Ich ging in die Kapuzinergruft.


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