Joseph Roth
Die Kapuzinergruft
Joseph Roth

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XVIII

Sechzehn Stunden! Seit mehr als drei Jahren liebte ich Elisabeth, aber die vergangenen drei Jahre erschienen mir kurz im Verhältnis zu den sechzehn Stunden, obwohl es doch umgekehrt hätte sein sollen. Das Verbotene ist raschlebig, das Erlaubte hat von vornherein in sich schon die Dauerhaftigkeit. Außerdem schien mir auf einmal Elisabeth zwar noch nicht verändert, aber bereits auf dem Weg zu irgendeiner Veränderung. Und ich dachte an meinen Schwiegervater und fand auch ein paar Ähnlichkeiten zwischen ihr und ihm. Ein paar ihrer ganz bestimmten Handbewegungen waren sichtbarlich vom Vater ererbt, ferne und verfeinerte Echos der väterlichen Bewegungen. Einige ihrer Handlungen auf der Fahrt in der elektrischen Bahn nach Baden beleidigten mich beinahe. So zog sie zum Beispiel kaum zehn Minuten, nachdem sich die Bahn in Bewegung gesetzt hatte, ein Buch aus dem Köfferchen. Es lag neben dem Toilettenetui über der Wäsche – ich dachte an Brauthemd –, und die Tatsache allein, daß ein gleichgültiges Buch auf einem nahezu sakramentalen Gewand liegen durfte, erschien mir würdelos. Es waren übrigens gesammelte Skizzen eines jener norddeutschen Humoristen, die damals zugleich mit unserer Nibelungentreue, mit dem Deutschen Schulverein, mit den Hochschuldozenten aus Pommern, Danzig, Mecklenburg und Königsberg in Wien ihre verregnete Heiterkeit spazierenführten und ihr strapaziöses Behagen zu verbreiten begannen. Elisabeth sah von Zeit zu Zeit aus dem Buch auf, blickte mich an, schaute eine Weile zum Fenster hinaus, unterdrückte ein Gähnen und las weiter. Auch hatte sie eine Art, die Knie übereinanderzuschlagen, die mir geradezu indezent vorkam. Ob das Buch ihr gefalle, fragte ich sie. »Humorvoll!« entschied sie schlankweg. Sie reichte mir das Buch, damit ich selbst prüfe. Ich begann, eine der törichten Geschichten in der Mitte zu lesen, es war die Rede von dem goldigen Humor Augusts des Starken und von einer Beziehung zu einer seiner fürwitzigen Hofdamen. Die zwei Eigenschaftswörter, für mein Gefühl durchaus bezeichnend für preußische und sächsische Seelen, sobald sie sich in Sonntagsrast befinden, genügten mir. Ich sagte: »Ja, goldig und fürwitzig!« Elisabeth lächelte und las weiter. Wir gingen ins Hotel »Zum goldenen Löwen«. Unser alter Diener wartete, der einzige, der von unserm Badener Plan wußte. Er gestand mir sofort, daß er ihn meiner Mutter verraten hatte. Er stand da, an der Endstation der Elektrischen, den steifen Halbzylinder in der Hand, den er von meinem Vater geerbt haben mochte, und überreichte meiner Frau einen Strauß dunkelroter Rosen. Er hielt den Kopf gesenkt, in seinem blanken Scheitel spiegelte sich die Sonne wie ein Sternchen, ein silbernes Körnchen. Elisabeth war still. Wenn sie doch nur ein Wort fände! dachte ich. Nichts erfolgte. Die stumme Zeremonie dauerte unendlich lange. Unsere beiden Köfferchen standen auf dem Trottoir. Elisabeth drückte die Rosen mitsamt ihrer Handtasche an die Brust. Der Alte fragte, womit er uns noch dienen könne. Er hatte auch herzliche Grüße von meiner Mutter auszurichten. Mein Koffer, meine zweite Uniform, meine Wäsche seien schon im Hotel. »Ich danke dir!« sagte ich. Ich merkte, wie Elisabeth ein wenig zur Seite wich. Dieses Ausweichen, ja Abrücken reizte mich. Ich sagte: »Begleite uns zum Hotel! Ich möchte noch mit dir sprechen!« – »Zu Befehl!« sagte er, hob die Köfferchen und folgte uns.

»Ich möchte noch mit dem Alten sprechen!« sagte ich zu Elisabeth. »In einer halben Stunde!«

Ich ging mit Jacques ins Kaffeehaus. Er hielt den Halbzylinder auf den Knien, ich nahm ihn sachte weg und legte ihn auf den Stuhl nebenan. Aus den fernen, blaßblauen, etwas feuchten Greisenaugen strömte mir die ganze Zärtlichkeit Jacques' entgegen, und mir war, als hätte meine Mutter in seine Augen eine letzte mütterliche Botschaft für mich gelegt. Seine gichtigen Hände (ich hatte sie lange nicht nackt, sondern nur in weißen Handschuhen gesehen) zitterten, als sie die Kaffeetasse hoben. Es waren alte, gute Dienerhände. Warum hatte ich sie niemals beachtet? Die blauen Knötchen saßen auf den gekrümmten Fingergelenken, die Nägel waren flach, stumpf und vielfach gespalten, der Knochen am Gelenk seitwärts verschoben und schien widerwillig den steifen Rand der altmodischen Manschettenrollen zu ertragen, und unzählige Äderchen, blaßblau, bahnten sich, winzigen Flüssen gleich, mühsame Wege unter der rissigen Haut des Handrückens.

Wir saßen im Garten des Cafés Astoria. Ein welkes goldenes Kastanienblatt wirbelte langsam auf den kahlen Schädel Jacques', er fühlte es nicht, seine Haut war eben alt und unempfindlich geworden, ich ließ das Blatt dort liegen. »Wie alt bist du?« fragte ich. »Achtundsiebzig, junger Herr!« antwortete er, und ich sah einen einzigen, großen gelben Zahn unter seinem dichten schneeigen Schnurrbart. »Ich sollte eigentlich in den Krieg ziehen, nicht die Jungen!« fuhr er fort. »Im Jahre 66 war ich dabei, gegen die Preußen, bei den Fünfzehnern.« – »Wo bist du geboren?« fragte ich. »In Sipolje!« sagte Jacques. »Kennst du die Trottas?« – »Freilich, alle, alle!« – »Sprichst du noch Slowenisch?« – »Hab' ich vergessen, junger Herr!«

»In einer halben Stunde!« hatte ich Elisabeth gesagt. Ich zögerte, nach der Uhr zu sehen. Es mochte wohl schon mehr als eine Stunde verflossen sein, aber die blassen, alten Augen Jacques', in denen sein Herzweh wohnte und das meiner Mutter, wollte ich nicht entbehren. Es war mir, als hätte ich jetzt die dreiundzwanzig leichtfertig und lieblos verbrachten Jahre meines Lebens wettzumachen, innerhalb einer Stunde, und statt wie sonst ein Jungvermählter die sogenannte neue Existenz anzufangen, bestrebte ich mich, vielmehr die verflossene zu korrigieren. Am liebsten hätte ich wieder bei der Geburt angefangen. Es war mir klar, daß ich das Wichtigste versäumt hatte. Zu spät. Ich stand vor dem Tod und vor der Liebe. Einen Augenblick – ich gestehe es – dachte ich sogar an ein schändliches, schmähliches Manöver. Ich konnte Elisabeth eine Nachricht schicken, daß ich sofort wegmüsse, ins Feld, glattweg. Ich konnte es ihr auch sagen, sie umarmen, Trostlosigkeit, Verzweiflung spielen. Es war nur die Wirrnis einer kurzen Sekunde. Ich hatte sie sofort überwunden. Ich verließ das Astoria. Treulich, einen halben Schritt hinter mir, ging Jacques.

Knapp vor dem Eingang zum Hotel, gerade als ich mich umwenden wollte, um mich von Jacques endgültig zu verabschieden, hörte ich ihn röcheln. Ich wandte mich halb um und breitete die Arme aus. Der Alte sank an meine Schulter. Sein Halbzylinder kollerte hart über die Steine. Der Portier trat heraus. Jacques war ohnmächtig. Wir trugen ihn in die Halle. Ich bestellte den Arzt und lief hinauf, Elisabeth zu verständigen.

Sie saß immer noch über ihrem Humoristen, trank Tee und schob kleine Scheibchen Toast mit Marmelade in ihren lieben roten Mund. Sie legte das Buch auf den Tisch und breitete die Arme aus. »Jacques«, begann ich, »Jacques ...« und stockte. Ich wollte das fürchterlich entscheidende Wort nicht aussprechen. Um den Mund Elisabeths aber züngelte ein lüsternes und gleichgültiges und frohgemutes Lächeln, das ich in diesem Augenblick mit einem makabren Wort allein verscheuchen zu können glaubte – und also sagte ich: »Er stirbt!« Sie ließ die ausgebreiteten Arme fallen und antwortete nur: »Er ist alt!«

Man holte mich, der Arzt war gekommen. Der Alte lag schon in seinem Zimmer im Bett. Sein steifes Hemd hatte man ihm ausgezogen. Über seinem schwarzen Gehrock hing es, ein glänzender Panzer aus Leinen. Die gewichsten Stiefel standen wie Wachtposten am Fußende des Bettes. Die Socken aus Wolle, vielfach gestopft, lagen schlaff neben den Stiefeln. Soviel bleibt übrig von einem einfachen Menschen. Ein paar Knöpfe aus Messing auf dem Nachttisch, ein Kragen, eine Krawatte, Stiefel, Socken, Gehrock, Hose, Hemd. Die alten Füße mit den verkrümmten Zehen lugten unter dem unteren Deckenrand hervor. »Schlaganfall!« sagte der Doktor. Er war eben einberufen worden, Oberarzt, schon in Uniform. Morgen sollte er zu den Deutschmeistern. Unsere vorschriftsmäßige gegenseitige militärische Vorstellung nahm sich neben diesem Sterbenden aus wie die Inszenierung eines Theaterstücks in Wiener Neustadt etwa. Wir schämten uns beide.

»Stirbt er?« fragte ich. »Ist es dein Vater?« fragte der Oberarzt. »Unser Diener!« sagte ich. Ich hätte lieber mein Vater gesagt. Der Doktor schien es bemerkt zu haben. »Er stirbt wahrscheinlich«, sagte er. »In dieser Nacht?« Er hob fragend die Arme.

Der Abend war hurtig hereingebrochen. Man mußte Licht machen. Der Doktor gab Jacques eine Kardiazolspritze, er schrieb Rezepte, klingelte, schickte nach der Apotheke. Ich schlich mich aus dem Zimmer. So schleicht ein Verräter, dachte ich. Ich schlich auch noch die Treppe zu Elisabeth empor, als fürchtete ich, jemanden zu wecken. Elisabeths Zimmer war geschlossen. Das meine lag daneben. Ich klopfte. Ich versuchte zu öffnen. Auch die Verbindungstür hatte sie abgeschlossen. Ich überlegte, ob ich Gewalt anwenden sollte. Aber im gleichen Augenblick wußte ich ja auch schon, daß wir uns nicht liebten. Ich hatte zwei Tote: Die erste war meine Liebe. Sie begrub ich an der Schwelle der Verbindungstür zwischen unseren zwei Zimmern. Dann stieg ich ein Stockwerk tiefer, um Jacques sterben zu sehen.

Der gute Doktor war immer noch da. Er hatte den Säbel abgeschnallt und die Bluse aufgeknöpft. Es roch nach Essig, Äther, Kampfer im Zimmer, und durch die offenen Fenster strömte der feuchte, welke Duft des abendlichen Herbstes. Der Oberarzt sagte: »Ich bleibe hier« – und drückte mir die Hand. Ich schickte meiner Mutter ein Telegramm, daß ich unseren Diener bis zu meiner Abreise noch zurückhalten müsse. Wir aßen Schinken, Käse, Äpfel. Wir tranken zwei Flaschen Nußdorfer.

Der Alte lag da, blau, sein Atem ging wie eine rostige Säge durchs Zimmer. Von Zeit zu Zeit bäumte sich sein Oberkörper, seine verkrümmten Hände zerrten an der dunkelroten, gesteppten Decke. Der Doktor feuchtete ein Handtuch an, spritzte Essig darauf und legte es dem Sterbenden auf den Kopf. Zweimal stieg ich die Treppe zu Elisabeth empor. Das erstemal blieb alles still. Das zweitemal hörte ich sie laut schluchzen. Ich klopfte stärker. »Laß mich!« rief sie. Ihre Stimme drang wie ein Messer durch die geschlossene Tür.

Es mochte gegen drei Uhr morgens gewesen sein, ich hockte am Bettrand Jacques', der Doktor schlief, ohne Rock, den Kopf in die Hemdärmel gebettet, über dem Schreibtisch. Da erhob sich Jacques mit ausgestreckten Händen, öffnete die Augen und lallte etwas. Der Doktor erwachte sofort und trat ans Bett. Jetzt hörte ich Jacques' alte, klare Stimme: »Bitte, junger Herr, der gnädigen Frau sagen lassen, ich komme morgen früh zurück.« Er fiel wieder in die Kissen. Sein Atem besänftigte sich. Seine Augen blieben starr und offen, es war, als brauchten sie keine Lider mehr. »Jetzt stirbt er«, sagte der Doktor, gerade in dem Augenblick, in dem ich entschlossen war, wiederum zu Elisabeth hinaufzugehen.

Ich wartete. Der Tod schien sich dem Alten nur äußerst sorgsam zu nähern, väterlich, ein wahrer Engel. Gegen vier Uhr morgens wehte der Wind ein welkes, gelbes Kastanienblatt durch das offene Fenster. Ich hob es auf und legte es Jacques auf die Bettdecke. Der Doktor legte mir den Arm um die Schulter, beugte sich dann über den Alten, horchte, nahm die Hand und sagte: »Ex!« Ich kniete nieder und bekreuzigte mich, zum erstenmal nach vielen, vielen Jahren.

Kaum zwei Minuten später klopfte es. Der Nachtportier brachte mir einen Brief. »Von der Gnädigen!« sagte er. Das Kuvert war nur halb zugeklebt, es öffnete sich gleichsam von selbst. Ich las nur eine Zeile: »Adieu! Ich geh' nach Haus. Elisabeth.« Ich gab dem fremden Doktor den Zettel. Er las ihn, sah mich an und sagte: »Ich verstehe!« Und nach einer Weile: »Ich ordne schon alles, mit Hotel und Bestattung und Frau Mama. Ich bleibe ja vorläufig in Wien. Wohin gehst du heut?« – »Nach dem Osten!« – »Servus!«

Ich habe den Doktor nie wiedergesehen. Ich habe ihn auch nie vergessen. Er hieß Grünhut.


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