Joseph Roth
Die Kapuzinergruft
Joseph Roth

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XXX

In unserm Hause schlief ich nun, an der Seite meiner Frau. Es erwies sich bald, daß sie einen ausgeprägten Sinn für die sogenannte Häuslichkeit besaß. Sie war geradezu von Ordner- und Sauberkeitswahn besessen, wie viele Frauen. Mit dieser verhängnisvollen Neigung verwandt war auch ihre Eifersucht. Damals erfuhr ich zum erstenmal, warum die Frauen Häuser und Wohnungen mehr lieben als ihre Männer. Sie bereiten also, die Frauen, die Nester für die Nachkommenschaft zuerst. Sie spinnen mit unbewußter Tücke den Mann in ein nicht zu entwirrendes Netz von kleinen, täglichen Pflichten ein, denen er nicht mehr entrinnen wird. In unserm Hause schlief ich nun, an der Seite meiner Frau. Mein Haus war's. Meine Frau war sie.

Ja! Das Bett wird ein verschwiegenes Haus mitten im sichtbaren, offenen Hause, und die Frau, die uns darin erwartet, wird geliebt, einfach, weil sie da ist und vorhanden. Da ist sie und vorhanden, zu jeder Nachtzeit, wann immer man auch nach Hause kommt. Infolgedessen liebt man sie. Man liebt das Sichere. Man liebt insbesondere das Wartende, das Geduldige.

Wir hatten jetzt zehn Telephonapparate in unserm Haus und etwa ein Dutzend Klingeln. Ein halbes Dutzend Männer in blauen Blusen arbeitete an unseren Wasserleitungen. Für alle Installationen und für den Umbau unseres Hauses streckte der Doktor Kiniower das Geld vor. Für meine Mutter war er längst nicht mehr der Jude schlechthin. Er war zum »braven Menschen« avanciert.

Im Herbst bekamen wir einen unerwarteten Besuch: Es war mein Vetter Joseph Branco. Er kam des Morgens, genauso, wie er zum erstenmal eingetroffen war, und so, als ob gar nichts in der Zwischenzeit geschehen wäre; als hätten wir keinen Weltkrieg überstanden; als wäre er nicht mit Manes Reisiger und mir in der Gefangenschaft, bei Baranovitsch und später im Lager gewesen; als wäre unser Land nicht zerfallen: so kam er an, mein Vetter, der Maronibrater, mit seinen Kastanien, mit seinem Maulesel, schwarz von Haaren und Schnurrbart, braun von Angesicht und dennoch goldig leuchtend wie eine Sonne, wie jedes Jahr und als ob nichts geschehen wäre, war Joseph Branco hierhergekommen, um seine gebratenen Kastanien zu verkaufen. Sein Sohn war gesund und munter. Er ging in Dubrovnik zur Schule. Die Schwester war glücklich verheiratet. Der Schwager war seltsamerweise nicht gefallen.

 

Sie hatten zwei Kinder, zwei Buben: Zwillinge; und beide hießen sie, der Einfachheit halber: Branco.

Und was mit Manes Reisiger geschehen sei, fragte ich. – »Ja, das ist eine schwere Sache«, antwortete mein Vetter Joseph Branco. »Er wartet unten, er wollte nicht mit heraufkommen.«

Ich lief hinunter, um ihn zu holen. Ich erkannte ihn nicht sofort: Er hatte einen eisgrauen, wilden Bart. Er sah so aus wie der Winter, dargestellt in primitiven Märchenbüchern. Warum er nicht sofort heraufgekommen sei, fragte ich ihn. »Seit einem Jahr schon, Herr Leutnant«, antwortete er, »wollte ich Sie besuchen. Ich war in Polen, in Zlotogrod. Ich wollte wieder der Fiaker Manes Reisiger werden. Aber, was ist die Welt, was ein Städtchen, was ein Mensch, was gar ein Fiaker gegen Gott? Gott hat die Welt verwirrt, das Städtchen Zlotogrod hat er vernichtet. Krokus und Gänseblümchen wachsen dort, wo unsere Häuser gestanden haben, und meine Frau ist auch schon tot. Eine Granate hat sie zerrissen; wie andere Zlotogroder auch. Also bin ich nach Wien zurückgekommen. Hier ist wenigstens mein Sohn Ephraim.«

Jawohl! Sein Sohn Ephraim! Ich erinnerte mich wohl an den Wunderknaben und wie ihn Chojnicki in die Musikakademie gebracht hatte.

»Was macht er jetzt?« fragte ich Manes, den Fiaker.

»Mein Ephraim ist ein Genie«, antwortete der alte Fiaker. »Er spielt nicht mehr! Er hat es nicht nötig, sagt er. Er ist Kommunist. Redakteur der ›Roten Fahne›. Er schreibt prächtige Artikel. Hier sind sie.«

Wir gingen in mein Zimmer. Der Fiaker Manes Reisiger hatte alle Artikel seines genialen Sohnes Ephraim in der Tasche, einen ansehnlichen Packen. Er verlangte von mir, daß ich sie ihm vorlese. Ich las einen nach dem andern mit lauter Stimme vor. Elisabeth kam aus dem Zimmer, später versammelten sich bei mir, wie gewöhnlich an jedem Nachmittag, auch unsere Pensionäre, meine Freunde. – »Ich darf eigentlich nicht in Wien bleiben«, sagte Manes Reisiger. »Ich habe eine Ausweisung.« – Sein Bart spreizte sich, sein Angesicht leuchtete. – »Mein Sohn Ephraim hat mir einen falschen Paß verschafft. Hier ist er.« – Er zeigte dabei seinen falschen österreichischen Paß, strich sich mit den Fingern durch den Bart und sagte: »Illegal!« und blickte stolz in die Runde.

»Mein Sohn Ephraim«, begann er wieder, »braucht nicht mehr zu spielen. Er wird Minister, wenn die Revolution kommt.«

Er war so überzeugt, daß die Weltrevolution kommen würde, wie von der Tatsache, daß jede Woche im Kalender ein rotgedruckter Sonntag verzeichnet stand.

»In diesem Jahr sind die Kastanien schlecht geraten«, sagte mein Vetter Joseph Branco. »Auch sind viele wurmig. Ich verkaufe jetzt gebratene Äpfel als Maroni.«

»Wie seid ihr überhaupt herausgekommen?« fragte ich.

»Gott hat geholfen!« erwiderte der Fiaker Manes Reisiger. »Man hat das Glück gehabt, einen russischen Korporal zu töten. Joseph Branco hat ihm ein Bein gestellt und einen Stein auf den Kopf geschlagen. Dann zog ich mir seine Uniform an, nahm sein Gewehr und führte Joseph Branco bis nach Shmerinka. Und da war die Okkupationsarmee, Branco meldete sich sofort. Er hat auch noch kämpfen müssen. Ich bin bei einem guten Juden geblieben, in Zivil. Branco hat die Adresse gehabt. Und wie der Krieg aus war, ist er zu mir gekommen.«

»Prächtige Armee!« rief Chojnicki, der eben ins Zimmer getreten war, um, wie jeden Tag, Kaffee mit mir zu trinken. – »Und was macht Ihr Sohn Ephraim, der Musiker?«

»Er braucht keine Musik mehr«, antwortete Manes Reisiger, der Fiaker, »er macht die Revolution.«

»Wir haben schon ein paar«, sagte Chojnicki. »Nicht, daß Sie glauben, ich hätte etwas dagegen! Aber die Revolutionen von heute haben einen Fehler: Sie gelingen nicht. Ihr Sohn Ephraim wäre vielleicht besser bei der Musik geblieben!«

»Man braucht jetzt ein Visum für jedes Land extra!« sagte mein Vetter Joseph Branco. »Zeit meines Lebens hab' ich so was nicht gesehn. Jedes Jahr hab ich überall verkaufen können: in Böhmen, Mähren, Schlesien, Galizien« – und er zählte alle alten, verlorenen Kronländer auf. »Und jetzt ist alles verboten. Und dabei hab' ich einen Paß. Mit Photographie.« Er zog seinen Paß aus der Rocktasche und hielt ihn hoch und zeigte ihn der ganzen Runde.

»Dies ist nur ein Maronibrater«, sagte Chojnicki, »aber sehn Sie her: es ist ein geradezu symbolischer Beruf. Symbolisch für die alte Monarchie. Dieser Herr hat seine Kastanien überall verkauft, in der halben europäischen Welt, kann man sagen. Überall, wo immer man seine gebratenen Maroni gegessen hat, war Österreich, regierte Franz Joseph. Jetzt gibt's keine Maroni mehr ohne Visum. Welch eine Welt! Ich pfeif auf eure Pension. Ich gehe nach Steinhof, zu meinem Bruder!«

Meine Mutter kam, man hörte ihren harten Stock schon auf der Treppe. Sie hielt es für schicklich, jeden Nachmittag pünktlich um fünf Uhr in unserem Zimmer zu erscheinen. Bis jetzt hatte kein einziger unserer Pensionäre etwas gezahlt. Einmal hatte Chojnicki, ein zweitesmal hatte Szechenyi einen schüchternen Versuch gemacht, ihre Rechnungen zu verlangen. Meine Mutter hatte ihnen darauf gesagt, daß der Hausmeister die Rechnungen mache. Aber es stimmte nicht. Es war eigentlich die Aufgabe Elisabeths. Sie nahm Geld von dem und jenem entgegen, wie es sich traf, und sie bestritt unsere Auslagen, wie es sich traf. Die Klingeln schrillten den ganzen Tag. Wir hatten nunmehr zwei Mädchen. Sie liefen wie die Wiesel drei Stockwerke auf und ab. Ringsum im ganzen Viertel hatten wir Kredit.

Meine Mutter freute sich über die Klingeln, die sie noch vernehmen konnte, den Lärm, den unsere Gäste veranstalteten, und den Kredit, den ihr Haus genoß. Sie wußte nicht, die arme, alte Frau, daß es gar nicht mehr ihr Haus war. Sie glaubte immer noch, es sei das ihrige, weil es in unserem Zimmer still wurde, wenn sie herunterkam, mit ihren weißen Haaren und ihrem schwarzen Stock. Heute erkannte sie Joseph Branco, und sie begrüßte auch Manes Reisiger. Sie war überhaupt, seitdem wir die Pension eröffnet hatten, leutselig geworden. Sie hätte auch Wildfremde willkommen geheißen. Sie wurde nur immer schwerhöriger, und es schien, als vernichtete langsam das Gebrechen ihren Verstand, und zwar nicht etwa deshalb, weil das Gebrechen sie quälte, sondern deshalb, weil sie so tat, als störe es sie nicht, und weil sie es verleugnete.


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