Joseph Roth
Die Kapuzinergruft
Joseph Roth

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XVI

Ich mußte nun Chojnickis Freund, den Oberstleutnant Stellmacher vom Kriegsministerium, besuchen. Meine Transferierung zur Landwehr 35 sollte nicht länger dauern als etwa die Vorbereitungen für meine Trauung. Es war mir lieb, daß ich zwei verschiedene und auch verwirrende Demarchen fast gleichzeitig unternehmen durfte. Eine beschleunigte gleichsam die andere. Beide betäubten mich geradezu, verhinderten mich jedenfalls zugleich, meine Hast mit entscheidenden Gründen zu rechtfertigen. Ich wußte in jenen Stunden nichts anderes, als daß eben »alles schnell gehen müsse«. Ich wollte auch nicht ganz genau wissen, warum und zu welchen Zwecken. Aber tief in mir rieselte schon, feinem Regen ähnlich, den man durch den Schlaf vernimmt, die Ahnung, daß meine Freunde, Joseph Branco und Reisiger, irgendwo durch die schlammigen Landstraßen Ostgaliziens westwärts dahinzogen, von den Kosaken verfolgt. Wer weiß, vielleicht waren sie schon verwundet oder tot? Gut, dann wollte ich wenigstens ihr Andenken auf diese Weise ehren, daß ich in ihrem Regiment diente. Jung war ich, und auch vom Krieg hatten wir ja noch keine Ahnung! Wie leicht verfiel ich damals der Vorstellung, daß mir die Aufgabe zufalle, den braven Fünfunddreißigern von ihrem toten Kameraden Trotta und Reisiger wahre und auch ein wenig erfundene Anekdoten zu erzählen, damit man der beiden nie und nimmer vergesse. Gute, arme Bauern dienten bei den Fünfunddreißigern, Feldwebel mit ärarischem Deutsch, das ihren slawischen Muttersprachen angesetzt war wie die Distinktionen den Aufschlägen, goldgelbe Borten auf dunkelgrünen, winzigen Feldern, und die Offiziere waren nicht die verwöhnten Kinder unserer frohlebigen Wiener Gesellschaft, sondern Söhne von Handwerkern, Briefträgern, Gendarmen und Landwirten und Pächtern und Tabaktrafikanten. Unter ihnen aufgenommen zu werden war damals für mich ungefähr soviel, wie für den oder jenen unter ihnen etwa eine Transferierung zu den Neuner-Dragonern Chojnickis bedeuten mochte. Es war eine jener Vorstellungen gewiß, die man geringschätzig »romantisch« nennt. Nun, weit davon entfernt, mich etwa ihrer zu schämen, bestehe ich heute noch darauf, daß mir diese Zeit meines Lebens der romantischen Vorstellungen die Wirklichkeit nähergebracht hat als die seltenen unromantischen, die ich mir gewaltsam aufzwingen mußte: Wie töricht sind doch diese überkommenen Bezeichnungen! Will man sie schon gelten lassen – nun wohl: ich glaube, immer beobachtet zu haben, daß der sogenannte realistische Mensch in der Welt unzugänglich dasteht, wie eine Ringmauer aus Zement und Beton, und der sogenannte romantische wie ein offener Garten, in dem die Wahrheit nach Belieben ein und aus geht ...

Ich mußte also zum Oberstleutnant Stellmacher. In unserer alten Monarchie war eine Transferierung vom Heer zur Landwehr, auch nur von den Jägern zur Infanterie, eine Art militärischer Staatsakt, nicht schwieriger, aber verwickelter als die Besetzung eines Divisionskommandos. Dennoch bestanden in meiner verschollenen Welt, in der alten Monarchie eben, die kostbaren, die köstlichen, die ungeschriebenen, die unbekannten, unzugänglichen, den Eingeweihten wohlvertrauten Gesetze eherner und ewiger als die geschriebenen, die da besagten, daß von hundert Petenten lediglich bestimmte sieben günstig, schnell und geräuschlos ihre Wünsche erfüllt sehen sollten. Die Barbaren der absoluten Gerechtigkeit, ich weiß es, sind darüber heute noch empört. Sie schelten uns Aristokraten und Ästheten, jetzt noch; und ich sehe ja jede Stunde, wie sie, die Nicht-Aristokraten und Anti-Ästheten, den Barbaren der stupiden, plebejischen Ungerechtigkeit, ihren Brüdern, den Weg geebnet haben. Es gibt auch eine Drachensaat der absoluten Gerechtigkeit.

Aber ich hatte ja damals auch gar keine Lust und keine Muße nachzudenken, wie gesagt. Ich ging zum Stellmacher, geradewegs durch den Korridor, in dem Hauptleute, Majore, Oberste warteten, geradewegs durch jene Tür, auf der »Eintritt verboten« stand – ich, ein kümmerlicher, schmächtiger Fähnrich der Jäger. »Servus!« sagte Stellmacher, über Papieren gebeugt sitzend, bevor er mich noch erblickt hatte. Er wußte wohl, wie vertraulich man die Leute zu begrüßen hatte, die durch verbotene Eingänge hereingekommen waren. Ich sah seine harten grauen Borstenhaare, die gelbliche, tausendfach zerknitterte Stirn, die winzigen, tiefliegenden Augen, die keine Lider zu haben schienen, die hageren, knochigen Wangen und den großen, herabhängenden, schwarzgefärbten, fast sarazenischen Schnurrbart, in dem Stellmacher seine ganze Eitelkeit angesiedelt zu haben schien, damit sie ihn gleichsam nicht mehr sonst (weder im Leben noch im Beruf) noch störe. Das letztemal hatte ich ihn in der Konditorei Dehmel gesehen, am Nachmittag um fünf Uhr, mit dem Hofrat Sorgsam vom Ballhausplatz. Wir hatten noch nicht die geringste Ahnung vom Krieg, der Mai, der städtische Wiener Mai, schwamm in den kleinen, silbergeränderten »Schalen Gold«, schwebte über dem Gedeck, den schmalen, schwellend gefüllten Schokoladestangen, den rosa und grünen Cremeschnittchen, die an seltsame, eßbare Kleinodien erinnerten, und der Hofrat Sorgsam sagte, mitten in den Mai hinein: »Es gibt kan Krieg, meine Herren!« – Zerstreut sah jetzt der Oberstleutnant Stellmacher von seinen Papieren auf; er sah nicht einmal mein Gesicht, bemerkte nur Uniform, Portepee, Säbel, genug, um noch einmal »Servus!« zu sagen und gleich darauf: »Setz dich, ein Moment!« Schließlich sah er mich genau an: »Fesch bist du!« und »Hätt' dich nicht erkannt! In Zivil schaust halt etwas knieweich aus!« – Aber es war nicht die sonore, tiefe Stimme Stellmachers, die ich seit Jahren kannte – und auch sein Witz war gezwungen. Noch niemals vorher war ein leichtfertiges Wort aus Stellmachers Mund gekommen. Im glänzenden Gestrüpp des schwarzgefärbten Schnurrbarts hätte es sich sonst verfangen, um dort lautlos unterzugehen.

Ich trug schnell meine Angelegenheit vor. Ich versuchte auch zu erklären, weshalb ich zu den Fünfunddreißigern wollte. »Wenn du sie nur noch findest!« sagte Stellmacher. »Schlimme Nachrichten! Zwei Regimenter fast aufgerieben, Rückzug katastrophal. Unsere Herren Oberidioten haben uns schon präpariert. Aber gut! Geh hin, schau, daß du sie findest, deine Fünfunddreißiger! Kauf dir zwei Sterndl. Du wirst als Leutnant transferiert. Servus! Abtreten!« Er reichte mir die Hand über den Schreibtisch. Seine hellen, fast liderlosen Augen, von denen man nicht glaubte, daß sie jemals Schlaf, Schlummer, Müdigkeit unterjochen, sahen mich an, fern, fremd, aus einer gläsernen Weite, keineswegs traurig, nein, trauriger als traurig, nämlich hoffnungslos. Er versuchte zu lächeln. Sein großes falsches Gebiß schimmerte doppelt weiß unter seinem sarazenischen Schnurrbart. »Schreib mal eine Ansichtskarte!« sagte er und beugte sich wieder über die Papiere.


 << zurück weiter >>