Joseph Roth
Die Kapuzinergruft
Joseph Roth

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IV

Der Form halber, als Ausrede und um meine Mutter zu beruhigen, hatte ich Jus inskribiert. Ich studierte freilich nicht. Vor mir breitete sich das große Leben aus, eine bunte Wiese, kaum begrenzt von einem sehr, sehr fernen Horizontrand. Ich lebte in der fröhlichen, ja ausgelassenen Gesellschaft junger Aristokraten, jener Schicht, die mir neben den Künstlern im alten Reich die liebste war. Ich teilte mit ihnen den skeptischen Leichtsinn, den melancholischen Fürwitz, die sündhafte Fahrlässigkeit, die hochmütige Verlorenheit, alle Anzeichen des Untergangs, den wir damals noch nicht kommen sahen. Über den Gläsern, aus denen wir übermütig tranken, kreuzte der unsichtbare Tod schon seine knochigen Hände. Wir schimpften fröhlich, wir lästerten sogar bedenkenlos. Einsam und alt, fern und gleichsam erstarrt, dennoch uns allen nahe und allgegenwärtig im großen, bunten Reich lebte und regierte der alte Kaiser Franz Joseph. Vielleicht schliefen in den verborgenen Tiefen unserer Seelen jene Gewißheiten, die man Ahnungen nennt, die Gewißheit vor allem, daß der alte Kaiser starb, mit jedem Tage, den er länger lebte, und mit ihm die Monarchie, nicht so sehr unser Vaterland wie unser Reich, etwas Größeres, Weiteres, Erhabeneres als nur ein Vaterland. Aus unsern schweren Herzen kamen die leichten Witze, aus unserem Gefühl, daß wir Todgeweihte seien, eine törichte Lust an jeder Bestätigung des Lebens: an Bällen, am Heurigen, an Mädchen, am Essen, an Spazierfahrten, Tollheiten aller Art, sinnlosen Eskapaden, an selbstmörderischer Ironie, an ungezähmter Kritik, am Prater, am Riesenrad, am Kasperltheater, an Maskeraden, am Ballett, an leichtsinnigen Liebesspielen in den verschwiegenen Logen der Hofoper, an Manövern, die man versäumte, und sogar noch an jenen Krankheiten, die uns manchmal die Liebe bescherte.

Man wird begreifen, daß mir die unerwartete Ankunft meines Vetters willkommen war. Keiner meiner leichtfertigen Freunde hatte solch einen Vetter, solch eine Weste, solch eine Uhrkette, eine solch nahe Beziehung zu der originellen Erde des sagenhaften slowenischen Sipolje, der Heimat des damals noch nicht vergessenen, aber immerhin bereits legendären Helden von Solferino.

Am Abend holte ich meinen Vetter ab. Sein glänzender Satinrock machte auf alle meine Freunde einen mächtigen Eindruck. Er stammelte ein unverständliches Deutsch, lachte viel mit seinen blanken, starken Zähnen, ließ sich alles bezahlen, versprach, neue Westen und Ketten in Slowenien für meine Freunde zu kaufen, und nahm gerne Anzahlungen entgegen. Denn alle beneideten mich um Weste, Kette, Uhr. Alle hätten sie mir am liebsten den ganzen Vetter abgekauft, meine Verwandtschaft und mein Sipolje.

Mein Vetter versprach, im Herbst wiederzukommen. Wir begleiteten ihn alle zur Bahn. Ich besorgte ihm ein Billett zweiter Klasse. Er nahm es, ging zur Kasse, und es gelang ihm, es gegen ein Billett dritter umzutauschen.

Von dort aus winkte er uns noch zu. Und uns allen brach das Herz, als der Zug aus der Station rollte; denn wir liebten die Wehmut ebenso leichtfertig wie das Vergnügen.


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