Joseph Roth
Die Kapuzinergruft
Joseph Roth

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Eine Woche später kam er auch.

Er kam mit seinem Maulesel, mit seinem Ledersack, mit seinen Kastanien. Braun und schwarz und heiter war er; genau so, wie ich ihn das letztemal in Wien gesehen hatte. Es schien ihm offenbar natürlich, mich hier wiederzutreffen. Es war noch lange nicht die richtige Saison der Maroni angebrochen. Mein Vetter war einfach meinetwegen ein paar Wochen früher gekommen. Auf dem Wege von der Bahn zur Stadt saß er auf dem Kutschbock an der Seite unseres Freundes Manes Reisiger. Den Maulesel hatten sie hinten mit einem Halfterband an den Fiaker gebunden. Der Ledersack, der Bratofen, die Kastanien waren zu beiden Seiten des Wagens aufgeschnallt. Also fuhren wir in das Städtchen Zlotogrod ein, aber wir erregten keinerlei Aufsehen. Man war in Zlotogrod gewohnt, meinen Vetter Joseph Branco jedes zweite Jahr auftauchen zu sehen. Und auch an mich, den dorthin verirrten Fremden, schien man sich bereits gewöhnt zu haben. Wir machten also keinerlei Aufsehen bei unserm Einzug in das Städtchen.

Mein Vetter Joseph Branco stieg, wie gewöhnlich, bei Manes Reisiger ab. Er brachte mir, eingedenk seiner guten Geschäfte, die er im Sommer des vergangenen Jahres mit der Uhr und mit der Kette gemacht hatte, noch ein paar folkloristische Kleinigkeiten mit, zum Beispiel einen Aschenbecher aus getriebenem Silber, auf dem zwei übereinander gekreuzte Dolche zu sehen waren und der heilige alte Nikodemus, der mit ihnen gar nichts zu tun hatte, einen Becher aus Messing, der mir nach Sauerteig zu riechen schien, einen Kuckuck aus bemaltem Holz. Dies alles, so sagte Joseph Branco, hätte er mitgebracht, um es mir zu schenken, für den Fall, daß ich imstande wäre, ihm die »Transportkosten« zu ersetzen. Und ich begriff, was er unter »Transportkosten« verstand. Ich kaufte ihm den Aschenbecher, den Trinkbecher und den hölzernen Kuckuck ab, noch am Abend seiner Ankunft. Er war glücklich.

Um sich die Zeit zu vertreiben, wie er vorgab, in Wirklichkeit aber, um jede Gelegenheit auszunützen, die ihm etwas Geld eintragen konnte, versuchte er von Zeit zu Zeit, dem Fiaker Manes einzureden, daß er, Joseph Branco, ein geschickter Kutscher sei, besser als Manes, auch fähiger als dieser, Kunden zu finden. Aber Reisiger ging auf derlei Reden gar nicht ein. Er selbst spannte seine Schimmel am frühen Morgen vor den Wagen und fuhr, ohne sich um Joseph Branco zu kümmern, zum Bahnhof und zum Marktplatz, wo seine Kollegen, die anderen Fiaker, hielten.

Es war ein schöner, sonniger Sommer. Obwohl Zlotogrod sozusagen kein »richtiges Städtchen« war, weil es nämlich eher einem verkleideten Dorf ähnlich sah als einem Städtchen, und obwohl es den ganzen frischen Atem der Natur ausströmte, dermaßen, daß die Wälder, die Sümpfe und die Hügel, von denen es umgeben war, den Marktplatz beinahe zu bedrängen schienen und daß man glauben konnte, Wald und Sumpf und Hügel könnten jeden Tag in das Städtchen ebenso selbstverständlich einkehren wie etwa ein Durchreisender, der vom Bahnhof kam, um im Hotel »Zum goldenen Bären« abzusteigen, schien es meinen Freunden, den Beamten der Bezirkshauptmannschaft wie den Herren von den Neuner-Dragonern, daß Zlotogrod eine wirkliche Stadt sei; denn sie hatten das Bewußtsein nötig, daß sie nicht in weltverlorene Ortschaften verbannt seien, und die Tatsache allein, daß es eine Bahnstation Zlotogrod gab, vermittelte ihnen das sichere Gefühl, daß sie nicht abseits jener Zivilisation lebten, in der sie aufgewachsen und von der sie verwöhnt waren. Infolgedessen taten sie so, als müßten sie ein paarmal in der Woche die sogenannte unzuträgliche Stadtluft verlassen und in Fiakern jenen Wäldern, Sümpfen, Hügeln entgegenfahren, die eigentlich ihnen entgegenkamen. Denn Zlotogrod war nicht nur von der Natur erfüllt, sondern sogar auch von seiner Umgebung bedrängt. Also geschah es, daß ich ein paarmal in der Woche mit meinen Freunden im Fiaker des Manes Reisiger in die sogenannte »Umgebung« von Zlotogrod hinausfuhr. »Ausflüge« nannte man so was in der Tat. Wir hielten oft vor der Grenzschenke Jadlowkers. Der alte Jadlowker, ein uralter, silberbärtiger Jude, saß vor dem breiten, mächtig gewölbten, rostbraunen, zweiflügeligen Haustor, starr und halbgelähmt. Er glich einem Winter, der noch die letzten schönen Tage des Herbstes genießen und mitnehmen möchte in jene so nahe Ewigkeit, in der es gar keine Jahreszeiten mehr gibt. Er hörte nichts, er verstand kein Wort, er war stocktaub. Aber an seinen großen schwarzen und traurigen Augen glaubte ich zu erkennen, daß er gewissermaßen all jenes sah, was die Jüngeren nur mit ihren Ohren vernehmen konnten, und daß er also sozusagen freiwillig und mit Wonne taub war. Die Marienfäden flogen sacht und zärtlich über ihn dahin. Die silberne, aber immer noch wärmende Herbstsonne überglänzte ihn, den Alten, der dem Westen gegenübersaß, der dem Abend und dem Sonnenuntergang entgegensah, den irdischen Zeichen des Todes also, so, als erwartete er, daß die Ewigkeit, der er bald geweiht war, zu ihm käme, statt ihr entgegenzugehen. Unermüdlich zirpten die Grillen. Unermüdlich quakten die Frösche. Ein großer Friede herrschte in dieser Welt, der herbe Friede des Herbstes.

Um diese Zeit pflegte mein Vetter Joseph Branco, einer alten Überlieferung der Maronibrater der österreichisch-ungarischen Monarchie getreu, seinen Stand auf dem Ringplatz von Zlotogrod zu eröffnen.

Zwei Tage lang zog durch das ganze kleine Städtchen noch der hartsüße, warme Geruch der gebratenen Äpfel.

Es begann zu regnen. Es war ein Donnerstag. Am nächsten Tag, Freitag also, klebte die Botschaft schon an allen Straßenecken. Es war das Manifest unseres alten Kaisers Franz Joseph, und es hieß: »An Meine Völker!«


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