Joseph Roth
Die Kapuzinergruft
Joseph Roth

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XXVIII

Er bestach auch mich allmählich und ohne daß ich es zuerst merken konnte. Ich brauchte ihn, ich brauchte ihn einfach meiner Mutter wegen. Er stellte die Verbindung her zwischen unserem Haus und Elisabeth. Auf die Dauer konnte ich nicht zwischen beiden Frauen stehen und selbst zwischen dreien, wenn ich die Frau Professor mitrechnete. Seitdem Herr von Stettenheim die überraschende Zuneigung meiner Mutter gefunden hatte, kam Elisabeth zuweilen in unser Haus. Meine Mutter hatte nur angedeutet, daß sie die Frau Professor nicht zu sehen wünschte. Übrigens entfernte sie sich zusehends von Elisabeth. Auch dies war zum Teil ein Verdienst des Herrn von Stettenheim, und auch dadurch bestach er mich. Ich gewöhnte mich an seine unerwarteten Allüren (sie erschreckten mich immer seltener), an seine Rede, die immer um zwei, drei Stärken lauter war, als es der Raum erforderte, in dem er gerade sprach. Es war, als wüßte er überhaupt nicht, daß es kleine und größere Räume gibt, ein Zimmer und eine Bahnhofshalle zum Beispiel. Im Salon meiner Mutter sprach er mit jener um ein paar Grade zu hastigen Stimme, mit der manche einfachen Menschen zu telephonieren pflegen. Auf der Straße schrie er geradezu. Und da er nur inhaltslose Redensarten gebrauchte, klangen sie noch einmal so laut. Lange Zeit wunderte ich mich darüber, daß meine Mutter, der jeder stärkere Ton, jedes überflüssige Geräusch, jede Straßenmusik und sogar Konzerte im Freien körperliche Schmerzen verursachten, die Stimme des Herrn von Stettenheim ertragen und sogar charmant finden konnte. Erst ein paar Monate später konnte ich durch einen Zufall die Ursache dieser Nachsicht erfahren.

Eines Abends kam ich zu einer ungewohnten Stunde nach Hause. Ich wollte meine Mutter begrüßen, ich suchte sie. Das Mädchen sagte mir, daß sie in der Bibliothek sitze. Die Tür unseres Bibliothekzimmers, das an den Salon grenzte, stand offen, ich brauchte nicht anzuklopfen. Meinen Gruß überhörte die alte Frau offenbar. Ich dachte zuerst, sie sei über dem Buch eingeschlafen. Sie saß überdies mit dem Rücken zu mir, mit dem Gesicht zum Fenster. Ich ging näher, sie schlief nicht, sie las und blätterte sogar eine Seite um, in dem Augenblick, in dem ich an sie herantrat. »Guten Abend, Mama!« sagte ich. Sie sah nicht auf. Ich berührte sie. Sie erschrak. »Wie kommst du jetzt daher?« fragte sie. – »Auf einen Sprung, Mama, ich wollte mir die Adresse Stiasnys heraussuchen.« – »Der hat lang nichts mehr von sich hören lassen. Ich glaub', er ist gestorben.« Der Doktor Stiasny war Polizeiarzt, jung wie ich, meine Mutter mußte mich mißverstanden haben. – »Ich mein' den Stiasny«, sagte ich. – »Gewiß, ich glaub' vor zwei Jahren ist er gestorben. Er war ja schon mindestens achtzig!« – »So, gestorben!« wiederholte ich – und ich wußte nun, daß meine Mutter schwerhörig war. Lediglich dank ihrer Disziplin, jener ungewöhnlichen Disziplin, die uns Jüngeren nicht mehr von Kindheit an auferlegt worden war, gelang ihr diese rätselhafte Stärke, ihr Gebrechen während jener Stunden zu unterdrücken, in denen sie mich zu Hause erwartete, mich und andere. In den langen Stunden, in denen sie wartete, bereitete sie sich auf das Hören vor. Sie selbst mußte ja wissen, daß sie das Alter mit einem seiner Schläge getroffen hatte. Bald – so dachte ich – wird sie ertaubt sein, wie das Klavier ohne Saiten! Ja, vielleicht war damals schon, als sie in einem Anfall von Verwirrung die Saiten hatte herausnehmen lassen, in ihr eine Ahnung ihrer nahenden Taubheit lebendig gewesen und eine vage Furcht, daß sie bald nicht mehr exakte Töne würde vernehmen können! Von allen Schlägen, die das Alter auszuteilen hatte, mußte dieser für meine Mutter, ein wahres Kind der Musik, der schwerste sein. In diesem Augenblick erschien sie mir fast überirdisch groß, entrückt war sie in ein anderes Jahrhundert, in die Zeit einer längst versunkenen heroischen Noblesse. Denn es ist nobel und heroisch, Gebrechen zu verbergen und zu verleugnen.

Deshalb also schätzte sie Herrn von Stettenheim. Sie verstand offenbar ihn am deutlichsten, und sie war ihm dankbar. Seine Banalitäten ermüdeten sie nicht. Ich verabschiedete mich, ich wollte in mein Zimmer, die Adresse Stiasnys holen. »Darf ich um acht Uhr kommen, Mama?« rief ich jetzt schon mit erhobener Stimme. Es war etwas zu laut gewesen. – »Seit wann schreist du so?« fragte sie. »Komm nur, wir haben Kirschknödel, allerdings Kornmehl.«

Ich suchte krampfhaft den Gedanken an die Pension zu verdrängen. Meine Mutter als Inhaberin einer Pension! Welch eine abstruse, ja absurde Idee! Ihre Schwerhörigkeit erhöhte noch ihre Würde. Jetzt hörte sie vielleicht gar nicht mehr das Aufklopfen ihres eigenen Stocks, nicht einmal mehr ihre eigenen Schritte. Ich begriff, warum sie so nachsichtig unser Mädchen behandelte, das blond, beleibt und schwerfällig, zu polternden Handlungen neigte, ein braves, stumpfes Kind aus der Vorstadt. Meine Mutter mit Pensionären! Unser Haus mit zahllosen Klingeln, die mir heute schon um so lauter in den Ohren schrillten, als meine Mutter ja nicht imstande sein würde, ihre ganze Frechheit zu vernehmen. Ich hatte sozusagen für uns beide zu hören und für uns beide beleidigt zu sein. – Aber welch anderen Ausweg konnte es geben? – Der Doktor Kiniower hatte recht: Das Kunstgewerbe verschlang eine Hypothek nach der anderen.

Meine Mutter kümmerte sich nicht darum. Ich allein hatte also, wie man zu sagen pflegt, die Verantwortung. Ich – und eine Verantwortung! Nicht, dass ich feige gewesen wäre! Nein, ich war einfach unfähig. Ich hatte keine Angst vor dem Tod, aber Angst vor einem Büro, einem Notar, einem Posthalter. Ich konnte nicht rechnen, zur Not noch addieren. Meine Multiplikation schon schaffte mir Pein. Ja! Ich und eine Verantwortung!

Der Herr von Stettenheim indessen lebte unbekümmert, ein schwerfälliger Vogel. Er hatte immer Geld, er borgte nie, er lud im Gegenteil alle meine Freunde ein. Wir mochten ihn nicht, freilich. Wir verstummten alle, wenn er plötzlich im Kaffeehaus erschien. Außerdem hatte er die Gewohnheit, jede Woche mit einer anderen Frau zu kommen. Er griff sie überall auf, alle Sorten: Tänzerinnen, Kassiererinnen, Näherinnen, Modistinnen, Köchinnen. Er machte Ausflüge, kaufte Anzüge, spielte Tennis, ritt im Prater. Eines Abends trat er mir aus unserem Haustor entgegen, gerade als ich heimkehren wollte. Er schien es eilig zu haben, der Wagen wartete auf ihn. »Ich muss fort!« sagte er und warf sich in den Wagen.

Elisabeth saß bei meiner Mutter. Offenbar war sie mit dem Herrn von Stettenheim zusammen hierhergekommen. In unserer Wohnung spürte ich etwas Fremdes, es war wie ein außergewöhnlicher, ungewöhnlicher Geruch. Hier mußte etwas Unerwartetes passiert sein, während meiner Abwesenheit. Die Frauen sprachen miteinander, als ich ins Zimmer trat, aber es war jene Art erzwungener Unterhaltung, der ich sofort anmerkte, dass sie nur zu meiner Irreführung bestimmt war.

»Ich bin Herrn von Stettenheim vor dem Haustor begegnet«, begann ich. – »Ja«, sagte Elisabeth, »er hat mich hierher begleitet. Er war eine Viertelstunde mit uns.« – »Er hat Sorgen, der Arme!« sagte meine Mutter. – »Er braucht Geld?« fragte ich. – »Das ist es!« antwortete Elisabeth. »Es hat heute Krach bei uns gegeben! Um dir's gleich zu sagen: Die Jolanth hat Geld verlangt. Man hat's ihr geben müssen. Es ist das erstemal, daß sie Geld verlangt hat. Sie läßt sich nämlich scheiden. Stettenheim braucht es dringend, dieses Geld. Mein Vater hat in diesen Tagen Zahlungen, sagt er. Ich habe Stettenheim hierher begleitet.« – »Meine Mutter hat ihm Geld gegeben?« – »Ja!« – »Bargeld?« – »Einen Scheck!« – »Wie hoch?« – »Zehntausend!« Ich wußte, daß meine Mutter nur noch wertlos werdende, immer wertloser werdende fünfzigtausend Kronen bei der Bank Efrussi liegen hatte, laut Bericht des »Juden«.

Ich begann, was ich noch niemals früher gewagt hatte, auf und ab durchs Zimmer zu wandeln, vor den strengen und erschrockenen Augen meiner Mutter. Zum erstenmal in meinem Leben wagte ich, in ihrer Anwesenheit meine Stimme zu erheben. Ich schrie beinahe. Jedenfalls war ich heftig. Mein ganzer, lang aufgesparter Groll gegen Stettenheim, gegen Jolanth, gegen meinen Schwiegervater überwältigte mich; er – und auch der Groll gegen meine eigene Bestechlichkeit. Auch Groll gegen meine Mutter mischte sich darein, Eifersucht auf Stettenheim. Zum erstenmal wagte ich vor meiner Mutter einen verpönten und lediglich im Kasino beheimateten Ausdruck: »Der Saupreuß«, sagte ich. Ich erschrak selbst darüber.

Ich erlaubte mir noch mehr: Ich verbot meiner Mutter, noch einmal Schecks ohne meine Einwilligung auszustellen. Ich verbot auch in einem Atem Elisabeth, noch einmal meiner armen Mutter irgendwelche Leute, die Geld brauchten, zuzuführen; »Irgendwelche dahergelaufenen Leute«, sagte ich wörtlich. Und da ich mich selbst kannte und sehr wohl wußte, daß ich nur ein paarmal in drei Jahren imstande wäre, meinen Willen, meine Abscheu, ja meine aufrichtige Meinung über Menschen und Zustände zu zeigen, versetzte ich mich bewußt in eine noch größere Rage. Ich schrie: »Auch die Professorin will ich nicht mehr sehn!« Und: »Vom Kunstgewerbe will ich nichts mehr wissen. Um alles zu ordnen, Elisabeth! Du ziehst hierher, mit mir.«

Meine Mutter sah mich aus ihren großen, traurigen Augen an. Offenbar war sie über meinen plötzlichen Ausbruch ebenso erschrocken wie erfreut. »Sein Vater war auch so!« sagte sie zu Elisabeth. Heute glaube ich es auch, es ist möglich, daß damals mein Vater aus mir sprach. Ich hatte das Bedürfnis, das Haus zu verlassen.

»Sein Vater«, sprach meine Mutter weiter, »war manchmal wie ein Gewitter. Er hat so viel Teller zerbrochen! So viel Teller, wenn er böse war!« – Sie breitete beide Arme aus, um Elisabeth eine Vorstellung von der Anzahl der Teller zu geben, die mein Vater zerbrochen hatte. »Jedes halbe Jahr!« sagte meine Mutter. »Es war eine Krankheit, besonders im Sommer; wenn wir nach Ischl gingen und man die Koffer packte. Das konnte er nicht leiden. Der Bub auch nicht«, fügte sie hinzu, obwohl sie mich noch niemals in einer Zeit beobachtet hatte, in der Koffer gepackt zu werden pflegen.

Ich hätte sie in die Arme nehmen mögen, die arme, alte, langsam ertaubende Frau. Es war gut so. Sie vernahm nicht mehr die Geräusche der Gegenwart. Sie hörte jene der Vergangenheit, die zerschmetterten Teller meines erbosten Vaters zum Beispiel. Sie begann auch, wie es oft bei schwerhörig werdenden, älteren Menschen vorzukommen pflegt, das Gedächtnis zu verlieren. Und es war gut so! Wie wohltätig ist die Natur! Die Gebrechen, die sie dem Alter schenkt, sind eine Gnade. Vergessen schenkt sie uns, Taubheit und schwache Augen, wenn wir alt werden; ein bißchen Verwirrung auch, kurz vor dem Tode. Die Schatten, die er vorausschickt, sind kühl und wohltätig.


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