Joseph Roth
Die Kapuzinergruft
Joseph Roth

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XXXII

Eine treu behütete, geliebte Last war mir meine Mutter. Ich hatte mein Lebtag niemals eine Neigung für irgendeinen Beruf gefühlt, jetzt hatte ich endlich zwei Berufe: Ich war ein Sohn, und ich war ein Vater. Stundenlang saß ich neben meiner Mutter. Wir mußten einen Krankenwärter aufnehmen, die alte Frau war schwer von Gewicht. Man mußte sie jeden Tag ins Zimmer tragen, zum Tisch. Sie hinzusetzen bedeutete schon Arbeit. Manchmal verlangte sie auch von mir, durch die Zimmer gerollt zu werden. Sie wollte sehen und hören. Seitdem sie krank war, schien es ihr, daß sie vieles, daß sie alles versäumte. Ihr rechtes Auge war halb geschlossen. Wenn sie den Mund auftat, war es, als trüge sie eine eiserne Klammer um die rechte Lippenhälfte. Sie konnte übrigens nur einzelne Worte hervorbringen, zumeist Hauptwörter. Manchmal sah es fast so aus, als hütete sie eifersüchtig ihren Wortschatz.

Sobald ich meine Mutter verlassen hatte, ging ich in das Zimmer meines Sohnes. Elisabeth, in den ersten Monaten eine hingebungsvolle Mutter, entfernte sich allmählich von unserem Sohn. Franz Joseph Eugen hatte ich ihn getauft, für mich und Elisabeth nannte ich ihn Geni. Elisabeth begann mit der Zeit, oft und ohne Grund das Haus zu verlassen. Ich wußte nicht, wohin sie ging – und ich fragte sie auch nicht danach. Sie ging, mochte sie gehen! Ich fühlte mich sogar wohl, wenn ich allein, ohne sie, mit meinem Buben blieb. – »Geni!« rief ich – und sein rundes braunes Gesicht leuchtete. Ich wurde immer eifersüchtiger. Es genügte mir keineswegs, daß ich ihn gezeugt hatte, am liebsten hätte ich gewünscht, ich hätte ihn auch ausgetragen und geboren. Er kroch durch das Zimmer, flink wie ein Wiesel. Schon war er ein Mensch – und noch ein Tier und noch ein Engel. Ich sah jeden Tag, ja jede Stunde, wie er sich veränderte. Seine braunen Löckchen wurden dichter, der Glanz seiner großen hellgrauen Augen stärker, die Wimpern reicher und schwärzer, die Händchen selbst bekamen ihre eigenen Gesichter, die Fingerchen wurden schlank und kräftig. Die Lippen bewegten sich immer eifriger, und immer eiliger lallte das Zünglein und immer verständlicher. Ich sah die ersten Zähnchen sprießen, ich vernahm Genis erstes wissendes Lachen, ich war dabei, wie er zum erstenmal zu laufen anfing, dem Fenster, dem Licht, der Sonne entgegen, mit einem plötzlichen Elan, wie in einer jähen Erleuchtung; es war eher eine zwingende Idee als ein physiologischer Akt. Gott selbst hatte ihm die Idee geschenkt, daß der Mensch aufrecht gehen könne. Und siehe da: mein Bub ging aufrecht.

Ich wußte lange Zeit nicht, wo Elisabeth Stunden und manchmal Tage verbrachte. Sie sprach oft von einer Freundin, einer Schneiderin, einem Bridgeklub. Unsere Pensionäre zahlten spärlich und selten, mit Ausnahme Hallersbergs. Wenn Chojnicki durch irgendeinen Zufall Geld aus Polen bekam, bezahlte er die Miete sofort für drei, vier Pensionäre. Unser Kredit im Viertel war unbeschränkt. Ich verstand nichts von den Rechnungen, Elisabeth behauptete, daß sie die Bücher führte. Aber eines Tages, während ihrer Abwesenheit, kamen der Fleischer, der Bäcker, der Kaffeehändler, Gläubiger, die Geld von mir verlangten. Ich hatte nur mein Taschengeld, Elisabeth pflegte mir jeden Tag, bevor sie das Haus verließ, ein paar harte Münzen zurückzulassen. Manchmal sahen wir uns tagelang nicht. Ich ging mit unseren Freunden ins Café Wimmerl. Zu Chojnickis Pflichten gehörte es, die Zeitungen zu lesen, Referate über die Politik zu halten. Jeden Sonntag fuhr er nach Steinhof, seinen verrückten Bruder zu besuchen. Er sprach mit ihm über Politik. Er berichtete uns: »Privat ist mein armer Bruder komplett verrückt«, sagte Chojnicki. – »Was die Politik betrifft, gibt es keinen zweiten, der so gescheit wäre wie er. Heute zum Beispiel hat er mir gesagt: ›Österreich ist kein Staat, keine Heimat, keine Nation. Es ist eine Religion. Die Klerikalen und klerikalen Trottel, die jetzt regieren, machen eine sogenannte Nation aus uns; aus uns, die wir eine Übernation sind, die einzige Übernation, die in der Welt existiert hat. Mein Bruder‹, sagte mein Bruder zu mir, und er legte mir die Hand auf die Schulter, ›wir sind Polen, höre ich. Wir waren es immer. Warum sollten wir nicht? Und wir sind Österreicher: Warum wollten wir keine sein? Aber es gibt eine spezielle Trottelei der Ideologen. Die Sozialdemokraten haben verkündet, daß Österreich ein Bestandteil der deutschen Republik sei; wie sie überhaupt die widerwärtigen Entdecker der sogenannten Nationalitäten sind. Die christlichen Alpentrottel folgen den Sozialdemokraten. Auf den Bergen wohnt die Dummheit, sage ich, Josef Chojnicki.‹

Und zu glauben«, berichtete Chojnickis Bruder weiter, »daß dieser Mann verrückt ist! Ich bin überzeugt: er ist es gar nicht. Ohne den Untergang der Monarchie wäre er gar nicht verrückt geworden!« So schloß er seinen Bericht.

Wir schwiegen nach derlei Reden. Über unserem Tisch lagerte eine schwüle Stille, sie kam gar nicht aus unserm Innern, sie kam von oben her. Wir beweinten nicht, wir verschwiegen sozusagen unser verlorenes Vaterland. Manchmal begannen wir plötzlich, ohne Verabredung, alte Militärlieder zu singen. Lebendig waren wir und leibhaft vorhanden. Aber Tote waren wir in Wirklichkeit.

Eines Tages begleitete ich Chojnicki nach Steinhof zu dem allwöchentlichen Besuch bei seinem Bruder. Der verrückte Chojnicki ging im Hof spazieren, er lebte in der geschlossenen Abteilung, obwohl er keinerlei Neigung zu irgendeiner Gewaltsamkeit zeigte. Er kannte seinen Bruder nicht. Als ich aber meinen Namen Trotta nannte, war er sofort klar. – »Trotta«, sagte er. »Sein Vater war vor einer Woche hier. Der alte Bezirkshauptmann Trotta. Mein Freund, der Leutnant Trotta, ist bei Krasne-Busk gefallen. Ich liebe euch alle! Alle, alle Trottas.« Und er umarmte mich.

»Meine Residenz ist Steinhof«, fuhr er fort. »Von nun ab, seitdem ich hier wohne, ist es die Haupt- und Residenzstadt von Österreich. Ich bewahre hier die Krone. Ich bin dazu ermächtigt. Mein Onkel Ledochowski pflegte zu sagen: ›Dieser kleine Josef wird ein großer Mann.‹ Jetzt bin ich es. Er hat recht behalten.«

Chojnicki begann jetzt, unverständliches Zeug zu reden. Er verlangte seinen Strumpf. Er strickte, seitdem er im Irrenhaus war, mit unermüdlichem Eifer. »Ich stricke die Monarchie«, sagte er von Zeit zu Zeit. Als ich den Versuch machte, mich von ihm zu verabschieden, sagte er: »Ich habe nicht die Ehre, Sie zu kennen.« – »Ich heiße Trotta«, sagte ich. – »Trotta«, erwiderte er, »war der Held von Solferino. Er hat dem Kaiser Franz Joseph das Leben gerettet. Der Trotta ist schon lange tot. Mir scheint, Sie sind ein Schwindler.« An dem gleichen Tage erfuhr ich auch, weshalb meine Frau so lange und so oft vom Hause wegblieb, warum sie unser Kind allein ließ und meine arme gelähmte Mutter. Als ich nämlich nach Hause kam, traf ich dort die beiden einzigen Menschen, die ich wirklich haßte: die Frau Professor Jolanth Szatmary und den Herrn Kurt von Stettenheim.

Es stellte sich heraus, daß sie schon seit Wochen wieder in Wien waren. Es stellte sich heraus, daß sie das Kunstgewerbe aufgegeben hatten. Sie waren nunmehr ganz dem Film hingegeben; Alexander Rabinowitsch – »der bekannte Rabinowitsch, Sie kennen ihn nicht?« –, erzählte der Herr von Stettenheim, hatte eine »Firma« in Wien gegründet; wieder einmal eine Firma! Es stellte sich heraus, daß Elisabeth absolut keine Mutter bleiben wollte: sie wollte unbedingt eine Schauspielerin werden. Der Film rief sie, und sie fühlte sich zum Film berufen. Eines Tages verschwand sie auch, und sie hinterließ mir den folgenden Brief:

»Mein lieber Mann, Deine Mutter haßt mich, und Du liebst mich nicht. Ich fühle mich berufen. Ich folge Jolanth und Stettenheim. Verzeih mir. Der Ruf der Kunst ist mächtig. – Elisabeth«

Diesen Brief zeigte ich meiner gelähmten Mutter. Sie las ihn zweimal. Dann nahm sie meinen Kopf mit ihrer noch gesunden linken Hand und sagte: »Bub! – B-b-bub!« sagte sie. Es war, als gratulierte sie mir und als bedauerte sie mich gleichzeitig.

Wer weiß, wieviel Kluges sie gesagt hätte, wenn sie nicht gelähmt gewesen wäre.

Mein Kind hatte keine Mutter mehr. Die Mutter meines Kindes war in Hollywood, eine Schauspielerin. Die Großmutter meines Sohnes war eine gelähmte Frau.

Sie starb im Februar.


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