Joseph Roth
Die Kapuzinergruft
Joseph Roth

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XXI

Wiatka liegt weit in Sibirien, am Lenafluß. Die Reise dauerte ein halbes Jahr. Die Tage hatten wir auf diesen weiten Wegen vergessen, unzählig und endlos zugleich reihten sie sich aneinander. Wer zählt die Korallen an einer sechsfachen Schnur? Sechs Monate ungefähr dauerte unser Transport. Im September hatte unsere Gefangenschaft begonnen, als wir ankamen, war es März. Im Wiener Augarten mochten schon die Goldregensträucher blühen. Bald fing der Holunder an zu duften. Hier trieben gewaltige Eisschollen über den Fluß, man konnte ihn, auch an seinen breitesten Stellen, trockenen Fußes überschreiten. Während des Transportes waren drei Leute von unserem Zug an Typhus gestorben. Vierzehn hatten versucht zu fliehen, sechs Mann von unserer Eskorte waren mit ihnen desertiert. Der junge Kosakenleutnant, der den Transport auf der letzten Etappe kommandierte, ließ uns in Tschirein warten: Er mußte die Flüchtlinge wie die Deserteure einfangen. Er hieß Andrej Maximowitsch Krassin. Er spielte mit mir Karten, während seine Patrouillen die Gegend nach den Verschwundenen absuchten. Wir sprachen französisch. Er trank den Samogonka, den ihm die spärlichen russischen Ansiedler der Gegend brachten, aus seiner kürbisförmigen Feldflasche, war zutraulich und dankbar für jeden guten Blick, den ich ihm schenkte. Ich liebte seine Art zu lachen, die starken, blendenden Zähne unter dem kurzen kohlschwarzen Schnurrbart und die Augen, die nur Fünkchen waren, wenn er sie zusammenkniff. Er beherrschte das Lachen geradezu. Man konnte ihm zum Beispiel sagen: »Bitte, lachen Sie ein bißchen!«, und im Nu lachte er, schallend, großzügig, weitherzig. Eines Tages hatten die Patrouillen die Geflohenen aufgetrieben. Eigentlich den Rest der Geflohenen, acht Mann von zwanzig. Der Rest war sicherlich verirrt oder irgendwo verborgen oder irgendwo untergegangen. Andrej Maximowitsch Krassin spielte mit mir Tarock in der Bahnhofsbaracke. Er ließ die Eskorte mitsamt den Gefangenen nahe an uns herankommen, bestellte ihnen Tee und Schnaps und befahl mir, der ich ja seinen Befehlen ausgeliefert war, die Strafen zu diktieren, für die Leute meines Zuges sowohl als auch für die russischen zwei eingeholten Deserteure. Ich sagte ihm, daß ich das Dienstreglement seiner Armee nicht kenne. Er bat mich zuerst, dann drohte er, endlich sagte ich: »Da ich nicht weiß, welche Strafen nach Ihren Gesetzen zu verhängen wären, verfüge ich, daß alle straflos bleiben.« Er legte seine Pistole auf den Tisch und sagte: »Sie sind am Komplott beteiligt. Ich verhafte Sie, ich lasse Sie abführen, Herr Leutnant!« – »Wollen wir nicht die Partie zu Ende spielen?« fragte ich ihn und griff nach meinen Karten. »Gewiß!« sagte er, und wir spielten weiter, während die Soldaten um uns herumstanden, Eskorten und Österreicher. Er verlor. Es wäre mir leicht gewesen, ihn gewinnen zu lassen, aber ich hatte freilich die Besorgnis, daß er es merken könnte. Kindlich, wie er war, bereitete ihm das Mißtrauen eine noch größere Wollust als das Lachen, und die Bereitschaft, Verdacht zu schöpfen, war stets in ihm lebendig. Also ließ ich ihn verlieren. Er zog die Augenbrauen zusammen, er sah den Unteroffizier, der die Eskorte kommandierte, schon böse an, so, als wollte er im nächsten Augenblick alle acht Mann füsilieren lassen. Ich sagte ihm: »Lachen Sie ein bißchen!« Er lachte los, großzügig, weitherzig, mit allen blendenden Zähnen. Ich dachte schon, ich hätte die acht gerettet.

Er lachte etwa zwei Minuten, wurde auf einmal ernst, wie es seine Art war, und befahl dem Unteroffizier: »Spangen für alle acht! Abtreten! Ich verfüge dann Weiteres.« Hierauf, nachdem die Männer die Baracke verlassen hatten, begann er, die Karten zu mischen. »Revanche!« sagte er. Wir spielten eine neue Partie. Er verlor zum zweitenmal. Er steckte jetzt erst seine Pistole ein, erhob sich, sagte: »Ich komme gleich!« und verschwand. Ich blieb sitzen, man entzündete die zwei Petroleumlampen, sogenannte Rundbrenner. Die karwasische Wirtin wankte heran, ein neues Teeglas in der Hand. Im frischen Tee schwamm noch die alte Zitronenscheibe. Die Wirtin war breit wie ein Schiff. Sie lächelte aber wie ein gutes Kind, vertraulich und mütterlich. Als ich mich anschickte, die alte, häßliche Zitronenscheibe aus dem Glas zu entfernen, griff sie mit zwei gütigen, dicken Fingern hinein und holte die Zitrone heraus. Ich dankte ihr mit einem Blick.

Ich trank den heißen Tee langsam. Der Leutnant Andrej Maximowitsch kam nicht zurück. Es wurde immer später, und ich mußte zu meinen Leuten zurück ins Lager. Ich ging hinaus vor die Balkontür und rief ein paarmal seinen Namen. Er antwortete mir endlich. Es war eine eisige Nacht, so kalt, daß ich zuerst glaubte, selbst ein Ruf müßte, kaum ausgestoßen, schon erfrieren und niemals den Gerufenen erreichen. Ich blickte zum Himmel empor. Die silbernen Sterne schienen nicht von ihm selbst geboren, sondern in seine Gewölbe eingeschlagen worden zu sein, glänzende Nägel. Ein wuchtiger Wind vom Osten, der Tyrann unter den Winden Sibiriens, nahm meiner Kehle den Atem, meinem Herzen die Kraft zu schlagen, meinen Augen die Fähigkeit zu sehen. Die Antwort des Leutnants auf meinen Ruf, vom bösen Wind mir dennoch entgegengetragen, erschien mir wie eine tröstliche Botschaft eines Menschen, nach langer Zeit zum erstenmal vernommen, obwohl ich kaum ein paar Minuten draußen in der menschenfeindlichen Nacht gewartet hatte. Aber wie wenig tröstlich war diese menschliche Botschaft.

Ich ging in die Baracke zurück. Eine einzige Lampe brannte noch. Sie erhellte den Raum nicht, sie machte seine Finsternis nur noch dichter. Sie war gleichsam der leuchtende, winzige Kern einer schweren, kreisrunden Finsternis. Ich setzte mich neben die Lampe hin. Plötzlich schreckten mich ein paar Schüsse auf. Ich lief hinaus. Die Schüsse waren noch nicht verhallt. Sie schienen noch immer unter dem eisigen, gewaltigen Himmel dahinzurollen. Ich lauschte. Nichts regte sich mehr, außer dem ständigen Eiswind. Ich konnte es nicht mehr ertragen und kehrte in die Baracke zurück.

Eine Weile später kam der Leutnant, bleich, trotz dem Winde die Mütze in der Hand, die Pistole ragte aus dem halboffenen Etui. Er setzte sich sofort, atmete schwer, knöpfte den Blusenkragen auf und sah mich mit starren Augen an, als kenne er mich nicht, als hätte er mich vergessen und als bemühte er sich angestrengt, mich zu agnoszieren. Die Karten wischte er vom Tisch mit dem Ärmel. Er trank einen tüchtigen Schluck aus der Flasche, senkte den Kopf und sagte auf einmal ganz schnell: »Ich habe nur einen getroffen.« – »Sie haben also schlecht gezielt«, sagte ich. Aber ich hatte es anders verstanden. »Ich habe schlecht gezielt. Ich ließ sie in einer Reihe antreten. Ich wollte sie nur erschrecken. Ich schoß in die Luft. Beim letzten Schuß war's, als drückte jemand meinen Arm nieder. Es geschah schnell, es ging los, ich weiß nicht wie. Der Mann ist hin. Die Leute verstehen mich nicht mehr.«

Man begrub den Mann noch in der gleichen Nacht. Der Leutnant ließ eine Ehrensalve abschießen. Seit dieser Stunde lachte er nicht mehr. Er sann über etwas nach, das ihn unaufhörlich zu beschäftigen schien. Wir legten noch etwa zehn Werst unter seinem Kommando zurück. Zwei Tage, bevor ein neuer Transportkommandant uns übernehmen sollte, ließ er mich zu sich in den Schlitten steigen und sagte: »Dieser Schlitten gehört Ihnen und Ihren zwei Freunden. Der Jude ist Kutscher. Er wird sich auskennen. Hier ist meine Karte. Ich habe den Punkt angekreuzt, an dem Sie aussteigen. Sie werden dort erwartet. Es ist mein Freund. Zuverlässig. Niemand wird euch suchen. Ich werde euch alle drei als Geflüchtete ausgeben. Ich werde euch hinrichten und begraben.« Er drückte mir die Hand und stieg aus.

In der Nacht fuhren wir los. Der Weg dauerte ein paar Stunden. Der Mann wartete. Wir fühlten sofort, daß wir bei ihm geborgen waren. Wir begannen ein neues Leben.


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