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Auf der Insel des Gelben Fiebers.

»Ich bin gar nicht tot!« – Im Hafenhospital von Santiago. – Die gelbe Flagge im Boot. – Die Schmerzen im Leib. – Der sterbende Trompeter. – Warum ich den Neger erschießen wollte. – Schlafen, nur schlafen! – Das Dunkel zwischen Tod und Leben. – Dr. Gonzales. – Ich bin Sergeant geworden. – Das Haus des Elends. – Krankenpfleger und Totengräber, – Wie der Rauhe Reiter Himmelsblumen pflückte. – Eine nächtliche Schreckensszene. – Der Insel der Verdammten wird Hilfe. – Die Krankenschwestern.

Viele Wochen später. Der Krieg war zu Ende.

Der Transportdampfer hatte mich auf amerikanischem Boden gelandet, in Montauk Point, dem Lager der aus Kuba zurückgekehrten Truppen. Lange mußte ich suchen, bis ich in den Zeltreihen das Signalkorps fand.

»Guten Tag, Kinder!« sagte ich, ins Sergeantenzelt eintretend, in dem Hastings, Souder und Ryan beisammensahen. Die drei Männer fuhren empor wie aus der Pistole geschossen.

»Verdammt – er ist's!« brüllte Souder.

»Teufel! Willkommen, Sergeant!« schrie Ryan.

»Du bist also nicht tot?« fragte der alte Hastings und riß den Mund weit auf vor Staunen.

»Ich bin gar nicht tot!« lachte ich seelenvergnügt. »Ich glaube es wenigstens nicht. Guten Tag. Kinder!« Dann ging's an ein Beglückwünschen, und ein großes Erzählen hub an. Auf Soldatenart. »Ich war wütend auf dich!« grinste Souder. »Machen sie den Menschen zum Sergeanten,« sagte ich mir, »und der Esel geht hin und stirbt! Läßt Wochen und Wochen üppiger Kriegslöhnung im Stich. So 'was Dummes!«

»Wußtet Ihr denn nicht – – – –?«

»Nichts wußten mir. An dem Abend im Kabelbureau – du erinnerst dich?«

»Und ob!«

»Erinnerst du dich auch an Antonio?«

»Natürlich.«

»Den haben wir mitgenommen – na, du wirst ja sehen. An jenem Abend also bist du mit dem Stuhl zusammengeknaxt und hast mir damit eine wunderschöne Pokerhand verhunzt, die ich eben bekommen hatte. Das vergess' ich dir sobald nicht ... Einen Augenblick!«

Er ging und kam wieder, einen Arm voll Bierflaschen herbeischleppend –

»Bums – lagst du am Boden. Wir waren so erschrocken, daß wir die Karten hinwarfen – Teufel, wenn ich an meine schönen drei Asse denke! – und dich schleunigst aufhoben, wobei du mir übrigens einen niederträchtigen Fußtritt gegeben hast, mein Junge. Du schriest wie besessen und erzähltest allerlei Blödsinn von einer Uhr. Zuerst dachten wir, es sei der Wein. Aber wir hatten doch gar nichts getrunken. Dann schickten wir den Antonio ins Hauptquartier zum Major, und ein Stabsarzt kam, der sagte, du seiest sehr krank, und am frühen Morgen brachten wir dich ins Hafenhospital. Als ich tags darauf dort wieder vorfragte, hieß es, du seist auf die Gelbfieber-Insel geschafft worden und wahrscheinlich schon tot. Du hättest Gelbes Fieber. Dann hieß es, du lägest im Sterben. Adieu, dachten wir uns. Der arme Teufel ist schon längst begraben!«

 

So also war es zugegangen an dem Abend im Kabelbureau. Ich wußte nichts davon. Die langen Stunden jener ersten Gelbfiebertage sind mir wie trübes undurchsichtiges Grau, aus dem nur da und dort grell und schrecklich das Erinnern leuchtet. Ich weiß, daß ich, erwachend, um mich sah und mich auf einer Matratze liegend fand, in einem großen hellen Raum, mit vielen anderen Soldaten, die auch am Boden lagen, auch auf Matratzen – und daß mir dies und alles andere unendlich gleichgültig war. Daß ich mich auch nicht mit einem einzigen Gedanken darum kümmerte, was eigentlich geschehen war mit mir, ob ich krank sei oder nicht, und wo ich mich befand. Weder etwas sehen wollte ich, noch etwas hören, noch etwas wissen. Nur schlafen, schlafen. Meinetwegen konnte geschehen, was da wollte, wenn man mich bloß schlafen ließ und meine Ruhe nicht störte. Schlafen, nur schlafen! Dem Zwang der bleiernen Müdigkeit gehorchend, die über mir lag wie schwerer Alp.

Eine Hand erfaßte meinen Arm, fühlte nach dem Puls, schob meinen Aermel zurück, griff mit harten Fingern in die Haut am Oberarm, zog sie empor, ließ sie zurückschnellen. Da und dort betastete mich die Hand. Sie riß meine Kleider auf und legte sich mir auf den Leib. Ich spürte das alles und wurde ärgerlich. Zu dumm, daß die – die Hand da einen nicht in Ruhe lassen konnte! Eigentlich hätte ich mir die dumme Hand ja ganz gern angeguckt, aber es war doch nicht ganz so einfach, die Augen zu öffnen. Es machte wirklich zu viel Mühe! Nein, lieber nicht.

»Wie fühlen Sie sich?« fragte eine Stimme.

»Du meinst wohl, ich werde dir antworten?« dachte ich. »Du bist ein großer Esel, wer du auch sein magst. Siehst du denn nicht, daß ich schlafen will?«

»Wie geht es Ihnen?«

»Zu dumm – die Fragerei,« dachte ich bloß.

Da betastete mich wieder die Hand. Ein Finger legte sich auf mein Augenlid, und eine Stimme, die laut zu dröhnen schien, schrie dicht an meinem Ohr:

»Tut das weh?«

»Geh weg!« brummte ich.

Und es wurde wieder hübsch still und dunkel. Nach langer Zeit dann schien es mir, als ob meine Matratze sich bewege und aufgehoben würde und fortgetragen. Ich hörte Stimmen und fühlte helles Sonnenlicht mehr als ich es sah. Da machte ich endlich auf und öffnete wirklich die Augen. Ich war mitten auf dem Wasser, in einem großen Boot. Deutlich sah ich den breiten Rücken des Ruderers vor mir. sah wogendes Wasser, Häusermassen, grüne Hügel in der Ferne: sah eine große gelbe Flagge über mir flattern. Diese gelbe Flagge kam mir bekannt vor. Sie war es, die das erste halbwegs klare Denken in mir auslöste.

Hm – ich wußte doch – natürlich! Gelbe Flaggen waren Krankheitsflaggen. Pest bedeuteten sie, Cholera, Gefahr der Ansteckung. Hm ja. Zu dumm. Halbbegriffen huschte mir der Gedanke durch den Kopf, daß ich also doch wahrscheinlich recht krank sein mußte. Aber – wenn man krank war, dann war man eben krank – andererseits – wie konnte man denn krank sein, wenn einem gar nichts fehlte als Schlaf? Zu dumm! Zu dumm, daß sie einen nicht schlafen ließen.

Und ich machte die Augen wieder zu.

Um nichts in der Welt hätte ich sie geöffnet, denn nun war es wunderschön still und ruhig. Leise nur und wie aus weiter Ferne hörte ich gedämpfte Geräusche, und undeutlich war das traumhafte Empfinden, daß irgend etwas mit mir geschah. Daß man mich trug – daß sie mich irgendwo hinlegten ...

Plötzlich fuhr ich empor.

Luft – Luft! Oh – der fürchterliche Schmerz im Leib! Das Brennen! Luft, zum Teufel!

Es war dunkel. Ich sah nichts. Wo war ich? Was war geschehen? Souder, der Tölpel, mußte gestolpert sein, als er ins Zelt kam in der Dunkelheit – auf den Bauch hatte er mich getreten mit den schweren Stiefeln – ah, wie das brannte. Ich preßte die Fäuste gegen den Leib. So, jetzt war's besser. Wo bin ich? Was – ist – das?

Und wie mit einem Schlage kam durch den aufrüttelnden Schmerz die Kraft des Sehens in mein Auge, und in mein Hirn die Fähigkeit des Denkens. Ich sah die Männer auf dem Boden liegen, sah den Neger in der Uniform eines Sanitätssoldaten, begriff, daß es Schwerkranke waren, unter denen ich mich befand, und daß ich selbst sehr krank sein mußte. Mühsam richtete ich mich auf, die Fäuste immer noch gegen den Bauch gepreßt, denn das half.

»Heh. du!«

Der Neger kam einen Schritt näher.

»Was fehlt mir? Was ist das hier?«

»Inselhospital, Herr. Für Gelbes Fieber und Typhus. Bin selber erst heute früh mit den ersten Kranken hergeschickt worden. Morgen kommen die Betten –«

»Was – fehlt – mir?«

»Weiß ich nicht,« antwortete der Neger mürrisch. »Bißchen Typhus, denk ich mir, oder 'n bißchen Fieber. Is nich schlimm, Herr. Furchtbar viel Arbeit hier für mich. Ich bin ganz allein – –«

Angst packte mich, furchtbare Angst. Gel–bes Fieber – die Schmerzen im Leib – das schreckliche Müdesein – – – Regungslos hockte ich da und starrte um mich. Unter mir lag ein Strohsack. Ich war in einem kleinen Raum, der arg verwahrlost aussah vom roten Ziegelsteinboden bis zu den beschmierten Kalkwänden. Die schmutzigen Fenster ließen nur trübes Licht herein. Nackt und kahl war alles. An der einen Wand stand ein kleiner Tisch mit Gläsern und Flaschen und einem Stuhl davor. Links und rechts von mir und gegenüber lagen der Wand entlang auf Strohsäcken die Kranken. Wenige nur. Ich begann zu zählen – eins, zwei, zehn... Wieder packte mich die Angst. Gelbes Fieber – die Schmerzen im Leib – die, die – – verdammt, es war ja gar nicht so schlimm mit den Schmerzen, wenn man nur die Fäuste ordentlich gegen den Bauch preßte –

Mein Auge hatte sich jetzt an das Halbdunkel gewöhnt. In der Ecke schräg gegenüber kauerte auf einem Strohsack, an die Mauer gelehnt, ein riesiger Trompetersergeant, die glitzernde Trompete noch umgeschlungen. Sein weißes Gesicht war nach vorne gebeugt, und ein gefrorenes Grinsen klebte auf seinen Zügen. Der Oberkörper bewegte sich ruckweise, in immer gleichem Takt, immer ein wenig vorwärts, immer ein wenig zurück. Mit jeder Bewegung kam und ging ein röchelndes Rülpsen aus seinem Hals, regelmäßig wie das Ticken einer Uhr. Über das Hellbraun seines Rocks und das Metallgelb der Trompete tropfte trickelnd ein schwarzrotes Blutbächlein. Immer gleich blieben sich das Grinsen und das Rülpsen. Bei jedem Ruck nach vorwärts floß ein wenig schwarzes, dickes Blut aus dem Mund.

Da verschwand auf einmal das Grinsen von dem Gesicht.

Die Augen öffneten sich weit, der Mund sperrte sich auf, daß er aussah wie ein schwarzes Loch, und etwas Rotschwärzliches schoß strömend hervor aus ihm, sich über Mann und Strohsack ausbreitend in dunkler Lache. Der Körper aber schnellte vorwärts in gewaltigem Ruck und sank dann langsam zur Seite. Auf dem Strohsack daneben hatte der schlafende Mann den Arm weit von sich gestreckt, und seine gelbe Hand lag flach mit gespreizten Fingern auf dem Ziegelsteinboden. Um diese Finger und diese Hand ging langsam der Blutstrom. Er kroch hinein zwischen die Finger. Wie ein gezackter, weißer Fleck ragte die Hand aus der Lache.

Es würgte mich.

Der Neger kam langsam und faul herbei, nahm gleichgültig eine Decke und warf sie über den toten Trompeter. Sonst rührte und regte sich niemand. Die Männer auf den Strohsäcken lagen still da, schweratmend die einen, wie tot die anderen. Der Neger ging wieder an den Tisch, setzte sich auf den Stuhl und blickte stumpf vor sich hin. Ueber mich kam wieder die alte Müdigkeit, großes Gleichgültigem, willenlose Erschlaffung. Ich fiel zurück auf den Strohsack. Und es wurde Nacht um mich.

Müde, müde erwachten meine Sinne wieder. Ich schlug die Augen auf und sah, da links, im trüben Licht der Laterne in der Ecke, etwas glitzern. Neben mir. Die silbernen Schulterstreifen eines Offiziers waren es, eines Leutnants. Ich sah schärfer hin. Der Offizier lag ruhig da, lang ausgestreckt, und sein Leib hob und senkte sich im Auf und Nieder ganz langsamer, sehr tiefer Atemzüge. Aber –

Nein, es war nicht möglich! Ich sah Gespenster im Fieber. Herrgott, das gab es doch nicht!! Ich versuchte nachzudenken, aber es wollte nicht gehen. Herrgott, das konnte doch nicht sein! War ich schon wahnsinnig? Mit einem Ruck richtete ich mich auf – beugte mich hinüber – streckte tastend die Hand danach aus – mit schwachen, zitternden, täppischen Fingern – –

Denn etwas Furchtbares war da.

Mit leisem Gesurre umschwebten mich Hunderte und Aberhunderte von winzigen, schwarzen Pünktchen, wogten unruhig auf und ab, schwebten, sanken tiefer und ließen sich wieder dort nieder, von wo sie gekommen waren – in den starren, weit geöffneten Augen des Leutnants ...

Der Offizier lag im Sterben. Noch ging und kam sein Atem in langen Zügen, doch die Kraft, die Augen zu schließen, hatte er nicht mehr. Aber er lebte noch – er lebte noch! Und die Augen des Lebenden sahen schwarz aus wie Kohlensäckchen. Viele, viele kleine Fliegen wimmelten in entsetzlichem Gekribbel in den Höhlen des menschlichen Lichts. Auf den armen, wehrlosen Augen! Auf den Augen!!

Ich wollte aufschreien, aber aus dem Schrei wurde nur ein Stöhnen.

»Was gibt's?« fragte brummig der Neger vom Tisch.

»Komm her, du schwarzer Hund!«

»Wa–as?«

»Komm her, du – schwarzer – Hund!!«

Ich hatte suchend herabgetastet an mir selber und wirklich im Gürtel den Revolver gefunden. Sie hatten ihn mir noch nicht abgenommen. Ich riß ihn aus dem Holster und nahm die Waffe in beide Hände und richtete sie auf den Neger –

»Komm her, du – –!« Seine Augen wurden groß und erschrocken, daß ihr Weiß sonderbar abstach gegen die schwarze Haut. Langsam schlich er herbei, die Augen starr auf den Revolver.

»Da! Die Augen!!« keuchte ich.

»Nicht schießen, Herr – Jesus Christus, nur nicht schießen!« stotterte der Schwarze.

»Die Fliegen!!«

»Er – spürt nichts mehr – ganz gewiß nicht...«

»Du verfluchte Bestie! Nimm ein Tuch! Deck es über ihn!«

»Ich – ich hab aber kein Tuch, Herr –«

Da hob ich den Revolver. Der Neger riß sich mit furchtbarer Kraft ein Stück Hemd von der Brust, verscheuchte die Fliegen mit heftigen Schlägen und warf den Fetzen dem Sterbenden übers Gesicht ... Surre – surre – umschwirrte es mich. Langsam hob und senkte sich der Leib des Leutnants.

»Ruhe da drüben!« murmelte von einem Strohsack gegenüber eine Stimme. »Laßt einen doch schlafen...«

Schlafen, nur schlafen.

Nichts mehr sehen wollen, nichts mehr denken müssen. Der Neger schlich zum Tisch zurück, plumpste auf den Stuhl, griff nach einer Flasche, aus der er etwas in ein Arzneiglas schüttete, und leerte es auf einen Zug. Ah! Das – Herrgott, das war Whisky – oder Rum – oder ... irgend etwas, das betäubte, Ruhe schenkte! In der Flasche dort steckte das Vergessen! Ich wollte aufspringen, aber ein furchtbarer Schmerz schoß mir durch den Leib. Schwer fiel ich zurück. Da drückte ich die eine Hand in den Bauch und wälzte mich vom Strohsack. Ich schob den Revolver vor mir her und kroch über den Boden hin. Der Neger flüchtete sich in eine Ecke. Endlich, endlich, war ich am Tisch. Packte ein Tischbein. Zog mich langsam, ganz langsam empor. Griff nach der Flasche –

»Nicht trinken, Herr!« schrie der Neger.

Gegen das Tischbein gelehnt, hob ich die Flasche mit beiden Händen, denn sie dünkte mich schwer, und trank: trank etwas, das im kranken Magen wie Höllenfeuer brannte. Der Revolver war klirrend zur Erde gefallen. Und ich trank und trank und ließ betäubt die Flasche aus den Händen gleiten und mußte gewaltig husten und war inmitten sprühender Lichtfluten und sah weißglühende Sterne tanzen. Dann wurde es wieder dunkel.

 

Stechender Schmerz über dem Herzen erweckte mich. Ich schlug die Augen auf und machte sie schleunigst wieder zu, denn das Licht blendete mich, schlug sie wieder auf und blinzelte verwundert auf die Gestalt, die sich über mich beugte. Hm... verwirrter, verwilderter Haarschopf – braunes Gesicht mit warmen gütigen Augen hinter der goldberänderten Brille – hohe Stirn mit schwerer Hiebnarbe – massige Schultern in weißer Jacke – eine lange, schmale Hand, die etwas Glitzerndes hielt... Die Hand senkte sich, und wieder verspürte ich den leise stechenden Schmerz in der Brust –

»Lassen Sie die Dummheiten!« murmelte ich ärgerlich und wunderte mich im gleichen Augenblick, wie sonderbar dünn und fade meine Stimme klang.

»Das sind keine Dummheiten!« sagte ein lachender Mund dicht über meinen Augen.

»Zu – dumm!«

»Pst – psst!« Die schmale Hand legte sich auf meine Stirn. »Sch ...! Wer wird so unhöflich sein! Wenn Sie es aber durchaus wissen wollen – die Dummheit war eine kleine Strychnineinspritzung, die Ihr Herz notwendig braucht. So! Nun wollen wir wieder schlafen!«

»Aber ...«

»Pscht! Sie haben auf der ganzen weiten Welt nichts zu tun jetzt als zu schlafen!«

Und ich machte gehorsam die Augen zu.

Am gleichen Tag noch folgte dem ersten Erwachen das zweite, und wieder kam die glitzernde Spritze, und abermals fühlte ich den stechenden Schmerz auf der Brust. Ein Löffel voll kondensierter Milch wurde mir eingeflößt.

»Pfui Deibel!« knurrte ich.

»Sagen Sie das lieber nicht!« meinte der Mann in der weißen Jacke lächelnd. »Denn diese nahrhafte Milch wird, ein Löffel jede Stunde, noch lange Ihr einziges Nahrungsmittel bilden.«

»Wieso denn? Ich – ich habe Hunger!«

»Aha! Hunger haben wir? Wir sind schon wieder ganz intelligent? Können reden und denken, nicht wahr? Schön. Wollen Sie mir versprechen, sofort wieder einzuschlafen, wenn ich Ihnen alles sage?«

»J-ja.«

Die sonderbar großen, warmen Augen sahen mich unverwandt an und die ruhige Stimme erzählte kurz, ich sei recht krank gewesen an gelbem Fieber. Jetzt aber könne ich mich wieder so gut wie gesund nennen, immer vorausgesetzt, daß ich recht viel schlafen würde in den nächsten Tagen. Überhaupt nur schlafen! Und recht geduldig sein und nicht murren. »Denn sehen Sie, wenn man vier Tage lang getobt und geschrien hat, dann ist der Körper arg mitgenommen und muß ausruhen. Schlafen Sie! Freuen Sie sich, daß Sie eine Krankheit, wie gelbes Fieber es ist, überstehen konnten!«

»Da hab ich wieder einmal Glück gehabt!« murmelte ich.

»Ganz gewiß!« sagte der Mann in der weißen Jacke. »Aber nun wollen wir wirklich schlafen!!«

Ich nickte nur.

Viele Stunden gingen noch hin in diesem Halbbewußtsein des arbeitsunfähigen Hirns, das mit dem geschwächten Körper litt und schwach war. Ich sah alles nur wie durch Schleier. Die Menschen, die Dinge um mich schienen Schatten zu sein. Dann aber regte sich gewaltig der ursprünglichste Lebensdrang: Hunger hatte ich! Fürchterlicher Hunger quälte mich. Im Wachen und Schlafen hatte ich keinen anderen Gedanken als den einzigen: Essen! Gebt mir doch zu essen! Wollt Ihr mich denn verhungern lassen? Wenn der Mann in der weißen Jacke sich blicken ließ, bat und bettelte ich um ein Stück Brot wie ein Kind, und meinen bittersten Feind sah ich in ihm, wenn er mit unerschütterlicher Ruhe mir immer erklärte, das gelbe Fieber habe meine Magenwände und meine Därme so beschädigt, daß jede andere Nahrung als flüssige mein Tod sein würde. Ich glaubte es ihm nicht. Denn ich hatte ja solchen Hunger!

Ich hörte nichts und sah nichts, sondern träumte nur vor mich hin und stellte mir vor, wie köstlich ein Butterbrot schmecken müßte – ein kleines Butterbrot. Ich träumte nicht etwa von üppigen Mahlzeiten mit vielen Gängen, sondern von Brot nur, einfachem Brot. Die Herrlichkeiten des Paradieses hätte ich dahingegeben für ein kleines Stück Brot. Ich hörte Menschen schreien in bitterer Leidensnot und wandte nicht einmal den Kopf. Die hatten ja nur Schmerzen. Ich aber hatte Hunger. Und dann kam der Tag, an dem ich vier oder fünf Löffel Suppe bekam, schlechte Tomatensuppe, aus einer Konservenbüchse zusammengepantscht, mit einem Stückchen oder zwei aufgeweichten Brots. Da dünkte ich mich glücklich und reich.

Mehr Suppe am nächsten Tag. Mehr aufgeweichtes Brot. Milch dann im Glas, nicht mehr im Löffel, dünnen Reisbrei – Suppe endlich mit viel Brot. Der Tag kam, an dem ich die zitternden Füße aus dem Bett streckte und hinauskroch und verlegen dastand, mich krampfhaft an den Eisenstangen des Betts festhaltend. Langsam fing ich an, die Dinge um mich wirklich zu sehen und wirklich zu begreifen. Mit tastenden Schritten ging es zurück ins Land der Gesundheit.

Eines Tages schlich ich hinter Doktor Gonzales her (das war der Mann in der weißen Jacke) und erwischte ihn gerade noch bei der Türe.

»Ich möchte entlassen werden,« bat ich.

Er lächelte, faßte mich am Arm und zog mich zur Türe hinaus in den grellen Sonnenschein. Kaum war ich im Freien, da merkte ich, wie schwach ich in Wirklichkeit war, denn sauer genug wurden mir die wenigen Schritte zu dem Zelt des Doktors, das auf dem Rasen vor dem gelben Gebäude aufgeschlagen war. Doktor Gonzales schüttete ein paar Tropfen Whisky in ein Glas, goß Sodawasser darauf und gab mir das Getränk. Hei, wie stark und hellhörig das machte –

»Von einem Zurückkehren zur Truppe kann keine Rede sein, Sergeant,« erklärte er. »In vier Wochen vielleicht!«

»Bin ich denn Sergeant?« fragte ich.

Da bekam ich Billys Brief und vom Doktor eine gedruckte Liste der Beförderungen im Signalkorps – ich war Sergeant ... Und ich las Billys Brief und mußte mich schleunigst hinsetzen, denn es wurde mir schwarz vor den Augen. Der Arzt lächelte.

»Sie sind noch lange nicht dienstfähig, Sergeant,« sagte er. »Zum mindesten nicht unter den Verhältnissen in Santiago. Dagegen glaube ich, daß Beschäftigung Ihnen gut sein wird. Sie können mir nützlich sein. Sie haben in Ihren Fieberzeiten Ihr ganzes Leben hinausgeschrien und – ich kann Sie brauchen.« Er wurde sehr ernst. »Die Zustände hier sind entsetzlich. Wir haben nur gelbes Fieber und Typhus in schwerster Form. Meine Hilfsmittel sind lächerlich gering. Es fehlt am Nötigsten. Ich kann weder Hilfskräfte noch Arzneimittel bekommen. Meine beiden Krankenwärter sind willig genug, aber ich müßte sechs haben nicht zwei. Ich werde Ihnen Arbeit geben, die Ihren Kräften entspricht. Sie sind also für die nächsten Wochen,« er lächelte ein wenig, »nicht mehr Sergeant erster Klasse des Signalkorps, sondern mein Assistent!«

 

Das kleine Inselchen mitten in der Santiagobai, die Gelbfieberinsel, war eigentlich die Quarantänestation des Hafens. Ein morscher Landungssteg führte vom Wasser auf ein Stück Rasen. Dann kam das Haus, eine echt spanisch verwahrloste Krankenbaracke. In den Mauern des niederen, langgestreckten Gebäudes klafften Risse. Es enthielt nur einen einzigen Raum und einen noch älteren Anbau, in dem die Wände von Wasser trieften und die Fußbodenbretter verfault waren. Hinter dem Haus lagen Bretterhütten: eine Kochhütte die eine, Kloaken die anderen, mit tiefen Löchern im Boden und Schwärmen von Fliegen. Dahinter erstreckte sich gelber Sand. Im Hause reihte sich Bett an Bett. Schwerkranke waren es alle, Sterbende viele. Hier kämpfte Tag und Nacht, in einem Alleinsein, das schrecklich gewesen sein muß, ein einziger Arzt für das Leben vieler Menschen. Als Hilfe hatte Doktor Gonzales nur zwei Krankensoldaten und mich und einen alten Kubaner, der kochen mußte und Eimer hinein und hinausschleppen und Gräber graben. Nicht einmal die nötigsten Kräftigungsmittel hatte der Arzt für die Kranken – nicht einmal reine Wäsche für sie – nicht einmal Arzneien in genügender Menge und Auswahl – nicht die Möglichkeit einmal halbwegs sorgfältiger Pflege... Es war ein fürchterliches Krankenhaus.

»Wenn ich nicht wüßte, daß sich das hier bald ändern muß,« sagte Doktor Gonzales zu mir am ersten Tag der Arbeit, als wir einen Toten hinaustrugen, »so würde ich – ja. ich weiß nicht, was ich tun würde... Aber das Hospitalschiff ist abgegangen von New York, und bei seiner Ankunft bekommen wir alles, was wir brauchen, im Ueberfluß.«

»Man könnte doch wenigstens Soldaten zur Arbeit herkommandieren!« wagte ich zu sagen.

»Damit sie sterben?« antwortete der Arzt scharf. »Sehen Sie sich doch die Kloaken an! Die Fliegenschwärme überall! Den Schmutz! Hier wimmelt es von Krankheitserregern in jedem Sonnenstäubchen. Sehen Sie sich die verfluchte gelbe Baracke nur an! Die Gelbfieber- und Typhuskeime, die in ihr stecken, könnten eine Armee auffressen. Nein, hierher kommt mir kein Gesunder! Deswegen lasse ich Sie arbeiten. Wer Gelbes Fieber gehabt hat, ist immun. Er ist gesalzen gegen Fieberkrankheiten. wie man zu sagen pflegt. Und in fünf, sechs Tagen, please God, ist das Hospitalschiff da, und dann wollen wir diesen Höllenfleck mit Karbol überschwemmen und – ja, dann wird's anders werden!«

Wir begruben den Toten.

Der Kubaner hatte ein Loch in den Sand gegraben, hundert Schritte vom Haus, auf einem winzigen Hügel, von dem die gelbe Fläche sich in sanfter Neigung zum Meer senkte. Auf dem eisernen Feldbett trugen mir den toten Mann zu seinem Grab, der Arzt und ich und der Kubaner und der Neger. Wir stellten das Bett neben das Grab, packten die Zipfel der Wolldecke, auf der der Tote lag, und hoben die Last vorsichtig über die Graböffnung. So standen wir, an einer Ecke des Grabes ein jeder, und bückten uns und knieten dann und legten uns flach hin und ließen die Leiche hinabgleiten. Aber unsere Arme reichten nicht weit genug. Das Bündel in der Decke schwebte einen halben Meter hoch über dem Boden des Grabes.

»Loslassen!« befahl Doktor Gonzales.

Ich sah, daß es nicht anders ging, daß wir uns nicht anders helfen konnten – aber doch schüttelte mich ein unbezwingbares Grauen, als die Leiche plumpsend unten aufschlug und die Wolldecke sich verschob, das geistergelbe Gesicht bloßlegend, das nun aus der Tiefe gen Himmel zu starren schien. Der Arzt nahm rasch die Schaufel vom Sandhaufen, bückte sich und schob mit dem Stiel die Decke wieder über das tote Gesicht.

»Ruhe in Ehren!« sagte er leise. »Du bist für dein Land gestorben.«

Wir nahmen die Hüte ab, und der Kubaner schickte sich an, das Grab zuzuwerfen.

Das war das Begräbnis.

Ein toter Mann wurde in der verschmutzten Wäsche, in der er gestorben war, in ein Loch geworfen – ein mürrischer Kubaner schaufelte Sand hinein – ein schwitzender Neger stand daneben und half, leise fluchend über die schwere Arbeit in der heißen Sonne. Roh war's, fürchterlich roh, nicht zum Beschreiben brutal. Und doch hätte jeder Narr sehen müssen, daß es eben nicht anders ging in der Not der Verhältnisse. Weil ich so schwach war vielleicht, erschien mir alles noch roher und furchtbarer – der trostlos öde Sand – die niederen Grabhügel links und rechts mit ihren Holzstückchen, auf denen große Nummern standen – der schmutzige, gefühllose Totengräber ...

Der Arzt sah gedankenvoll auf die Grabhügel. »Fünfundzwanzig tödlich verlaufene Fälle bis jetzt!« sagte er zu mir. »Ein verhältnismäßig günstiges Resultat!!«

Wir gingen ins Haus, während Neger und Kubaner das Grab zuschaufelten. Von Bett zu Bett führte mich Doktor Gonzales. Er zeigte mir, wie man die Schnelligkeit der Atmung maß, und wie man ungebärdige Fieberkranke durch kräftigen Druck auf das Rückenmark beruhigte, während das Fieberthermometer eingeführt wurde. Das Ueberwachen der Temperaturen sollte meine Arbeit sein. Darauf kam es, so erklärte mir der Arzt, vor allem an, denn von seinem rechtzeitigen Eingreifen beim Steigen und Fallen der Fieberkurve hing Leben und Tod ab. Auf den Neger und den anderen Krankensoldaten konnte er sich nicht verlassen. Die Leute waren nicht nur beinahe zu Tode gearbeitet mit hunderterlei Pflichten, sondern es war auch ganz unmöglich, den einfachen Menschen beizubringen, daß ein Unterschied von wenigen Graden auf dem Thermometer der Unterschied zwischen Leben und Sterben war.

»Und ich kann ja nicht überall zugleich sein!« murmelte der Arzt, und etwas Trauriges kam in sein ruhiges, kraftvolles Gesicht.

Ich schrieb mir die Namen auf von Bett zu Bett und begann meine Arbeit, während er mir zusah und bald ein Fiebermittel gab, bald eine Strychnineinspritzung machte. Dabei erklärte er mir leise, daß er sich hier so starker Mittel bediene, wie sie so leicht kein Arzt anwenden würde.

»Wir wissen so wenig von den Erscheinungen dieser Krankheit. Ihre Bekämpfung ist sogar in geregelten Verhältnissen ein Problem. Hier aber muß ich mit Keulenschlägen auf das Fieber losschlagen. Es muß herunter um jeden Preis, steigt es auf vierzig Grad: und das Herz muß gezwungen werden zur Arbeit, koste es was es wolle an Kraft, fällt es bis zu fünfunddreißig Grad.«

So ging ich von Mann zu Mann und legte die Hand auf feuchte Leiber und lernte, mit unendlicher Geduld und vielen kleinen Kniffen, Fiebermessungen zu machen bei Menschen, die sich fortwährend hin und her wälzten und keinen Augenblick still hielten. Heiße, dumpfe, schweißgeschwängerte Luft erfüllte den Raum. Vierzig Menschen lagen in eisernen Feldbetten die Wände entlang. Einige wenige, die Glücklichen, hatten Nachthemden und weiße Jacken; die meisten aber lagen in den schmutzigen blauen Flanellhemden da, in denen sie gekommen waren. Die einen waren still und schienen ruhig zu schlafen. Die anderen lallten und schrien und tobten wie lärmende Kinder. Hier schrie einer nach seiner Mutter, dort johlte ein anderer ein Negerlied, dort gab einer mit dünner zitternder Stimme kreischende militärische Befehle: »Feuer aus dem Magazin – auf dreihundert Meter – Schne–eell–feuer!!« Der Neger und der Krankensoldat liefen fortwährend auf und ab. Bald halfen sie einem ins Bett, der im Fieberwüten herausgefallen war; bald unterstützten sie sich gegenseitig, einem sich verzweifelt Wehrenden ein wenig Milch im Löffel einzuflößen; bald liefen sie zur Türe und holten die Eimer, denn schon wieder hatte ein Kranker sein Bett beschmutzt.

Da rief mich der Arzt. Auf dem Bett, an dessen Fußende er stand, lag ein junger Mensch, der kaum achtzehn Jahre zählen mochte. » Corporal Clancey, F troop, Rough Riders« hieß es auf dem Zettel an der Wand über dem Bett. Das Gesicht, das in der Krankheit eine sonderbare, fast olivengelbe Farbe angenommen hatte, war von mädchenhafter Schönheit und Weiche. Die wunderbar großen, braunen Augen glänzten irre in feuchtem Fieberglanz. Der Arzt sah bald den Mann an, bald das Thermometer, das er in der Hand hielt, und schüttelte den Kopf.

»Helfen Sie mir, ihm den Mund öffnen,« sagte er.

Ich tat es mit einem Löffel, und der Arzt schüttete dem Kranken ein Pulver in den Rachen und träufelte ein wenig Wasser tropfenweise in den regungslosen Mund. Die Wirkung war eine fast augenblickliche. Der bebende, zitternde Körper streckte sich. Die Augen schlossen sich fast ganz, und die unruhig fuchtelnden Hände sanken kraftlos auf die wollene Decke.

»Der Mann hatte über vierzig Grad.« erklärte Doktor Gonzales. »Ich fürchte, er ist nicht mehr zu retten. Bleiben Sie bei ihm, messen Sie ihn alle zehn Minuten und rufen Sie mich sofort bei Untertemperatur.«

Ich holte mir eine Kiste aus der Mitte des Zimmers – amerikanische Munitionskisten waren die einzigen Stühle in diesem Krankenhaus – und setzte mich ans Bett. Nach zehn Minuten maß ich: Sechsunddreißig.

Der Kranke lag still da. Sein Mund war halbgeöffnet. Die glänzenden Augen schienen zwischen halbgeöffneten Lidern hervorzublinzeln. Da huschte plötzlich ein Lächeln über das weiche, schöne Gesicht, als träume der Knabe einen wunderschönen Traum. Die schlaffen Hände auf der Bettdecke begannen sich zu regen und leise auf und nieder zu bewegen in langsamem Tasten. Die Hände öffneten und schlossen sich und griffen wunderbar weich zu, als suchten sie etwas. Lächelnd betrachtete ich diese Hände. Wie schlank sie waren, wie kindlich fein, wie sie erzählten von guter Rasse und sorgsam gelernter Pflege! Und wie zierlich sie tasteten – husche, husche – zugreifend – fein, ganz fein – behutsam – wie die Fingerspitzen über die rauhen Deckenhaare glitten – als suchten sie etwas – als wollten sie greifen – pflücken – – –

Da sprang ich entsetzt auf. Was war das? Dieses Tasten, dieses Suchen! Hatte mir nicht einst die alte Kinderfrau in ihren gruseligen Dämmerstundengeschichten erzählt, daß Sterbende Himmelsblumen pflückten –

»Doktor Gonzales!« schrie ich.

Er kam mit raschen, geräuschlosen Schritten von gegenüber, beugte sich über das Bett, sah scharf auf die rastlos gleitenden Hände, zog die Spritze aus dem Ledertäschchen, füllte sie und stach ein über dem Herzen. Die Hände wurden sofort still. Ich starrte wie gebannt in das Gesicht auf dem Kissen und sah in fast unmerklichem Uebergang das Gelb sich langsam röten. Dann schoß plötzlich gesunde Blutfarbe in die Wangen. Das aufgepeitschte Herz tat seine Schuldigkeit. Eine winzige Gabe eines furchtbaren Gifts hatte einen Sterbenden von den Pforten des Todes zurückgerissen.

Da schnellte in jähem Wechsel der Körper mit gewaltigem Ruck empor. Die großen Augen starrten, der Mund wollte sich öffnen, wollte schreien – aber die Kehle brachte nur lallende Töne hervor. Die Hände wurden in die Höhe gerissen und schlugen wild nach links und nach rechts, und die Füße zuckten und stießen, daß die Eisenstäbe unten am Bett dumpf klirrten. In gewaltigen Stößen schnellte der Leib auf und nieder. Der Mann wäre aus dem Bett gefallen, hätten wir ihn nicht krampfhaft gehalten. Und während ich noch verspürte, wie unter meinen Händen die zuckenden Muskeln sich wehrten, sank der Rauhe Reiter steif zurück und lag still da. Sein Mund schien zu lächeln.

»Lassen Sie ihn hinaustragen!« sagte der Arzt ganz langsam und ganz leise.

Ich legte meine Hand auf seinen Arm. »Hat er schlimme Schmerzen leiden müssen?« fragte ich entsetzt.

»Nein!« antwortete Doktor Gonzales. »Nein – aber wir wissen diese Dinge ja nicht. Er mag in Himmelsseligkeiten geschwelgt haben oder Höllenqualen erlitten in seinen letzten Sekunden im lebendigen Leib – wir wissen es nicht. Unter anderen Verhältnissen hätte ich ihn vielleicht retten können. Durch sorgfältige, ständige Ueberwachung, durch mildere Mittel zur rechten Zeit. Nach meiner besten Ueberzeugung jedoch hat der Junge nicht gelitten. Das ist ja der einzige freundliche Fleck in diesem Höllenbild: Sie wissen es nicht, unsere Kranken, wie elend es ihnen geht! Sie wissen nicht einmal, wie krank sie sind!!«

 

Nein, sie wußten es nicht.

Ein Mitleid, wie ich es nie in meinem Leben gekannt hatte, packte mich, wenn ich von Bett zu Bett, von Mann zu Mann schritt: ein Mitleid, das mich stark machte, denn es ließ vergessen, wie schwach ich selbst noch war. Die Männer des Krieges waren zu Kindern geworden. Das unbegreifliche, geheimnisvolle Walten der Fiebermächte hatte den rauhen Soldaten alles genommen, was stark und männlich und roh und brutal an ihnen war. Nicht äußerlich hilflos nur waren sie geworden wie Kinder, sondern kindlich im Geist in allen ihren Lebensäußerungen. Weich und anschmiegend, dankbar über alle Maßen für ein gutes Wort, für ein Streicheln, das sie im Fiebertraum zu empfinden schienen und mit einem Lächeln beantworteten. Die wenigen, die auf dem Wege der Besserung waren, hatten alle Hunger. Aber sie fluchten nicht und zeterten nicht nach Soldatenart, sondern sie bettelten alle um Milch, sie baten um Brot – wie ein Kind seine Mutter bittet. Sie lachten lustig im Fieberlallen und sangen Lieder, die sie ganz gewiß nicht gesungen hätten bei gesunden Sinnen. Das nur und das nur allein machte die Hölle erträglich. Man sah selbst all das Furchtbare mit kindlichen Augen, ohne viel nachzudenken darüber... Es mußte so sein – das mit den übelriechenden Eimern – das mit den schmutzigen Blechlöffeln, mit denen man von Mann zu Mann ging. Milch fütternd, ohne sie abzuwischen oder gar zu waschen – das mit den Kloaken draußen, die fürchterliche Pestluft in den Raum strömen ließen, wenn man im Ein- und Ausgehen die Türen öffnete. Es mußte so sein, denn es war nun einmal nicht anders.

Und ich maß und maß und fütterte hilflose Menschen mit Milch und wusch beschmutzte Menschen aus einem schmutzigen Eimer mit einem schmutzigen Fetzen eines alten Hemdes. Ruhe gab es keinen Augenblick. Bald schritt der Arzt meine Bettseite ab, bald ich die seine. Dutzende Male mußte ich ihn rufen, weil die Fieberbilder sich fortwährend veränderten.

Am Spätnachmittag war der Neger verschwunden. Doktor Gonzales und ich suchten endlich nach ihm und fanden den armen Kerl in einer Ecke bei einer Kloale, dumpf vor sich hinstarrend. Der Sandboden zeigte, daß er sich erbrochen haben mußte. Jetzt sah ich den Arzt zum ersten Male erregt.

»Herrgott, nimmt es denn kein Ende?« schrie er. »Neger sind doch sonst immun! Muß denn das verfluchte Fieber gerade den schwarzen Krankensoldaten packen, den ich brauche!«

Mit vieler Mühe trugen wir ihn hinein und legten ihn auf das Bett, auf dem vor kurzem der Rauhe Reiter gestorben war. Die Leiche hatten wir draußen in einer schattigen Ecke auf dem Boden liegen lassen müssen, um das Bett frei zu bekommen. Und wieder ging es an die Arbeit, mit einem Mann weniger. Gegen Abend wurden die Kranken ruhiger und die Fiebertemperaturen gleichmäßiger.

»Wir wollen schnell etwas essen,« sagte Doktor Gonzales, »– dann den Toten beerdigen – und dann müssen Sie Ruhe haben. Sie können in meinem Zelt schlafen, damit Sie wenigstens in frischer Luft sind.«

Wir aßen ein Gemengsel von Reissuppe und Brot und tranken dünnen Tee, und ich durfte eine halbe Zigarette rauchen, die mir wie ein Göttergeschenk erschien.

»Und jetzt müssen wir wieder Totengräber spielen!« sagte Doktor Gonzales, halb lächelnd, halb traurig.

Das Grab war gegraben. Er rief den Kubaner und den Krankensoldaten, und zusammen trugen wir den Knaben, der sich die Himmelsblumen erpflückt hatte, zu seiner Ruhestätte im heißen Kubasand. Tiefe Finsternis umhüllte die Insel des Gelben Fiebers, denn Nacht folgt auf Tag im kubanischen Land ohne Uebergang. Der Arzt, der neben mir schritt, trug eine Laterne, die trübe brannte und das Dunkel nur in winzigem Umkreis erhellte. Stolpernd, suchend, tappten wir vorwärts mit unserer Last, fanden den Sandhügel, fanden das Grab. Wir schlugen die Decke auseinander, faßten die Zipfel an, hoben den Körper über die schwarze Oeffnung im Sand, bückten uns –

Da fühlte ich, wie der Sand unter meinen Füßen nachgab, und griff mit der freien linken Hand in den aufgeworfenen Sandhaufen, mich zu stützen. Aber ich rutschte. Ich rutschte langsam. Ich rutschte immer mehr. Da packte mich jähes Entsetzen, und ich ließ den Zipfel der Decke los, mochte auch die Leiche hinabstürzen. Aber im gleichen Augenblick bröckelte der Boden unter meinen Füßen weg. Ich schrie gellend auf. Wie ein Tier brüllte ich. Ich hörte jemand fallen mit mir – hörte die Laterne klirren.

Und stand in furchtbarer Finsternis in einem tiefen Loch und schrie wie ein Verrückter und trampelte auf etwas entsetzlich Weichem herum und wußte, daß die Masse unter meinen Füßen der Rauhe Reiter war. Ich brüllte – ich brüllte in einem hysterischen Grauen ohne Grenzen. So schwach und elend war ich noch nach dem langen Kranksein. Mit den Nägeln krallte ich mich in die Sandwand ein und versuchte mich emporzuziehen, und sprang. Aber der lose Sand gab unter meinen Fingern nach, und ich prallte in hartem Stoß auf das nachgebende weiche Fleisch, das sich zu rühren und lebendig zu werden schien. Als ob der tote Mann nach mir greifen wollte – mich festhalten – – – »Hilfe!« brüllte ich.

Da flammte ein Zündholz auf, eine eiserne Faust packte mich, zog, half mir. Und ich sank erschöpft auf den Sand. Ich hörte, halb bewußtlos, wie das Grab zugeschaufelt wurde und spürte, wie der Arzt mich unter dem Arm faßte und mir aufhalf. Der Kubaner schritt mit der wieder angezündeten Laterne voran. Als wir in seinem Zelt waren, sprach Doktor Gonzales kein Wort, sondern goß nur mit zitternder Hand ein wenig Whisky in ein Glas und gab es mir zu trinken. Auch er trank. Dann setzte er eine kleine silberne Spritze an meinen Arm ...

 

Mit dem Morgen begann wieder das Tagewerk. Es setzte sich fort durch zehn Tage hindurch, im gleichen Raum, unter den gleichen Verhältnissen, im gleichen schrecklichen Einerlei der Hilflosigkeit, und viele Menschen sah ich sterben in diesen Tagen. Die einen schliefen ermattet ein, die andern starben in kämpfendem Sichaufbäumen. Aber sie kämpften im Fieber nur und wußten es nicht und erlitten keine Todesangst, denn der Fiebertod ist ein gütiger Tod. Und ich half die Lebenden füttern und in ihren Körpern nach dem geheimnisvollen, unberechenbaren Auf und Nieder der Fieberkobolde spüren, und oft dünkte es mich, als sei das kleine Quecksilberwerkzeug eines der großen Wunder der Welt. Gar schnell hatte ich mich an den Jammer und das Elend gewöhnt und sah stumpfe, alltägliche Notwendigkeit im alltäglichen Erleben von Grauen und Sterben. Heute, im rückschauenden Betrachten, weiß ich, daß es eine Hölle war, in der ich lebte damals. Eine Hölle –

Am zehnten Tag jedoch ward der Insel der Verdammten Hilfe. Boote landeten. Junge Frauen in schneeweißen Kleidern schritten über den Rasen vor dem gelben Haus. Sie sprachen nicht viel, sie fragten nichts, sondern packten Wäsche aus und bekleideten die Kranken und wuschen sie. Sie putzten und säuberten und pflegten.

Man stand da, wollte seinen Augen nicht trauen, glaubte, ein Wunder zu erleben. Kiste auf Kiste, Korb auf Korb, Sack auf Sack wurde aus den Booten an Land geschafft. Es war, als wollte das reiche Volk eines reichen Landes in verschwenderischem Geben gut machen, was die Not des Krieges an den armen Männern auf der Insel des Gelben Fiebers gesündigt hatte. Da waren schwere Weine in ungezählten Flaschen und teurer Schaumwein in ganzen Körben und feine Hemden und große Schinken und Fleisch und Eßwaren in sorgsam geschlossenen Blechbüchsen und weißes Brot. Zelte erstanden auf dem Rasen und auf dem Sand. Das gelbe Haus wurde mit Karbol überschwemmt und verlassen, denn die Kranken sollten nun in luftigen Zelten liegen. Wie ein Märchen war es.

Am Spätnachmittag führte mich der Arzt in sein Zelt. Er füllte zwei Gläser mit Schaumwein, trank mir zu und sagte mit lachenden Augen:

»Hier endet Ihre Arbeit, Sergeant!«

Zwei Wochen aber blieb ich noch im Aerztezelt, denn Doktor Gonzales verweigerte mir immer wieder lachend den Gesundheitsschein.

 

Die Wandlung war groß.

Nicht nur äußerlich veränderten sich die Dinge auf der Gelbfieberinsel: das Elend in Ueberfluß, der Schmutz in Sauberkeit, das ohnmächtige Zusehenmüssen in kraftvolles Eingreifen mit reichen Mitteln – sondern auch im Tiefsten. Die kleine Welt um uns schien anders. Es war, als liege ein gar fremdartiges, sonderbares Klingen in der Luft. Wie wiegender schmeichelnder Walzerklang.

In harter Männerwelt hatte man gelebt viele Wochen lang. Sich gebalgt mit dem Feind. Nicht viel Federlesens gemacht um Hunger und Strapazen und Wunden. Das ging einmal nicht anders. Man war marschiert und hatte gefochten – im Dreck kampiert, gefiebert auf den Hügeln – – – Der Tag brachte es mit sich. Was war weiter dabei!

Da tönte der neue Klang.

Was uns Selbstverständliches, Alltägliches gewesen war, schien den jungen Frauen, die uns pflegten, eine Wunderwelt. Sie waren freiwillige Krankenschwestern, aus guten amerikanischen Familien. Ideale Begeisterung hatte sie nach Kuba geführt, ihr Scherflein beizutragen im Krieg. Sie sahen keine Selbstverständlichkeiten: sie sahen die Dinge mit ganz anderen Augen an. Für sie waren die blassen genesenden Männer in den Zelten alle mitsammen Helden, die heldenhaft mit Tod und Teufel gekämpft hatten.

Sie setzten sich auf die Betten zu den Kranken, auf die Feldstühle vor die Zelte zu den Genesenden, und baten und bettelten so lange, bis ihnen die Geschichten von der Schlacht vom San Juan-Hügel und vom Lagerleben und vom Krankheitselend immer und immer wieder erzählt wurden. Dann glänzten ihre Augen, und sie wurden weich und wußten gar nicht, was sie einem alles Gutes antun sollten. Ich hab's hundertmal selber erlebt und hundertmal mit angehört–

»Was mußt du gelitten haben, du armer Junge!«

»Hm – eh – 's ist nicht so schlimm gewesen,« war gewöhnlich die verlegene Antwort.

»Oh, du armer Junge! Soll ich dir ein Schlückchen Wein bringen?«

» Oh yes, please. Thank you, miss!«

»Du mußt nicht Fräulein zu mir sagen. Ich bin Schwester Irene. Du – bist du denn nicht fast gestorben vor Angst, du armer Junge, als du den fürchterlichen Hügel hinaufstürmen mußtest?«

»Nee!«

»Aber es muß doch entsetzlich gewesen sein!«

»Ja. Da kletterte einer vor mir« (der Erzähler war ein junger Sergeant der 5. Regulären), »der zappelte immer mit den Beinen und ich mußte höll – hm – sehr aufpassen, daß mir der verfl ... hem – der Kerl nicht ins Gesicht trat. Es war scheußlich!«

»Und die Todeskugeln!«

»Oh, an die Schießerei hatte man sich gewöhnt!«

Und keinen einzigen Mann gab es auf der Insel des gelben Fiebers, der nicht seinen wohlgefüllten Sack voller Heldenruhm eingeheimst hätte. Zuerst war das etwas Unbehagliches. So prahlhänsig kam man sich vor. Man horchte immer scheu zum Nachbar hinüber, ob der nicht lachte, wenn Schwester Irene oder Schwester Edith oder Schwester Lizzie einem dickgestrichene Heldenkomplimente machte. Aber gar bald wirkte die Bewunderung merkwürdig wohltuend. Es war doch sehr nett, in schönen Augen immer wieder lesen zu dürfen: du bist ja ein famoser Junge! Sie fanden sich prachtvolle Menschen gegenseitig, die bewundernden Frauen und die bewunderten Männer. Sie gingen miteinander spazieren im Inselland halbe Nächte lang. Genesende und ihre Pflegerinnen. Sie saßen immer zusammen und tuschelten und hatten sich schrecklich viel zu sagen. Man wurde arg verwöhnt auf der Gelbfieberinsel in jenen Tagen.


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