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Bei der amerikanischen Zeitung.

Bob bei den Münchner Neuesten Nachrichten. – Die armen Teufel von deutschen Journalisten. – Ein Münchner Zeitungspalast. – Im amerikanischen Reporterzimmer. – Wie das Zeitungsbaby sein Handwerk erlernte. – Das Geheimnis der Presse. – Im Presidio. – Ich lerne telegraphieren. – Die Sprache des Kupferdrahts. – Telegraphisches Lachen. – Vom großen Lebenswert.

Ein Jahr mag es her sein oder zwei, als ich in meiner Vaterstadt München einen alten amerikanischen Zeitungsfreund auf der Straße traf. Wir gingen zunächst zum Frühschoppen ins Hofbräuhaus, und gegen Ende der zweiten Maß weinte Bob beinahe. Zu traurig fand er es, daß einer, dem es einmal vergönnt gewesen war, die Nase in die Welt der amerikanischen Zeitung zu stecken, sich nun für deutsche Zeitungen plagen und schinden mußte!

Er nahm die Münchner Neuesten Nachrichten vom Tisch und zerknüllte sie.

» You poor devil!« sagte er. »Du armer Teufel – du ganz armer Teufel. Euer Bier ist ein Wunder! Eure Gemütlichkeit ist prachtvoll! Eure Kunst ist grandios! Aber eure Zeitungen – großer Gott, Mann, das ist doch keine Zeitung – das ist ja ein Miniaturblättchen – damn it, das ganze Dings da, das sich eine Zeitung nennt, hat nicht einmal Raum genug für einen einzigen anständigen Prozeßbericht!« Worauf er des weiteren ausführte, daß es ihm ja an und für sich schon unverständlich sei, wie irgend jemand irgend wo anders leben könne als in God's Country, im Lande Gottes, in den gottbegnadeten Vereinigten Staaten, denen zur absoluten Vollkommenheit nichts, aber auch nichts fehle, als das nicht weniger gottbegnadete Bier der Kunststadt München. Ein ewiges, mit sieben zolldicken Brettern vernageltes Geheimnis jedoch sei und bleibe es ihm, daß einer, dem es vergönnt gewesen sei – – usw. usw.

Ich lachte und führte ihn in das Gebäude der Münchner Neuesten Nachrichten.

Die Männer der Münchnerin sind allezeit gastfreundlich und gar liebenswürdig gegen ihre Mitarbeiter, wovon der, der dieses Buch schrieb, ein dankbar Lied zu singen weiß. Bob bekam manches zu sehen und manches zu hören. Wir plauderten mit dem Feuilletonredakteur über das Wesen des künstlerischen Feuilletons (das dem amerikanischen Journalisten ein Buch mit sieben Siegeln ist) – wir unterhielten uns mit dem Mann der inneren Politik über den Leitartikel (der den Zeitungen Amerikas etwas völlig Nebensächliches bedeutet) – wir suchten die Lokalredaktion heim, und ihr Schriftleiter benutzte natürlich die gute Gelegenheit, ein nettes Interview über die Münchner Eindrücke des amerikanischen Journalisten herauszuschinden.

»Gut!« sagte Bob draußen auf dem Korridor. »Verdammt gut! Die Leute verstehen ihr Geschäft. Sie haben ihre Arbeit lieb. Schade nur, daß den armen Teufeln so lächerlich wenig Zeilenraum zur Verfügung steht.« Dann blieb er kopfschüttelnd stehen. »Da sagt man immer, in Germany seien die Leute so überaus vorsichtig mit ihren Dollars!« brummte er. »Aber ich will gehängt werden, wenn's bei uns eine einzige Zeitung gibt, die ihre Leute auch nur annähernd so luxuriös beherbergt wie das Blättchen da! It's remarkable!«

Immer erstaunter wurde sein Kopfschütteln, je mehr der Räume der Redaktion er sah. Da waren Möbel, deren jedes Stück ein großer Künstler entworfen hatte, und Wunder von künstlerischen Schreibtischen und Beleuchtungskörper aus Bronze und kostbare Klubsessel und zauberhafte Tapeten und Perserteppiche und Jugendoriginale an den Wänden, und von der Hast und der Hetze des Zeitungslebens war äußerlich aber auch gar nichts zu sehen. Leise nur wie ein Summen drang das Dröhnen und Stampfen der riesigen Rotationsmaschinen aus dem betonumpanzerten Erdgeschoß. Dann plauderten wir wieder mit anderen Männern, und Bob sah, daß der Zeitungsgeist ein Weltgeist ist und die Zeitungsarbeit überall die gleiche, gewaltige, gigantische trotz aller Unterschiede der Art und des Formats. Er gluckste vor Wonne, als wir hinübergingen in das Reich der »Jugend« und Saal auf Saal der wundervollsten Kunstdruckmaschinen durchschritten, der vielen Dutzende stählerner Bilderzauberer, die noch viel wunderbarer sind als das größte Rotationsungetüm.

»Gut – gut – verdammt gut!« sagte Bob. »Aber wenn ich mich nicht sehr irre, so habt ihr doch eins nicht: Unseren amerikanischen Reporter...«

Da lachte ich und gab keine Antwort. Denn meine Zeiten amerikanischen Reportertums sind mir wie ein liebes Märchen erster Jugendliebe, und ein gar verknöcherter Kritikus muß der sein, der Zeiten erster Liebe kritisch urteilend betrachtet. Ich glaube nicht, daß wir in der deutschen Zeitungswelt gerade amerikanische Reporterart haben. Ich weiß nicht einmal, ob es wünschenswert wäre, hätten wir sie. Ich weiß nur, daß mein eigenes Erleben als zwanzigjähriger Lausbub im amerikanischen Zeitungsdienst mir eines der Jugendmärchen bedeutet, von denen man zehrt in den Tagen der Reife.

 

Aeußerlich war nichts Märchenhaftes daran.

Der Tag eines Reporters beim San Francisco Examiner begann mit Arbeit, war ausgefüllt mit Arbeit, endete mit Arbeit, und des Nachts träumte man von der Arbeit.

Als ich zum erstenmal meinen Platz an einem Ecktisch im Reporterzimmer einnahm, kam ich mir so unendlich hilflos, so geistesarm, so über alle Maßen unfähig vor, daß ich am liebsten wieder davongelaufen wäre. Ich starrte auf das weiße Papier, das vor mir lag, betrachtete das Tintenfaß, sah mißtrauisch auf die Schreibmaschine auf dem kleinen Tischchen neben mir und wunderte mich, was in Dreikuckucksnamen ich nun eigentlich anfangen sollte. Zwölf Männern, dem gesamten Reporterstab der Zeitung, war ich hintereinander vorgestellt worden, und ein jeder hatte gelächelt und ein jeder irgend etwas Liebenswürdiges gesagt, um sich dann in keiner Weise mehr um meine gräßlich verlegene Wenigkeit zu bekümmern. So saß ich da, mit dem krampfhaften Gefühl, daß es die Aufgabe eines Reporters war, irgend etwas zu schreiben. Aber was, zum Teufel?

Ueberall um mich klapperten Schreibmaschinen. Die Türe wurde fortwährend aufgerissen, und Leute kamen herein und gingen hinaus. Meine neuen Kollegen schwatzten und lachten – mitten in ihrer Arbeit. Wie es möglich sein konnte, in diesem Höllenlärm einen vernünftigen Gedanken zu Papier zu bringen, war mir vorläufig ein Rätsel.

Es roch nach frischer Druckerschwärze. Papier bedeckte knöcheltief den Boden, allerlei Papier, handbeschrieben, maschinenbeschrieben, bedruckt. Die Wände entlang standen zerschnitzelte und tintenbeschmierte Pulte und kleine Tischchen, auf denen blanke Schreibmaschinen thronten. Die eine Schmalseite des Zimmers nahm der Bücherständer ein mit seinen unzähligen Nachschlagewerken. Eine Notiz in roter Tinte besagte, daß der Sünder, der dabei ertappt würde, ein Buch nicht an seinen richtigen Platz zurückzustellen, zu Pön und Strafe jedem Anwesenden ein Glas Bier zu stiften habe. Da waren Telephone an den Wänden und der elektrische Meldeapparat der Feuerwehr und das Spezialtelephon zum Polizeihauptquartier und eine Karte von San Franzisko und ein Tisch stand in der Zimmermitte, fußhoch mit den neuesten Zeitungen bedeckt. Ueberall glitzerten elektrische Glühbirnen, denn der Raum war zu groß, als daß das einzige Fenster selbst am hellsten Sonnentag ihn hätte erleuchten können. Die geweißten Wände waren dicht bekritzelt. Gegenüber der Eingangstüre stand in großen Lettern:

»Fremdling, der du hier eintrittst, mach schleunigst, daß du wieder hinauskommst, denn unsere Zeit brauchen wir selber!«

Und darunter deutete eine roh hingezeichnete Hand auf den großen Schreibtisch in der Ecke beim Fenster:

»Allan McGrady, Lokalredakteur, Oberbonze, Hohepriester! Achtung, der Kerl beißt!!«

Und mit einemmal waren alle die Männer verschwunden und der Raum leer. Nur der Mann, der biß, war noch da. Er sah von seiner Arbeit auf und rief mich beim Namen.

»Mr. McGrady?«

Allan McGradys scharfe Augen blinzelten vergnügt über die Ränder der goldenen Brille hinweg. Ein Lächeln huschte über das scharfgeschnittene, glattrasierte Gesicht. »Sagen Sie lieber gleich Mac zu mir, mein Sohn,« meinte er grinsend, »denn in ein paar Tagen tun Sie es doch. Hier hat jeder seinen Spitznamen, und ich werde wohl Mac genannt werden bis zu meinem seligen Ende. Ihren Spitznamen kann ich Ihnen übrigens prophezeien: als jüngster Reporter sind Sie und bleiben Sie das baby bis Einer kommt, der noch jünger und noch dümmer ist wie Sie!«

Ich muß ein sehr verblüfftes Gesicht gemacht haben –

»Wenn ich sage dumm, so meine ich das natürlich nur im Reportersinn, und hoffentlich werden Sie auch in diesem Sinne in etlichen Monaten nicht mehr dumm sein. Und nun will ich Sie ein bißchen orientieren, mein Sohn. Hier gibt's keine Herren und keine Knechte. Wir sind alle zusammen Arbeiter im Dienste der Zeitung, und in unserem Leben darf und kann es nichts Wichtigeres geben als die Zeitung. Sie ist es, die uns vereint. Wir sind eine große Familie. Wir teilen unsere Zigarren und unseren Whisky, manchmal sogar unser Geld – nun, Sie werden das sehr bald herausbekommen. Wir sind alle Blutsbrüder. Wenn Sie etwas nicht wissen, fragen Sie Ihren Nachbar. Wenn Sie etwas bedrückt, kommen Sie zu mir... Halten Sie vor allem den Kopf hoch und lassen Sie sich nicht verblüffen! Sie werden ganz von selber sehen und hören und lernen – und weder ich noch irgend jemand kann Ihnen da viel helfen. Der Journalist muß einem im Blut stecken, und wer's nicht in sich hat, wird's nie! Und nun –«

Er teilte mir meine erste Arbeit beim Examiner zu.

Um neun Uhr morgens versammelte sich die Reporterschar im Reporterzimmer, während Mac schon eine Viertelstunde vorher sich an seinem Schreibtisch eingefunden hatte. Eine selbstverständliche Voraussetzung war natürlich, daß jeder der »Herren des Stabes« nicht nur das eigene Blatt, sondern auch die anderen Morgenzeitungen San Franziskos beim Frühstück gründlich gelesen hatte. Diese morgendliche Konferenz hatte immer eine lustige und eine etwas weniger lustige Seite. Man lachte und plauderte und spielte allerlei Schabernack, Mac so gut wie wir alle, bis er auf einmal zu Mr. Allan McGrady wurde und seine berühmte Geste der Ernsthaftigkeit annahm. Er pflegte dann die Hände in die Hosentaschen zu stecken.

Kurz, scharf, sacksiedegrob war seine Rede –

» Baby!« (Das war ich!) der » Call« (das war eine Morgenzeitung San Franziskos) hat Ihre Geschichte über den Mann, der total betrunken im Citygefängnis eingeliefert wurde und in dessen Taschen man 15 000 Dollars fand, ebenfalls gebracht. Das ist traurig und von Ihnen unrecht. Wenn Ihnen ein Polizeisergeant – welcher war es?«

»McBride.«

»Aha – McBride. Wenn Ihnen McBride guten Stoff erzählt, so sorgen Sie gefälligst dafür, daß er von da ab seinen Mund hält und vor allem den Call-Leuten gegenüber nichts ausplaudert. Wie Sie das machen, ist mir egal!«

»Aber Mac, Sie haben neulich doch geschimpft wie unsinnig, als ich dem andern Sergeanten fünf Dollars gab, damit – –«

»Ganz richtig, mein Sohn! Das macht man auch nicht mit Geld, denn Geld ist rar, sondern mit Liebenswürdigkeit und Schlauheit. Mann, strengen Sie ihren Witz an! Bin ich vielleicht eine Amme und in alle Ewigkeit verdammt, Sie an dem Quell der simpelsten Weisheit lutschen zu lassen?« Ich war tief beschämt.

»Na, die Sache ist übrigens bei uns besser als im Call. Johnny (das war Chefredakteur Lascelles) läßt Ihnen sagen, die Geschichte sei fidel und nicht übel ...«

Das war McGradys Art der Anerkennung.

So wurde allmorgendlich Spalte für Spalte der Arbeit des vorhergehenden Tages durchbesprochen und einem immer wieder eingehämmert, daß es für den, der im Reporterzimmer hausen wollte, nichts auf der Welt gab und geben durfte als ein einziges Interesse und eine einzige Liebe: Die Zeitung und die Interessen der Zeitung. Erstens die Zeitung und zweitens die Zeitung und drittens überhaupt nichts als die Zeitung!

Der Lausbub fühlte sich in der Luft des Reporterzimmers bald so wohl wie ein Fisch im Wasser. Weil er jung war und einen Schuß Enthusiasmus im Blut hatte, schien ihm das, was in Wirklichkeit ernstes und hartes Schaffen war, ein lustiges, kinderleichtes Spiel. Immer neu und eigenartig. Immer lockend. Immer aufregend. Holtergepolter ging's mit der Arbeit den ganzen Tag hindurch bis spät in die Nacht hinein. Das Zimmerchen in der Donnellystreet bei Madame Legrange sah mich nur zum Schlafen. Im Eifer merkte ich gar nicht, daß ich ein »hart gerittener Gaul« war und beim Examiner in einem einzigen Tag mehr lernen mußte, als das anspruchsvollste Professorenkollegium eines Gymnasiums in einem ganzen Wochenpensum verlangt hätte...

Denn der gute Wille und das bißchen Talent taten's noch lange nicht. Eine ungeheure Menge von Material mußte ich verdauen und einen Wust faktischen Wissens mir aneignen, vor dem ich entsetzt zurückgefahren wäre, hätte ich auch nur eine Ahnung gehabt, daß ich ja gar nicht spielte, sondern »büffelte«. Aber die Zeitung hatte ihre eigene Art, zu lehren und lernen zu lassen. Sie appellierte an Ehrgeiz und Ehrgefühl und Kraft, indem sie Vertrauen schenkte. McGrady ließ es mich nie fühlen, daß ich Anfänger und Lehrling war, und seine leitende Hand führte weiche Zügel. Vom ersten Tag an bekam ich wie alle anderen meine Aufgaben zugeteilt und arbeitete in allen Abteilungen des Nachrichtendienstes. Ich wurde aufs Polizeihauptquartier geschickt und zu den einzelnen Polizeisergeanten, assistierte bei der Berichterstattung in großen Kriminalfällen, wurde bei den lokalen politischen Größen eingeführt und im Hafendienst verwendet. Ein lächelnd gegebener Rat, wie von Gleichstehendem zu Gleichstehendem, als wortkarge Selbstverständlichkeit hingeworfen, eine lustige Derbheit, die niemals etwas Verletzendes hatte, ein Wort hier, ein Wink dort, die stete Fühlung vor allem mit Männern, die ihre Arbeit kannten und liebten und gute Kameraden waren, wie ich sie im Leben selten gefunden, zeigten mir bald die richtigen Wege.

Das Problem war einfach genug. Wer Nachrichten einholen wollte, durfte sich nicht auf Auge und Ohr verlassen, sondern mußte sehr genau wissen, wer die Männer waren, die Nachrichten geben konnten, und was die Nachrichten selbst bedeuteten.

»Die Hauptsache müssen wir immer schon wissen, ehe wir zu fragen beginnen,« pflegte McGrady trocken zu sagen.

Das war das Grundprinzip und leicht zu begreifen. Wenn ich zum erstenmal zu einem hohen Beamten der Stadt geschickt wurde, um eine wichtige Auskunft einzuholen, so mußte ich wissen, wer der Mann war, was er geleistet hatte, welche Tragweite die Angelegenheit in Frage hatte. Das Wissen lieferte die Zeitung selbst. Man drückte auf einen elektrischen Knopf, und einer der Pagen erschien. Der bekam einen Zettel. Auf diesen Zettel hatte man zum Beispiel geschrieben: John McAIlister, Schatzmeister San Franziskos. Neubau der Wasserwerke. In wenigen Minuten kam der Page zurück, mit zwei blauen Aktenmappen, numeriert und überschrieben: Schatzmeister McAllister – Wasserwerke. Ihr Inhalt waren die Ausschnitte aus dem Examiner aus allen Nummern, in denen Artikel oder Notizen über McAllister und die Wasserwerke gebracht worden waren. Die überflog man und wußte nun über den Mann und die Sache, was zu wissen war. Ein Hilfsmittel von unschätzbarem Wert war diese ausgezeichnete Registratur, ein wahres Tischlein-deck-dich für den Zeitungsmann. Ein Redaktionssekretär hatte tagaus tagein nichts zu tun, als jede Zeitungsausgabe in ihren einzelnen Artikeln und Notizen zu klassifizieren, zu registrieren, und die Akten in musterhafter Ordnung zu halten. Nichts fehlte, von der großen Politik bis zu einer Statistik aller Großfeuer. So wurde jede einzelne Arbeitsaufgabe zu einer Quelle des Wissens. Man lernte jeden Tag, jede Stunde im Tag. Die vielen Menschen, mit denen ich zusammenkam, und die vielen Dinge, mit denen ich mich beschäftigen mußte, waren wie immer neu vorbeihuschende, farbenbunte, lebenspackende Bilder. Die Zeitung wurde zum Götzen; das Reporterzimmer zum Heim, in dem man oft aß, immer sein Glas Bier trank, wo man sich wohl fühlte wie nirgends. Ich würde jeden ausgelacht haben damals, der mir gesagt hätte, daß ich Zeitungsleben und Zeitungsarbeit auch nur auf eine kurze Spanne Zeit freiwillig aufgeben könnte. Und tat es bald darauf doch... Es gibt noch stärkere Reize. Aber sie sind selten. Wenige Arten tätigen Schaffens wohl vermögen einen Menschen so mit Leib und Seele einzufangen wie der Zeitungsdienst. Ein Wirbel tollen Lebens war es, in dem ich stand. Wenn man arbeitete, hatte man die Wirklichkeit unter den Fingern: die Menschen, wie sie lebten, und die Dinge, wie sie sich zutrugen: immer neue Menschen und immer andere Dinge. Das Schauen und Erleben, das andere Männer der Arbeit in kargen Freistunden suchen mußten, gab die Zeitung im Dienst.

Das war das Geheimnis des San Francisco Examiners, und es ist und bleibt das Geheimnis der Presse – aller großen Zeitungen aller Länder und Sprachen. Die Zeitung bannt die Männer, die ihr dienen, in einen Zauberkreis. Sie verlangt Unerhörtes an Arbeitskraft und Hingebung, aber Unerhörtes gibt sie auch. Sie schenkt ihren Männern brausendes Leben und gewaltige Macht. Das flüchtig hingeschriebene Wort eines Zeitungsmannes spricht zu Hunderttausenden. Es vermag hunderttausend Meinungen zu beeinflussen, vermag Großes in Gutem und Bösem. Wem ihre Spalten offenstehen, der ist Führer und Lenker und Erzieher von Tausenden, ohne daß diese Tausende auch nur seinen Namen kennen –

»Wir sind Männer ohne Namen,« sagte Allan McGrady einmal lächelnd in einer abendlichen Plauderstunde. »In jedem von uns steckt ein Stückchen romantischen Narrentums. Wer kennt uns? Einige Verleger, einige Redakteure, einige Freunde vom Bau. Die große Masse, zu der wir sprechen, kennt uns nicht. Ob ich unter einen Artikel Allan McGrady schreibe oder Hans Jakob Ypsilon, ist ganz gleichgültig – von tausend Lesern sieht kaum einer nach dem Namen. Wir könnten ebensogut Nummern tragen. Die Zeitung verschluckt uns mit Haut und Haaren und Persönlichkeit.« Er lachte. »Und das bißchen Geld? Du lieber Gott, der Mann im Wolkenkratzer da drüben, der altes Eisen billig kauft und teuer verkauft, verdient zehnmal mehr als wir alle zusammen. Und wenn wir einmal alt werden und nicht mehr können, dann wirft man uns aus dem Zeitungstempel und setzt uns auf die Straße. Deswegen sind wir im Grunde alle Narren, liebe Kinder. Ich bin ein Narr, und du bist ein Narr, Jack Ferguson, und du bist auch ein Narr, baby

»Würdest du deine Arbeit an der Zeitung aufgeben, Mac, wenn du eine Million erbtest?« fragte grinsend Jack Ferguson, der älteste Reporter.

»Nein, natürlich nicht!«

»Siehst du!« »Well, das ist eben das Narrentum!« brummte Allan McGrady.

»Oh nein,« sagte Jack Ferguson fast feierlich. »Es ist mehr. Es ist das kuriose Etwas, das den Soldaten vorwärtstreibt. Es ist jenes sonderbare Etwas, das hoch über Geld und Geldeswert steht – – –«

»Schrumm, schrumm,« sagte Allan McGrady. »Prosit Kinder!«

Das kuriose Etwas war die Begeisterung. In ihr wurde die Arbeit zum Spiel. Zum Sport. Man tat eigentlich nichts anderes den ganzen lieben Tag, als nach Arbeit zu suchen und sich der Arbeit zu freuen. Unser Vergnügen sogar hing sicherlich irgendwie mit der Zeitung zusammen. Wenn man im Reporterzimmer plauderte, unterhielt man sich über die neueste Wendung in den politischen Verhältnissen oder über den letzten Kriminalfall oder den schwebenden, noch nicht ganz aufgedeckten Spitzbubenstreich der Stadtväter San Franziskos. Es war einem eben zur Manie geworden, sich nur für das zu interessieren, was die Zeitung interessierte.

 

Zu all der Arbeit in den Babyzeiten kam noch besonderes technisches Lernen, das in sonderbarer Zufälligkeit meine nächste Zukunft stark beeinflussen sollte. Ich lernte telegraphieren. Die Examinerleute hatten damals die Marotte, die Sprache des Kupferdrahtes gründlich zu erlernen, denn das konnte für die Zeitung sehr wichtig sein. Unser Lehrmeister war ein liebenswürdiger amerikanischer Offizier, Oberleutnant Green, der Chef des militärischen Signaldienstes im Departement von Kalifornien. Drei, viermal in der Woche fuhren wir zum Presidio, dem Fort beim Goldenen Tor, und arbeiteten dort im Signalbureau, bald mit dem Leutnant selbst, bald mit Mr. Hastings, einem alten Signalkorpssergeanten.

Nach den ersten Lektionen schon fesselten mich die Geheimnisse der Teufelei elektrischen Stromes gewaltig. Der Mechanismus der Instrumente war zwar sehr einfach. Die Wechselwirkung zwischen Taster, Strom und Magnet hatte nichts besonders Wunderbares. Das mühselige Formen von Buchstaben durch Punkte und Striche schien zuerst sogar langweilig. Aber sobald ich eine gewisse Fertigkeit erreicht hatte, übte das Telegrapheninstrument eine ganz merkwürdige Lockung auf mich aus. Denn nun wurde aus den toten Punkten und Strichen lebendige Sprache.

Im Gegensatz zu der in Europa üblichen Art des Telegrammlesens vom Papierstreifen oder durch Druckmaschine liest der amerikanische Telegraphist fast nur durch Gehör. Das Klicken des Magneten spricht zu ihm. Er schreibt das Gehörte nieder wie nach Diktat. Er erreicht dabei eine Geschwindigkeit von durchschnittlich 30 Worten in der Minute, die sich bei Benutzung der Schreibmaschine auf vierzig, ja sogar fünfzig Worte steigern läßt. Mein Ohr gewöhnte sich sehr rasch an die Sprache des Telegraphen. Was zuerst ein mühsames Zählen der Punkte und Striche gewesen war, um die einzelnen Buchstaben herauszuhören, wurde bald zum Begeistertsein über eine neue, klare, deutliche Schrift. Ich hörte, wie ein Telegraphist das lernen muß, nicht mehr die einzelnen Buchstaben, sondern deutlich erklang das ganze Wort. Es war genau so wie Lesen lernen. Zuerst mußte man sich um den Buchstaben mühen, um dann später eine ganze Zeile in einem einzigen Bild in sich aufzunehmen. Ein kleines Beispiel:

Wenn ein Telegraphist mit einem andern sich über den Draht hinweg unterhält und lachen will, dann klickt er: ha–ha–ha. Im Morsealphabet sieht das so aus –

.... .–ha.... .–ha.

Auf dem Papier sind die vier Punkte des h und der Punkt, Strich des a etwas Totes und Nichtssagendes. Sobald wir sie aber im Instrument erblicken, werden sie lebendig, sind charakteristisch, lösen sofort das antwortende Gelächter aus.

Das Telegraphieren war ein famoses neues Spiel. Der empfindliche Magnet reagierte so blitzschnell auf jeden Fingerdruck, daß sich die anscheinend so komplizierten Morsebuchstaben schneller formen ließen als auf dem Papier mit Tinte und Feder. Der Name Erwin in Telegraphenschrift sieht sehr verzwickt aus:

. Pause . .. Pause .– –Pause .. Pause –. Wortpause

Telegraphieren läßt er sich in drei Sekunden!!

Nach drei Wochen bereits erwies mir der alte Sergeant Hastings das Kompliment, mir lachend zu sagen, daß ich mich jetzt schon bald um eine Anstellung bei der Western Union (das war die große amerikanische Telegraphen-Kompagnie) bewerben könne. So vergnügt war er über seinen Lehrmeister-Erfolg, daß er mich dann in die unterirdischen Kasematten des Küstenforts führte.

»Aber 's ist strikt privatim!« mahnte er.

So sah ich den berühmten Minentisch der Küstenverteidigung San Franziskos. Es war eine camera obscura. Auf eine ungeheure, in winzige Quadrate eingeteilte Tischplatte in der Kasemattenkammer reflektierten die Kameraspiegel ein Stück Meer. Es sah fast unheimlich aus, wenn die Segler und die Dampfer im Spiegelbild über die schwarzen Linien der Quadrate huschten, die alle Nummern trugen. Es war unheimlich! Denn in Kriegszeiten bedeutete jedes Quadrat entweder eine Torpedomine oder ein Schußfeld, auf das mehrere Geschütze sorgfältig einvisiert waren. Glitt nun ein feindliches Schiff über Quadrat 39, so drückte der Minenoffizier auf den elektrischen Knopf Nummer 39, und das feindliche Schiff flog in die Luft, von einer Mine in Stücke gerissen oder von riesigen Sprenggranaten zerfetzt. Theoretisch. Es sah sehr schön aus.

Und dann gingen wir in die Kantine.

 

Das Zeitungsbaby lernte die ersten Griffe seines neuen Handwerks ... Aber weit wichtiger als all das Praktische war der große Lebenswert, den die Zeitung wie im Spiel schenkte: Die Begeisterung für die Arbeit!


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