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So zwitschern die Jungen.

(1897)

Wir haben uns auf Ilintzi installiert. Wo ich einst als kleines Mädchen tobte, da tuts jetzt mein Ältester und Einziger – Harro.

»Gibts denn keine Söhne, die ihren Müttern gleichen?« fragte ich mich oft in Harros ersten Jahren. Ich sah es bei allen jungen Frauen meiner Bekanntschaft: die Erstgebornen waren selbstverständlich »dem Papa wie aus den Augen geschnitten.«

So lang Harro ein lockiges Baby war, reklamierten ihn von Artur und seiner Mutter an bis zur entferntesten Gliedkusine alle als einen echten und rechten Ihren. – Als er aber erst mit Hilfe des Fohlenhirten eine Spazierfahrt im Brunneneimer machte, um zu sehen, woher das Wasser käme – als er Papas Galastiefel der glänzenden Röhren beraubte, um sie als Helm zu benutzen – da tauchten leise Zweifel in der Seele meiner Lieben auf. Ich und mein Papa lächelten und freuten uns.

Die Zweifel der Gliedkusinen mehrten sich, als Harro sich eines Sonntags starrköpfig weigerte, mit in die Kirche zu fahren. Er müsse sein Gartenbeet durch Kanäle trocken legen, sagte er.

Großmama, Arturs Mutter, machte ihm heftige Vorwürfe.

»Das verstehst du nicht, Großmama,« antwortete Harro sehr bestimmt. »Gräben ziehen und solche Sachen – das ist Jungenarbeit.«

»Sonntag ist aber der Tag des Herrn.«

»Dann hätte der Herr auch nicht am Sonntag regnen lassen sollen.«

Harro hat, wie ich vor Zeiten, zum Geburtstag einen kleinen Rappen bekommen und ihn Jani genannt, weil ich ihm so viel von meinem Jani erzählt habe. Er wacht eifersüchtig darüber, daß niemand andrer als er Jani füttere, fahre und reite.

Nun begab es sich vor einem Monat, daß Vetter Attila Kolinsky, jetzt schon längst Rittmeister, samt Frau und Töchterchen zu Besuch zu uns kam. – Mir fiel nicht ein, Harro ein Wort darüber zu sagen; denn daß er so galant sein würde, Attilas kleine Nelli spazieren zu fahren, hielt ich für selbstverständlich.

Harro nicht. Ihm war Nelli von Herzensgrund zuwider. Sie hatte hübsche Kleider an und benahm sich überaus artig – Eigenschaften, die meinem Harro sehr mißfielen. Er nannte sie einen Stadtfratzen und verachtete sie tief. Machte also auch keine Miene, sie in seinen Ponywagen zu laden.

Ich nahm ihn deswegen einmal vor. Allein er blieb trotzig; Jani gehöre ihm, er werde reiten und fahren, wann er wolle.

In solchen Fällen gibt es nur ein Argument mütterlicher Autorität, und das brachte ich auch vor. Harro weinte, versprach, von nun an brav und galant zu sein – und ich bog meine Reitgerte wieder grade.

Am andern Morgen sollten Nelli und er ausfahren – Nelli freute sich schon sehr.

Am andern Morgen war von Jani, Harro, dem Wagen und allem Zubehör keine Spur zu entdecken.

Na, der kann sich freuen, wenn er heimkommt! Nelli wurde indessen durch andre Zerstreuungen entschädigt und auf den Nachmittag vertröstet.

Es wurde Nachmittag – von Harro kein Schatten.

Am Abend kam verzweifelt die Köchin:

»Gnä Frau, wie soll ich den Rehbraten transchieren, wann ich kein Beil hab?«

»Wo ist es denn?«

»Ich weiß nit. Wird schier der junge Herr mitgenommen haben.«

»Mit dem großen Messer also,« riet ich.

»Des große Messer is auch verschwunden.«

Frau Kolinsky sagte:

»Kusine, ich beneide Sie um Ihre Ruhe. Wenn meine Nelli seit dem Morgen verschollen wäre – ich hätte mir schon lang die Haare ausgerauft.«

»Da ist doch weiter kein Grund zu einer Aufregung,« meinte der Rittmeister. »Der kleine Racker wird halt irgendwo bei Bekannten sein.«

Ich glaubte es nicht, behielt aber meine Ansicht für mich. Eine flüchtige Umschau ergab den Abgang eines Flaubertgewehrs und einer Jagdtasche. Dem ausgestopften Seeadler in Papas Arbeitszimmer war der Stoß ausgerissen. Das Stubenmädchen ging mit einer desperaten Frisur umher – ihr Schopf war verschwunden.

Ein merkwürdiger Tatbestand. Ich setzte mich hin und bot meine Phantasie auf, um mich zwanzig Jahre jünger zu denken. Was hätte ich in Harros Alter mit all diesen Gegenständen begonnen?

Da wußte ich ganz genau: Harro spielte irgendwo Indianer. Das Küchenbeil ist sein Tomahawk, die andern Sachen seine Rüstung. Der Schopf ein Skalp; das Küchenmesser ein Dolch; der Adlerstoß Auszeichnung des Häuptlings. Natürlich war Harro Häuptling. Irgendwelche andre Buben die Unterindianer.

Obwohl Attilas Frau es sträflichen Leichtsinn nannte, wartete ich bis zur Abenddämmerung, ob Sehnsucht und Hunger meinen Sohn nicht in die Arme seiner Mama treiben würden.

Als das Warten vergeblich war, gab ich dem alten Kühhalter vertraulich einen Befehl ... Der Kühhalter nickte lächelnd.

Nellis Mama war entschieden nervöser als ich. Sie weigerte sich, schlafen zu gehen, und wußte die schaurigsten Geschichten zu erzählen von geraubten, von entführten Kindern. Die arme, gefühlvolle Nelli brach in Weinen aus und grämte sich schon über das Schicksal ihres Vetters.

Endlich gingen wir zur Ruhe. Ich blickte prüfend den Himmel an und war sehr erfreut, als er voller Sterne stand.

In der Nacht hörte ich Hufschläge und gleich darauf die Stalltür knarren; schließlich: schlafen konnte ich doch nicht.

»Gott im Himmel, Kusine,« sagte mir die Rittmeisterin beim Frühstück, »Sie müssen Harro doch suchen lassen. Ich verstehe Sie nicht.«

»Ja, ja, Maria, jetzt ist endlich Zeit,« fand auch Artur.

»Laßt nur,« sagte ich und lachte, »vor Mittag kommt er gewiß.«

Sie zuckten die Achseln – dann saßen wir da und warteten. Wir waren in der Laube im Garten hinter dem Haus.

Eben läutete man zum Füttern, als ich ... ihn kommen sah. Langsam schob er sich durchs Gittertor herein; grenzenlose Beschämung war in dem schmutzigen, verstaubten Gesichtchen – die Tränenbäche zogen kleine Streifen darüber. Den stolzen Skalp schleifte er nach – nicht zum Vorteil des Schopfes.

Ich blieb ruhig. Die andern bemerkten ihn nicht.

Plötzlich nahm er einen Anlauf und prallte auf mich.

»Mama! Mama!« rief er und bohrte den Kopf in meine Brust.

Er tat mir leid, der arme Schelm.

»Harro, sag, was ist geschehen?«

»Mama! Mama!« jammerte er – und endlich brachte ers, von Schluchzen unterbrochen, heraus:

»Man ... hat ... hat ... mir den Jam, meinen Jani gestohlen.«

»Wo hast du ihn denn stehen gehabt?«

Da fiel ihm erst sein Streich wieder ein. Er gab keine Antwort und weinte.

Sein Jammer dauerte mich. Ich konnte mir so gut vorstellen, wie ihm zumut war: sein Jani, sein liebes Pferd gestohlen.

Ich faßte ihn an beiden Armen und sagte:

»Harro! Ich weiß, wo Jani ist.«

Und richtig wollte er sich losreißen.

»Im Stall,« johlte er.

Die Tränen waren im Nu versiegt. Er wand und krümmte sich, um sich aus meinen Händen zu befreien.

»Harro, du gehst jetzt in dein Zimmer, wäschst dich und kommst nicht hervor, ehe ich dich hole. Sonst siehst du deinen Jani niemals wieder.«

Ich sagte es eindringlich und drohend. Das wirkte.

»Ja, Mama, ich will alles tun,« antwortete er, »nur laß mich los!«

Er flog davon wie eine Schwalbe.

Frau Kolinsky sah mich fragend an.

»Kusine, wenn ich Harro hätte suchen lassen, da wäre er der Stolze gewesen und hätte mir Bedingungen gemacht. Zum Beispiel: wenn ich ihm hundert Drahtnägel gebe, einen Gummischlauch und Papas Sporen – dann käme er zurück. Sonst nicht. – Ich zog also vor, ihm den Jani stehlen zu lassen. Ich wußte, daß ihn das nach Hause treiben wird.«

Ich ging zu ihm ins Zimmer. Er hatte sich flüchtig gewaschen, mit zwei Bürstenstrichen sein Haar geglättet und kleidete sich in fieberhafter Eile an.

Ich furchte die Stirn in finstre Falten und hielt folgende Rede:

»Harro! Ich hoffe, du weißt, wie abscheulich du dich aufgeführt hast. Du tust, als wäre alles gut und verziehen, weil du plärrend heimkommst. Du hast dich nicht nur gegen Nelli unfreundlich benommen – Nelli ist ein liebes, artiges Kind und sollte dir zum Muster dienen – du bist auch keck und ungehorsam gegen mich gewesen.«

Mein Sohn war mit seiner Toilette fertig. Seine Stimmung hatte umgeschlagen.

»Du brauchst mir nicht zu erzählen, wie Kinder sein sollen, Mama,« sagte er wegwerfend.

»So?«

»Ja. Denn du hast sogar Zigeunerpferde gestohlen, als du in meinem Alter warst – und der Gouvernante hast du die Zähne in den Brunnen geworfen – und deinem Onkel Heinrich hast du ein Pferd geborgt, das sich im Wasser niederlegte.«

»Ja, woher weißt du das alles?« fragte ich unvorsichtig und verblüfft.

»Habs gelesen – in einem Buch. Von mir hat noch nie was in Büchern gestanden, Mama. So arg treib ichs nicht.«

Ich machte einen letzten Versuch, meine Ehre zu retten.

»Na, dann hast du wohl auch gelesen, wie ich Onkel Heinrich um Verzeihung bitten mußte?«

»Ja – das auch.«

»Also mußt du dich bei Nelli entschuldigen.«

»Ich?« fragte er mit ungläubigem Staunen.

»Gewiß – ich habs doch auch tun müssen.«

»Du? Du warst ein Mädel,« erwiderte er großartig.

Ich weiß, es war gegen alle Regeln der Pädagogik, aber ich konnte nicht anders: ich nahm den ungeberdigen, stolzen Jungen in meine Arme und küßte ihn stürmisch.

Dann ließ ich ihn zu Jani laufen.

Ende.


Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig.

 


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