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Unterminiert.

(1902)

Papa hatte seine Koffer gepackt, um nach Wien zu fahren. Hatte auch schon alle Anordnungen hinterlassen – in der Wirtschaft dem Schaffner – im Haus Fräulein Wagemund.

Da bat Fräulein Wagemund, Papa möchte sie mitnehmen. Mit nach Wien – sie wolle von dort heim nach Preußen.

»Was fällt Ihnen ein – eben jetzt? Wo ich Sie am dringendsten in Ilintzi brauche ...«

Nein und nein, sie wollt durchaus nicht bleiben; nicht allein »auf der wilden Pußta unter Räubern« – am wenigsten allein mit mir. Sie habe Nerven und eine Gesundheit – und die Gesundheit wär ihr teuerstes Gut – im Verkehr mit mir aber würde sie untergraben.

Da sah Papa, daß Fräulein Wagemund nicht bleiben wollte, und nahm sie mit.

Zugleich auch mich. Ich hatte grade in den letzten Tagen mit Schweinehirts kleinem Stefan Feuerwehr gespielt und dabei die gnädige Frau Gräfin angespritzt. Da fürchtete sich Papa, mich allein zu Haus zu lassen. Er brachte mich zu Kolinskys nach Essegg und bat, man möge mich dort so lang behalten, bis er von seiner Wiener Reise heimgekehrt wäre.

Tante Kolinsky war von meinem Besuch nicht eben entzückt. Sie ersuchte mich vorweg, ja nicht zu glauben, die Malzfabrik Kolinskys Söhne & Co. sei eine Pußta und Tantes Salon ein Tummelplatz für Kinder. Ich möchte mich vielmehr, mahnte sie, der zartesten Schonung für die Möbel und Nerven des Hauses Kolinsky befleißigen, vor dem Betreten der Wohnung die Schuhsohlen reinigen und Attila, den Jüngsten, nicht zu Unheil anstiften.

Dann kämmte mich Tantchen noch, um sich zu überzeugen, ob ich nicht vielleicht »etwas« mitgebracht hätte – bat mich, nicht zu vergessen, daß es hier in der Stadt eine Polizei gibt – und ich war entlassen.

Attila, Giulios und Arturs jüngster Bruder, hatte mal einen Sommer bei uns auf der Pußta verbracht – er war mir seither ein vertrauter Freund. Er führte mich in der Fabrik umher, die mich sehr interessierte – im kleinen Park – auf dem Dachboden – im Stall – auf der Terrasse – der Malztenne und sonst überall. Im Maschinenhaus war ein Nebelhorn, aber der Herr Heizer erlaubte uns nicht, es blasen zu lassen.

Attila freute sich über meine Ankunft sehr. Es war nämlich just eine bewegte Zeit in der Fabrik. Die Jungen von Retfalu – es liegt einen Büchsenschuß weit von der Fabrik – sie hatten sich zusammengetan zu einem erbitterten Krieg gegen die Fabriksbuben. Iwan aus Retfalu – nach Attilas Schilderung ein wahrer Goliath – hatte erst gestern den kleinen Moritz, einen Sohn von Onkels Kompagnon, überfallen und schrecklich gehauen. Im letzten Augenblick war Attila mit den Seinen zu Hilfe gekommen, erlitt aber durch Iwans Mannschaft eine empfindliche Schlappe.

Mein Cousin zeigte mir auch gleich das Schlachtfeld und die Stellungen des Gegners. Oben auf der mannshohen geteerten Terrasse hatten die Fabriksbuben gestanden – unten, getrennt durch ein Gesträuch von Weißdorn, die Retfaler. Sie hatten von der Landstraße her Schottersteine bis an den Betonkanal der Terrasse geschafft und schossen nach den Fabriksbuben. Die Fabriksbuben mußten flüchten und liefen dem Feind gradenwegs in die Hände.

Während ich noch die Kämpfe von gestern im Geist miterlebte, sammelten sich nach und nach die Fabriksbuben um uns an. Mein Cousin stellte mich kurz vor. Er hatte ihnen offenbar schon von mir berichtet, denn sie behandelten mich alle mit vollkommener Hochachtung.

Nach meiner Ansicht war an der Niederlage von gestern nur die mangelhafte Ausbildung der Fabriksbuben schuld. Sie wußten nicht Bescheid im Steinewerfen. Obermälzers Christian mußte auf der Stelle Bindfaden und Leder aus der Materialkammer bringen – ich machte drei oder vier Schleudern und zeigte den Buben, wie man damit umgeht.

Nun wurde bis Mittag geschleudert. Leider kriegte ein gewisser Gustel dabei ein Loch in den Kopf, und ein Fenster der Darre ging in Trümmer. Aber Moritz erbot sich, nötigenfalls zu schwören, daß es der Wind getan hätte – so begeistert waren alle von meiner Neuerung.

»Jetzt sollen die von Retfalu nur kommen!« riefen sie drohend und zuversichtlich.

Nachmittag trafen wir wieder zusammen.

Ich hatte lang nachgedacht, wie man die Feinde verhindern könnte, uns vom Betonkanal aus anzugreifen.

»Buben,« sagte ich, »den Kanal müssen wir unterminieren.«

Sie rissen vor Staunen die Mäuler auf.

»Wir müssen Pulver herschaffen und eine Mine legen. Hat niemand von euch ›Belagerung von Genua‹ gelesen? Damals haben sie auch alles ringsum unterminiert.«

Verlegenes, zaghaftes Schweigen.

»Na, ihr seid mir schöne Helden, Moritz obenan! Da geh ich, meiner Seel, lieber zu den Bauernjungen über und helfe ihnen, euch durchwichsen.«

Der kleine Moritz brannte vor Rachgier – er pflichtete mir bei: der Kanal müsse unbedingt unterminiert werden. – Aber womit? Und wie sollte man die Mine zünden?

Da rührte sich Obermälzers Christel, versprach Pulver zu bringen – sein Vater habe ein ganzes Säckchen davon für Jagdpatronen – und Gustel lief nach Haus um eine Kerze.

Wir beschlossen, gleich eine Probe zu machen – nur so ganz im kleinen.

»Glaubst du denn, daß es was nutzen wird, Marius?« fragte Attila.

»Nutzen? Stell dir mal vor: du hast, zum Beispiel, Krieg mit denen von Retfalu – auf einmal knallts, und der kleine Moritz fliegt in die Luft. – Hast du dann noch Courage, weiterzukämpfen?«

Das sahen die Buben ein und freuten sich schon sehr auf die Mine. Vielleicht würde es grade Iwan treffen – das wäre dann ein großes Glück.

Indessen war Christel mit dem Beutel gekommen und Gustel mit Kerze und Streichhölzern. Wir stiegen durch ein Gitter in den Kanal und legten einen Ziegelstein ins Wasser. Auf den Ziegelstein häufte ich eine Handvoll Pulver zu einem Kegel.

»Jetzt aber fort – jetzt kommt erst das Richtige,« rief ich. Steckte die Kerze ins Pulver und zündete sie an. Dann lief ich auf und davon auf die Terrasse.

In atemloser Spannung warteten wir, hinter dem Windfang eines Luftschachtes gedeckt, auf die Explosion.

Wortlos verging eine Minute.

»Du, Marius,« sagte Attila, »es knallt nicht. Du solltest doch nachsehen, warum es nicht knallt.«

»Sei so gut!« rief ich empört. »Warum gehst du nicht nachsehen?«

»Du kennst dich da besser aus, Cousine.«

»Wenn aber das Zeug eben losgeht, wenn ich dazukomme? He?«

Also warteten wir wieder.

Nichts, lange nichts.

»Sie Fräulein,« fragte Moritz, »wie ist denn das – wird das sehr knallen?«

»Das will ich meinen. Wie stark knallt schon eine Pistole, wo doch kaum so viel Pulver drin ist, wie in einer Priese Schnupftabak.«

»Ja – aber, Fräulein – wie ist das? Wenn Papa es hört?«

Donnerwetter, das ist eigentlich wahr.

Wenn man den Wolf nennt, kommt er gerennt. Fröhlich schlenderte Onkels Kompagnon, Herr Hechter, des Wegs daher. Blies den blauen Rauch der Zigarre weit von sich, schlenkerte mit den Armen und blieb alle zehn Schritte stehen, um in die frühlingsgrüne Landschaft hinauszuschauen.

»Mein Papa,« hauchte der kleine Moritz.

Schöne Geschichte das. Wenn jetzt die Mine losgeht ... Mir krampfte sich das Herz zusammen.

»Marius,« stammelte Attila, »du mußt unbedingt hinuntergehen und die Kerze auslöschen.«

»Um Himmelswillen – wie soll ich denn? Es kann doch grade, wenn ich dazukomme ...«

»Gleichgültig. Du hast angefangen – du mußt.«

Herr Hechter spazierte unterdes nichtsahnend weiter. Zwanzig Schritte vor der Mine hielt er – schob mit der Stiefelspitze einen Kiesel aus dem Weg – nahm einen Käfer auf, der eben über die Straße kroch und besah ihn neugierig.

Bleich und zitternd verfolgten wir sein Gebaren. Moritzens Zähne schlugen hörbar aufeinander.

»Moritz, ruf deinem Papa zu, er soll weg von hier,« mahnte ich, blaß vor Angst.

»Aber, Fräulein, es ist doch Ihre Mine.«

»Aber, Moritz, es ist doch dein Papa.«

Es half nichts – Moritz fürchtete sich zu sehr vor Hieben und schwieg.

Herr Hechter warf den Käfer in den Busch, steckte seine Zigarre ins Spitzel, schneuzte sich und schritt weiter.

Und nun das Entsetzliche: haargenau beim Kanalgitter blieb er stehen und blickte hinab.

»Moritz,« bat ich, »sag ihms!«

»Fräulein, sagen Sies. Wenn Sies nicht tun, dann weiß ich, wer das Fenster von der Darre eingehauen hat. Der Sturm ist es nicht gewesen.«

Erregt kam ich hinter dem Windfang hervor und rief:

»Herr Hechter! Hören Sie doch! Kommen Sie schnell zu mir hierher!«

»Warum denn, mein Kind?«

»Fragen Sie nicht lang und kommen Sie!«

»Warum – möchte ich wissen. Was soll ich bei dir?«

»Herr – Herr – kommen Sie – Sie ... Sie explodieren sonst!«

»Ich? Explodieren? Bist du bei Trost?«

»Ja doch, Herr Hechter – Sie fliegen in die Luft. Dort unterm Gitter ist ein Haufen Schießpulver.«

Mit einem Satz stand Moritzens Papa im Dornbusch.

»Ihr verdorbenen Rangen,« krisch er, »was fällt euch ein, mich zu unterminieren?«

Seufzend und fluchend kroch er durch die Dornen und kam zerrissen und blutend bis zu uns.

Moritz stand heulend da. Sein Papa nahm ihn am Ohr, beutelte ihn nach Vaterart und brüllte:

»Das hast du getan, du Rabenbraten – was?«

»Ich nicht – ich nicht, Papa – das Fräulein hats getan.«

»Oh, nein,« krähte ich aus sicherer Entfernung, »von mir ist nur die Idee – getan hats der Moritz.«

Ehrenhaft wars ja vielleicht nicht, die kleine Unschuld einzutunken, aber jedenfalls praktisch. – Moritz kriegte höllische Haue.

Als sich nun die Mine gar nicht rühren wollte, faßte sich ein Arbeiter ein Herz und stieg hinein.

Allgemeine Überraschung: weder Pulver noch eine Kerze waren zu sehen. Ein lebhaftes Wässerchen murmelte über den Ziegelstein – das hatte unsre Mine blank weggeschwemmt. – O Moritz, du bist zum Leid geboren: mit oder ohne Mine – immer gibt es Schläge für dich.

Herr Hechter verbreitete die Geschichte natürlich in der ganzen Fabrik. Alle Väter nahmen ihre Söhne ins Gebet – überall einmütiges Leugnen. Moritz leugnete am entschiedensten.

Tante Kolinsky – eigentlich war sie meine Tante nicht einmal – nur verwandt wie Vetter Fuhrmanns Peitsche – Tante Kolinsky fand, daß ich ihren Attila verdürbe und atmete auf, als Papa mich heimholte.


Dem kleinen Moritz bin ich später wiederbegegnet. Da war er schon auf dem Gymnasium, ein feister Junge, und spielte gern den Lebemann.

Er entblödete sich nicht, zu bestreiten, daß Iwan und sein eigener Papa ihn an zwei Tagen hintereinander geprügelt haben. Und rühmte sich, er hätte die Mine wirklich selbst gelegt.

»Entsinnen Sie sich noch, daß ich damals galanterweise auch Ihre Sünden auf mich genommen habe?« fragte er.

Bewundernd hing das Auge seiner Mutter an ihm.

Wirklich, man sollte sich von den Jungen alles schriftlich geben lassen. Sie lügen wie gedruckt.


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