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16. Kapitel.

Anscheinend war Friede und Glück in beide Häuser eingezogen, und kein Mensch konnte ahnen, wenn er die zufriedenen Züge Wesenthals sah, mit welchen schweren und furchtbaren Gedanken sich dieser Mann trug. Bei Professor Kleinthal war es umgekehrt. Er sah äußerst brummig und verärgert aus, war aber innerlich doch mit einem Glück erfüllt, wie er es bisher kaum gekannt hatte.

Denn – Rudolf hatte ihn, wie er sich auszudrücken pflegte, schwer gekränkt. Kleinthals hatten nämlich die Vorbereitungen zur Hochzeit übernommen, Eva arbeitete mit Käthe an der Anschaffung der Aussteuer – kurz und gut, diese Menschen waren wirklich rührend in ihrer Liebe und selbstlosen Aufopferung für Rudolf und Wesenthal, so daß sich Rudolf genötigt sah, mit Papa Kleinthal ein ernstes Wort zu sprechen.

Rudolf erklärte dem alten Herrn kategorisch, daß er keine weiteren Gefälligkeiten von Kleinthals annehmen, daß er es eventuell auf einen Bruch mit Kleinthals ankommen lassen wollte, wenn der Professor nicht auch etwas für sich und seine Familie annehmen wollte. Rudolf wußte, wie sehr Professor Kleinthal es sich zum Vorwurf machte, daß er sich nicht in eine Lebensversicherungsgesellschaft eingekauft hatte. Deshalb trat er vor seinen Pflegevater mit einem fait accompli hin und wies ihm eine Polizze vor, die im Testament seiner Mutter sowohl für den alten Herrn als auch für jedes seiner beiden Kinder einzukaufen anbefohlen worden war. Rudolf hatte natürlich den Wunsch seiner Mutter mit Freuden erfüllt, so daß er heute in der Lage war, eine Quittung von 75 000 Mark für den alten Herrn, eine von je 100 000 Mark für die Kinder zu präsentieren, die zwanzig Jahre nach dem Tode der Frau Melmström fällig werden sollten.

Es war für Rudolf kein leichtes, das dem alten Herrn mitzuteilen. Wie er erwartet hatte, stieß er erst auf den heftigsten Widerstand. Der Professor erklärte ihm, daß er es für eine Gemütsroheit hielte, daß man ihm seine »kleinen Gefälligkeiten« bezahlen wollte, in der festen Meinung, daß Rudolf aus eigener Initiative diese Versicherungen vorgenommen hatte. Erst als Rudolf ihm einen Brief zeigte – von der Hand seiner Mutter geschrieben –, der, wie sich der Professor noch erinnerte, dem Testamente beilag, mit der Aufschrift, daß dieses Schreiben Rudolf nach Erlangung seiner Volljährigkeit übergeben werden sollte, begann Kleinthal nachdenklich zu werden. Aufmerksam hörte er Rudolf zu, wie er die Worte der Dahingeschiedenen vorlas:

»Solche Dienste, mein Sohn, wie sie mir Dr. Kleinthal – der alleinstehenden Witwe, dem kränkelnden Kinde geleistet hat – lassen sich nicht bezahlen; ich würde auch nie versuchen, das zu tun, da ich Dr. Kleinthals Zartgefühl kenne und hochschätze. Sollte ich früh sterben, was ich mir immer einbilde, so weiß ich, daß sich Dr. Kleinthal deiner wie des eigenen Kindes annehmen wird. Ich weiß auch, daß Dr. Kleinthal – in seiner unendlichen Güte, stets anderen zu helfen – niemals ein großes Vermögen erwerben wird. Deshalb habe ich meinen Rechtsanwalt beauftragt, jedes der beiden Kinder unter einer Form auf eine Summe von je hunderttausend Mark zu versichern, welche Summe sie nach zwanzig Jahren, im heiratsfähigen Alter, jederzeit beheben können. Ich füge eine Summe von zehntausend Mark hinzu, – zur Zahlung der Prämien. Zu diesen zwei Versicherungen wünsche ich noch eine dritte hinzuzufügen, immer noch zugunsten der Kinder, jedoch auf das Leben des Dr. Kleinthal, lautend auf zweimalhunderttausend Mark, die den Kindern Dr. Kleinthals nach dessen Ableben ausgezahlt werden sollen. Die nötigen Anweisungen hat mein Rechtsanwalt.«

»Ich bin aber noch nicht tot,« unterbrach ihn Kleinthal sehr kleinlaut mit zuckenden Lippen – wie ein im tiefsten gekränktes Kind.

»Von diesen zweimalhunderttausend soll auch gar keine Rede sein, Papa Kleinthal,« fuhr Rudolf eindringlich und zärtlich fort. »Sondern nur von fünfundsiebzigtausend Mark, die Mama als Unfallprämie eingekauft hat für Sie. Seien Sie nicht eigensinnig, lieber, guter Vater Kleinthal. Täuschen wir uns nicht. Ihr Augenleiden hindert Sie, weiter Ihre Praxis auszuüben – also ist das ein Unfall. Wollen Sie wirklich das Andenken Mamas derart kränken, daß Sie meine Mutter und mich so schroff zurückweisen?«

»Also kann ich es zurückweisen?« fragte der Professor mit einem fast diabolisch trotzigen Aufleuchten in seinen halberloschenen Augen, so daß Rudolf unwillkürlich lächeln mußte.

»Das können Sie. Und damit auch das Glück Ihrer Kinder zerstören. Denken Sie an Eva, die ohne Mitgift ihren Hauptmann nicht heiraten kann. Denken Sie an Egon, diesen selbstlosen Menschen, der von mir nie einen Pfennig annehmen würde und der – ohne etwas Betriebskapital – niemals sich eine richtige, gutgehende Praxis wird erwerben können! Wollen Sie – sonst ein so guter Vater, der einst Herrn von Wesenthal des Egoismus geziehen hat, – wirklich so grausam sein, aus Eigensinn – aus purem Eigensinn und falschem Stolze – die Zukunft Ihrer Kinder so aufs Spiel setzen und die Prämien den Versicherungsgesellschaften, die Sie doch gar nichts angehen, schenken?«

Rudolf sah es seinem Pflegevater an, wie es in ihm arbeitete und wühlte, weshalb er es vorzog, für heute sich zu entfernen, und den alten Herrn sich erst die Sache reiflich überlegen zu lassen. Er rechnete dabei auf die Unterstützung Evas und Egons, denen es schließlich – freilich nach vielen schweren Kämpfen – gelang, den Vater zur Annahme dieser testamentarischen Bestimmungen zu bewegen. »Aber eine Kränkung bleibt es doch,« beharrte der Professor, sich in sein Arbeitszimmer zurückziehend, aus dem er tagelang nicht mehr zum Vorschein kam.

Nach und nach jedoch, als er sah, daß seine beiden Kinder, deren Takt und Zartgefühl er kannte, sich so gar kein Gewissen daraus machten, dies Legat anzunehmen, ergab er sich in das Unvermeidliche, indem er sich fragte, ob er nicht doch vielleicht etwas zu weit gegangen war in seiner Empfindlichkeit. Und sobald er sich an den Gedanken gewöhnt hatte, wurde ihm wie einem Manne, der aus langer Kerkernacht ins Sonnenlicht gesetzt wird, in dem er erst allmählich auftaut. Endlich waren diese kleinen, den Menschen zermürbenden Miseren des täglichen Brotes vorbei – endlich einmal durften sie aufatmen – durften seine Kinder einer besseren Zukunft entgegensetzen.

Somit stand auch nichts mehr der Heirat Evas mit ihrem Hauptmann im Wege, der das Glück hatte, auf mehrere Jahre als Lehrer in die Hauptkadettenanstalt nach Groß-Lichterfelde kommandiert zu werden, so daß Eva von ihrem Vater nicht weit entfernt war.

Käthe und Eva hatten beschlossen, sich gemeinsam und gleichzeitig trauen zu lassen. Und sechs Wochen später – an einem prachtvollen Maitag – fand die Doppelhochzeit statt, zu welcher nur die allernächsten Verwandten und Bekannten geladen waren. Und doch war die Kirche gedrängt voll mit Neugierigen und Leuten, die Rudolf und den Professor Kleinthal entweder persönlich – oder bloß vom Hörensagen kannten; denn im Berliner Wohltätigkeitsleben hatten beide stets an der Spitze gestanden. Das große Publikum kam, da es die Entfaltung eines großen Pomps erwartet hatte, nicht auf seine Kosten. Mit Ausnahme eines kleinen, eleganten Herrn, der aus der entferntesten Ecke die Trauung verfolgte, und Wesenthal, der ziemlich bleich, die Blicke zu Boden gesenkt, in unmittelbarster Nähe seiner Tochter stand und sich vielleicht gerade innerlich fragte, ob nicht einer von beiden – Straußberg oder Amadini – unter die Menge sich geschlichen hätte, nicht aus den Augen ließ. In Straußbergs Zügen lag kalter Triumph; in denen Wesenthals eiserne Entschlossenheit und vornehme Selbstbeherrschung.

Da sowohl das Ehepaar Melmström als auch Eva mit ihrem stattlichen Gatten gleich nach der Hochzeit nach Italien abreisen wollten – das erste Paar direkt nach Wien, das andere über München, nachdem man gemeinsam zwei Tage in Dresden verleben wollte – begaben sich Kleinthals und Wesenthals mit ihren Kindern, sobald die Zeremonie beendet war und man ein ausgewähltes Frühstück bei Huster eingenommen hatte, direkt auf die Bahn.

Trotz des unaussprechlichen Glückes, das Käthe erfüllte, fiel ihr der Abschied von ihrem Vater furchtbar schwer. War es doch das erste Mal in ihrem Leben, daß sie sich von ihm trennte. Alle Bitten Käthes und Rudolfs, die Hochzeitsreise doch mit ihnen zu machen, hatte Wesenthal dankend aber bestimmt abgelehnt. Ihm war eine andere Aufgabe vorbehalten, die zu Ende geführt werden mußte.

Und als er sein Kind zum Abschied noch einmal umarmte, überkam es den starken Mann doch so gewaltig, daß er ein heißes, halbersticktes Schluchzen nicht unterdrücken konnte. Wer konnte wissen, ob es nicht das letzte Mal war, daß er sein Kind in den Armen hielt? Wer konnte wissen, was ihm auf seinem Rachezug widerfahren würde? Er wußte: er ging in einen Kampf auf Leben und Tod.

Langsam und majestätisch rollte der Zug aus der Halle – immer kleiner und kleiner ward der Kopf Käthens, der sich weit aus dem Kupeefenster herausbeugte, bis eine mächtige Dampfwolke das Bild verhüllte.

Stumm sah Wesenthal dem Zuge nach, und Träne um Träne fiel in feinen ergrauten Vollbart. Dann – mit einem Male – schüttelte er seine Schwäche ab, der Aufgabe gedenkend, die er willens war, zu Ende zu führen, und wandte sich an Egon Kleinthal:

»Wie steht es mit Ihnen, Herr Kleinthal? Haben Sie Zeit und Lust, heute abend zu mir zu einer Unterredung zu kommen, damit wir unseren weiteren Feldzugsplan beraten?«

Egon überlegte und sagte leise zu Wesenthal: »Ich möchte heute meinen Vater nicht allein lassen, und deshalb mich nicht auf längere Zeit von Berlin entfernen. Aber wenn Sie die Güte hätten, mich in der Spandauer Straße – in meinem Büro – aufzusuchen, wäre ich Ihnen gewiß herzlich dankbar.«

»Gewiß. Gern. Und wann paßt es Ihnen?«

»Um neun Uhr etwa?«

»Schön. Um neun Uhr bin ich bei Ihnen.«

Nach herzlicher Verabschiedung von beiden Herren fuhr Wesenthal mit dem nächsten Zuge nach Potsdam, um noch einmal in aller Ruhe seinen Plan überlegen zu können.

Nicht ohne wichtige Gründe hatte Wesenthal die sofortige Abreise seines Schwiegersohnes und seiner Tochter gewünscht. Ihre Abwesenheit gab ihm ein ziemliches Uebergewicht über Amadini und den Grafen, deren Drohung, Rudolf seine Vergangenheit möglicherweise zu enthüllen, somit fürs erste hinfällig wurde. Und briefliche Mitteilungen und Enthüllungen? Wohin hätten sie sie adressieren sollen? Rudolf war mit seiner jungen Frau nach dem Süden gereist, ohne selbst zu wissen, wo er sich auf längere Zeit niederlassen würde. Er wollte dies ganz dem Zufall überlassen und seiner augenblicklichen Laune folgen – bester gesagt, der Laune seiner Frau, die ihn nach Italien, Aegypten oder noch weiter locken konnte. Außerdem reiste er unter dem Namen Weber, um zu vermeiden, daß sein Millionärsname die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich lenken und ihn zum Opfer mancher indiskreten Zudringlichkeit machen könnte. Auch hatte er den Auftrag gegeben, daß alle an ihn adressierten Briefe an seinen Schwiegervater geschickt würden, der dann jene, die ihm wichtig dünkten, ihm an die zeitweilig mitgeteilte Adresse nachsenden sollte, so daß Wesenthal nach jeder Richtung gedeckt war. Wenigstens fürs erste konnten seine Gegner ihm nichts anhaben. Freilich, sechs Monate waren rasch verstrichen. Deshalb hieß es auch rasch handeln. Die Aktien standen auf jeden Fall für die beiden Verbrecher schlimmer als für Wesenthal, der entschlossen war, sich den Anschein zu geben, als fürchtete er sie und suchte er, ihnen soviel wie möglich auszuweichen. – Auch hieß es, in seinen Verhandlungen mit Egon die äußerste Vorsicht anzuwenden. Wenn er selbst auch fortan derjenige sein würde, der die Nachforschungen lenkte, wollte er doch nicht als der Lenker derselben erscheinen, sondern den Nichtorientierten spielen und Egon glauben lassen, daß ihm alle Neuigkeiten erst durch Egon zugebracht würden, um nicht durch ein unvorsichtiges Wort, eine zu genaue Angabe betreffend Amadini und den Grafen, Egon stutzig zu machen und seinen Verdacht wachzurufen.

Zur verabredeten Stunde begab sich Wesenthal zu Egon, der ihn bereits mit den Worten empfing:

»So, jetzt bin ich ganz zu Ihrer Verfügung. Seien Sie überzeugt, daß ich glücklich wäre, Ihren Ratschlägen in allen Dingen folgen zu können. Ich weiß, welches Interesse Sie der Aufgabe, die ich die wir zu lösen haben – entgegenbringen.«

»Das ist aber auch das einzige,« erwiderte Wesenthal seufzend. »Ich fürchte, Ihnen nicht viel nützen zu können, obwohl ich diese Sache bis ins kleinste Detail studiert habe. Sie ist mir doch noch recht geheimnisvoll. Und ich bedarf sehr Ihrer Informationen, um vollkommen klar zu sehen. Gestatten Sie mir gleich zu Anfang eine Frage. Ist diese Judith von Rastori – ich glaube, so ist ihr Name –, über die wir uns dieser Tage unterhalten haben, ist sie entschlossen. Ihnen irgendwelche vertraulichen Mitteilungen zu machen?«

»Nein. Oft hatte ich gehofft, daß sie reden würde; doch wie sie im Begriff ist, zu reden, hält sie sofort inne, gerät in Verlegenheit oder beginnt über ein gleichgültiges Thema zu reden. Sie muß furchtbar streng überwacht werden und hat deshalb wohl Angst.«

»Aber weshalb sollte sie jetzt wohl strenger beaufsichtigt werden als sonst? Etwa wegen ihrer Beziehungen zu Ihnen? Haben Sie denn einen Grund zu der Annahme, daß man die Geschichte mit den Brillanten weiß?«

»Allerdings keinen ernsthaften. Trotzdem aber glaube ich, daß Anastasia, die den Pfandschein in Händen hatte, die Garnitur wohl ausgelöst und daraufhin die Unterschiebung eines falschen Schmuckes erkannt haben dürfte. Ich erkenne das aus verschiedenen mißtrauischen Blicken und einem manchmal gezwungenen Benehmen von ihr und ihren beiden Genossen. Ich habe jedenfalls aufgehört, für Anastasia ein Bundesgenosse zu sein, auf dessen Hilfe sie rechnen kann. Sie fühlt in mir instinktiv den Gegner, dem man mißtrauen muß – und hat vermutlich auch Judith den Auftrag gegeben, mir äußerst vorsichtig zu begegnen und mir zu mißtrauen.«

»Sie müssen es erreichen, daß dieser Befehl Anastasias keine Wirkung mehr auf Judith ausübt und daß diese dahin gebracht wird, Anastasia nicht mehr zu fürchten, sondern zu Ihnen rückhaltloses Vertrauen zu fassen.«

»Ja, aber Sie vergessen den Diebstahl. Ich bin ja freilich nicht der Ansicht, daß sie moralisch schuldig ist; durch die Tatsache – mag sie sich wie immer verhalten haben – ist sie aber immerhin genügend gebrandmarkt, so daß sie gewisse Drohungen einschüchtern müssen.«

»Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich ihr klar zu machen suchen, daß alle diese Drohungen nichts als leere Worte sind.«

»Wie das?«

»Sie beweist Ihnen noch zu wenig Vertrauen, vielleicht, weil Sie sich ihr gegenüber zu reserviert zeigen und Sie auf der Defensive verharren. Versuchen Sie es doch einmal, mit ihr wirklich offen und ehrlich zu reden, z. B. zu sagen, daß Sie schon längst von der Geschichte mit den Diamanten Kenntnis hätten und daß Sie glaubten, daß sie – Judith – bloß aus Unbedachtsamkeit, au£ Leichtsinn und dem eitlen Verlangen, sich noch schöner zu machen, die Garnitur der Herzogin heimlich entwendet hätte, jedoch mit der Absicht, sie ihr wiederzuerstatten, nachdem sie sie einmal getragen. Unter uns gesagt, dürfte dies der wirkliche Sachverhalt der Geschichte sein. Sagen Sie ihr. Sie hätten das Gefühl, als ob sie von dritter Seite verhindert worden wäre, den Schmuck zurückzuerstatten, um sie in der Hand und in einem sklavischen Abhängigkeitsverhältnis zu belassen. Raten sie ihr, das Joch abzustreifen und diese Bande zu zerreißen. Reden Sie ihr zu, den Schmuck der Herzogin zurückzugeben und derselben reinen Wein einzuschenken, was sie veranlaßt hat, die Tat zu begehen und welchen verderblichen Ratschlägen sie gezwungen war, zu gehorchen. Sie möge versuchen, von der Herzogin Vergebung für ihren Fehltritt zu erlangen und sie bitten, die Klage nicht neuerdings gegen sie anzustrengen. Und ich bin fest überzeugt, daß die so immens reiche Herzogin, die einen großen, edelmütigen Charakter haben soll, ihr verzeihen wird.«

»Sie meinen also, daß ich Judith die Garnitur der Herzogin zurückgeben soll?« fragte Egon.

»Ganz entschieden. Judith wird einsehen, daß Anastasia nichts mehr machen kann, sobald die Herzogin vergibt. Wenn sie sie nicht mehr fürchtet und sich Ihnen gegenüber zu Dank verpflichtet fühlt, wird sie Ihnen vielleicht vertrauliche Mitteilungen machen, die uns gewiß von Wert sein dürften.«

»Sie haben recht. Der Gedanke ist gut. Nur – wird die Herzogin wirklich so leicht verzeihen, wie Sie glauben? Vielleicht ist ihr überhaupt die Möglichkeit benommen, sich nachsichtig zu zeigen. Mir ist so, als wäre die Herzogin ebenso sehr in den Klauen Anastasias wie Judith. Wenn das ist, so ist es sehr leicht möglich, daß Anastasia der Herzogin direkt verboten hat, der Diebin jemals gänzlich zu verzeihen, um diese bleibend in Hangen und Bangen zu erhalten.«

»Das kann schon sein. Jedenfalls irgendeine Erpressergeschichte. Ich habe diese Art von Verbrechen ziemlich eingehend studiert, angesichts einer neuen Gesetzesvorlage, die sich darauf bezieht. Machen Sie also Judith darauf aufmerksam, daß Anastasia, sobald der in Ihrer Verwahrung befindliche echte Schmuck an die Herzogin zurückgegeben ist, ziemlich große Gefahren läuft Dann ist sie es, die den Anschein hat, gestohlen zu haben. Denn Anastasia ist dann diejenige, die entweder den von meinem Schwiegersöhne bei Friedländer gekauften zweiten Schmuck in Händen hat, oder doch den Pfandschein darüber. Eine Klage unsererseits, wenn wir über die Sache Lärm schlagen wollten, und nicht ein Interesse daran hätten, für den Augenblick nichts zu tun, um besser unterrichtet zu werden – könnte sie vom Fleck weg ins Gefängnis bringen. Sobald Sie Judith über alles das aufgeklärt haben werden, und sie das feste Vertrauen hat, daß Sie die Kraft haben, sie zu schützen und sie jeder Gefahr zu entreißen, wird sie nur Ihnen gehorchen, wenn es auch vorteilhaft wäre, wenn sie sich den Anschein gäbe, Anastasia als höchste Instanz nach wie vor zu respektieren und zu fürchten. Auf diese Art und Meise soll diese eine Hilfstruppe des Gegners bald uns angehören.«

»Sie haben recht! Sie haben recht!« rief Egon voller Eifer. »Und ich werde Ihre Ratschläge sicher befolgen.«

»Also gut. Lassen wir nun Judith von Rastori beiseite, um uns mit den anderen Persönlichkeiten zu beschäftigen, denen Sie bei jener Anastasia begegnet sind und die auf Sie einen verdächtigen Eindruck machen. Wie war doch ihr Name? Ich komme augenblicklich nicht darauf.«

»Der eine ist ein Herr von Amadini und der andere ein Graf von Straußberg.«

»Richtig. Und wie ich weiß, haben Sie gerade diesen beiden ganz besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Ich habe mich öfter gefragt, ob Sie sich vielleicht nicht doch zu viel mit ihnen beschäftigen, mehr, als es der Mühe wert ist. Zugegeben – sie erscheinen Ihnen beide in gewisser Hinsicht verdächtig. Ihre Moralität scheint Ihnen etwas stark anrüchig. Aus verschiedenen Fragen, die Sie im Salon Anastasia gestellt haben, und aus den Antworten ist es Ihnen gelungen, zu erfahren, daß keiner von ihnen Vermögen hat oder eine Stellung bekleidet, trotzdem Herr von Amadini auf großem Fuße lebt und Herr von Straußberg imstande ist, große Spielbanken zu halten, in denen er allerdings mehr verliert als gewinnt. Aber wieviel solcher Existenzen gibt es in Riesenstädten wie Berlin, Paris und London! Das werden Sie mir doch zugeben?«

»Ganz gewiß.«

»Ihr Verdacht wird weiter dadurch bestärkt, daß Herr von Amadini und der Graf mit Anastasia in einem ganz eigentümlichen, vertrauten Verhältnis zu stehen scheinen. Daher ward es Ihnen nach und nach zur fixen Idee, daß jene beiden in all den Intriguen Anastasias und insbesondere in der Sache mit den Diamanten verwickelt sein müssen. Einige Worte, die Judith entschlüpft sind, lassen Sie auch annehmen, daß jene beiden auf die junge Frau einen ebensogroßen Einfluß ausüben als Anastasia selbst, und daß Judith vor ihnen genau denselben Abscheu und dieselbe Furcht empfinde wie vor Anastasia.«

»Jawohl, ich bin mir dessen sogar ziemlich sicher,« erwiderte Egon.

»Schön. Ich will dies alles ja zugeben. Ich gehe sogar noch weiter. Ich halte Amadini und den Grafen für die ausgemachtesten Abenteurer und auch ganz durchtriebene Schurken, wenn sie wollen, die allerlei dunkle und recht zweifelhafte, auch unehrliche Manöver betreiben mögen. Auch das gebe ich zu. Trotzdem glaube ich, daß Sie zu weit gehen, wenn Sie diese beiden Abenteurer mit den damaligen Mördern in Beziehung bringen, sie etwa gar mit ihnen zu identifizieren. Selbst wenn es bewiesen ist, daß jene beiden von Schurkereien und Erpressungen leben, will das immer noch nicht sagen, daß sie vor zwanzig Jahren eine Frau Melmström beraubt und ermordet haben.«

»Aber es waren noch andere Punkte, die mich bestimmt haben, diese beiden Gesellen schärfer aufs Korn zu nehmen.«

»Und welche wären das?«

»Erstens war der eigentliche Mörder zur Zeit der Tat etwa dreißig Jahre alt; und Herr von Amadini kann heute höchstens fünfzig Jahre alt sein. Das zweite Individuum, das als der Anstifter des ganzen Verbrechens angenommen wurde, mußte mit dem Mörder schon sehr vertraut gewesen sein, wenn er es wagte, ihm einen solchen Plan zu unterbreiten. Und Amadini und der Graf sind fast unzertrennlich. Auch dürfte der Altersunterschied zwischen Mörder und Anstifter nicht gar bedeutend gewesen sein; vermutlich war der Anstifter, der Ausdenker des Verbrechens, älter als der eigentliche Täter. Und der Graf ist vielleicht fünf bis sechs, sagen wir um zehn Jahre älter als Amadini.«

»Auch das will ich zugeben. Aber es gibt doch mehr Leute, die trotz ihrer fünfzig und sechzig Jahre miteinander intim sind, ohne daß sie gerade die Mörder und Anstifter jener Tat gewesen zu sein brauchen,« wandte Wesenthal lächelnd ein. »Dieser Grund erscheint mir also gar nicht stichhaltig.«

»Noch eins. Wenn man mit den Veränderungen und Verwandlungen der Gesichtszüge in zwanzig Jahren rechnet, so ähneln sowohl Amadini als auch Straußberg ganz genau jenen Bildern, die man seinerzeit von ihnen entworfen hatte. Der eine: groß, stark gebaut und kräftig, der andere klein, mager und kränklich aussehend, beide aber äußerst vornehm erscheinend. – Und dann, Sie kennen doch Marie, die frühere Wirtschafterin der Frau Melmström, die auch jetzt noch die Haushaltung Rudolfs führt?«

»Gewiß. Sie war einmal im Auftrage Rudolfs bei mir.«

»Vor einiger Zeit besuchte sie mich hier in meinem Büro, da sie mir etwas von Rudi zu bestellen hatte. Ich stand mit ihr an diesem Fenster, als ich gerade Amadini erblickte, der im Begriff war, das Haus drüben, in dem Anastasia wohnt, zu betreten. Ich machte Marie auf den Herrn aufmerksam und fragte sie, ob er nicht einem Freunde Rudolfs ähnlich sehe oder ob ich ihn nicht einmal bei Rudolf gesehen haben könnte. Sie sah durch das Glas, das ich ihr reichte, und kam plötzlich in große Erregung. Sowohl der Gang, als auch das ganze Exterieur Amadinis erinnerte sie frappant an den Menschen, der an dem Tage vor dem Verbrechen nach Joseph Kammgarn gefragt und der mit ihr im halbdunklen Korridor gesprochen hatte. Natürlich konnte sie nicht mit Sicherheit behaupten, daß er derselbe Mensch von damals war; jedenfalls aber blieb sie dabei, daß er sie ungeheuer an jenen erinnerte.«

Wesenthal zuckte mit den Achseln und sagte mit skeptischem Lächeln: »Das alles ist viel zu unbestimmt. Das sind alles keine typischen Merkmale. Es werden Hunderte denselben Gang und dieselbe Taille wie Amadini haben. Wenn Amadini aber wirklich der Mörder ist, müßten Ihnen an ihm ganz spezifische Eigentümlichkeiten auffallen: erstens sein Blick, der nicht dem gewöhnlichen Blick eines Menschen ähnelt, selbst bei Tage nicht, noch weniger bei Nacht – und dann eine kleine Narbe, die heute noch an dem Ballen seiner linken Hand sichtbar sein müßte.«

»Das ist es ja gerade. Von Anfang an fand ich seinen Blick gläsern, farblos, ganz genau so, wie ihn damals die Zeugen beschrieben haben, die den Unbekannten bei Tage gesehen hatten. Auch da können Sie mir wieder mit dem Einwurf kommen, daß ein solch farblos gläserner Blick auch bei anderen vorkommen kann.«

»Das Hauptmoment aber war, wie ich mich erinnere, daß einige Zeugen erklärt hatten – auch Rudolf –, daß sein Blick in der Dunkelheit leuchtete. Haben Sie diese Beobachtung noch nicht gemacht?«

»Bis jetzt noch nicht. Denn bisher traf ich Amadini nur entweder auf der Straße oder bei Anastasia, deren Salons stets taghell erleuchtet sind.«

»Sie hätten eben versuchen müssen, ihn in irgendein finsteres Zimmer zu locken.«

»Bei Anastasia gibt es keinen finsteren Winkel, geschweige denn ein finsteres Zimmer. Mit der Beleuchtung wird dort ein wahrer Luxus getrieben. Man könnte meinen, sie hätten diesen Fall vorgesehen.«

»War es denn nicht möglich, einmal zufällig das elektrische Licht abzudrehen?«

»Das hätte mir – ohne mir zu nützen – nur geschadet. Amadini hätte einfach die Augen zugemacht. Wenn er der Mörder ist, muß er auf seiner Hut sein. Ich kann mich doch dann nicht im Dunkeln auf ihn stürzen und ihn zwingen, die Augen zu öffnen. Anastasia und ihre Gäste würden mich einfach für verrückt erklärt und mir die Tür gewiesen haben, ganz abgesehen davon, daß sie durch dieses Manöver gemerkt hätten, daß ich gegen die Gesellschaft oder gegen einige Persönlichkeiten Mißtrauen hätte. Die Folge davon wäre gewesen, daß ich nicht mehr den Salon Anastasias hätte betreten können.«

»Und die Narbe an der Hand?« forschte Wesenthal interessiert weiter. »Wenn sie existiert, haben Sie sie doch an Amadinis Hand bemerken müssen. Das wäre doch sehr leicht zu konstatieren.«

»Sehr schwierig, im Gegenteil. Bei jenem vornehmen Tone, den Frau Anastasia in ihrem Salon verlangt, erscheinen die Herren nur in Frack und die Damen in großer Toilette. Fast alle Herren – so altmodisch dies uns auch scheinen mag – sind in weißen Handschuhen, und ich habe Amadini noch nie ohne dieselben gesehen. Das hat mich allerdings schon in Verwunderung gesetzt.«

»Das möchte ich gerade nicht sagen. Amadini ist nicht mehr jung, und hält deshalb die Moden von früher bei, ohne sich an das moderne »Nicht-Handschuh-Tragen« gewöhnen zu können.«

»Das wäre dann das einzige, in dem er nicht modern ist. Sonst setzte er gerade eine Force darein, in allem möglichst jung und modern zu erscheinen. Diese Inkorrektheit muß schon seinen guten Grund haben.«

»Haben Sie noch niemals versucht, ihn zum Ausziehen seiner Handschuhe zu bewegen?«

»Oft. Aber nie mit Erfolg. Vor einigen Tagen, als nur ein paar Menschen bei Anastasia waren, kam die Rede auf eine Wahrsagerin – oder besser gesagt: Spiritisten – die erst unlängst von der Kriminalpolizei entlarvt worden war. Ich erklärte mich kategorisch gegen diesen Schwindel mit übernatürlichen Kräften, stieß dabei aber auf lebhaften Widerspruch. Judith, die neben mir saß, erzählte, daß man in ihrer Heimat, in Italien, sich sehr viel mit diesem Wahrsagen aus der Hand beschäftigte, und behauptete selbst, aus den Linien der Innenfläche der Hand die Zukunft eines Menschen lesen zu können. Sofort streckte ihr jeder seine Hand hin, mit der Bitte, ihm wahrzusagen. Amadini war der einzige, der sich diesem allgemeinen Wunsch nicht anschloß, sondern blasiert, natürlich immer in Handschuhen, in seinem Lehnstuhl saß. Dann war es mir, als wollte er plötzlich unauffällig in einem Nebenzimmer verschwinden.«

»Und Sie?« fragte Wesenthal lebhaft interessiert.

Ich rief Judith zu, sie möge doch Amadini nicht durchschlüpfen lassen, denn seine Hand müßte doch viel interessanter sein, als die unsrigen. In Amadinis Zügen zuckte es unwillkürlich – wie ein unerwarteter Schrecken. Kalt, wie es seine Art ist, fragte er mich, wie ich zu dieser Vermutung käme. Ich erwiderte ihm, daß er und der Graf erstens Lebemänner, zweitens älter wären als wir alle, was Anastasia enorm schmeichelte, Amadini aber keineswegs angenehm schien. Er wurde nun von allen Seiten bestürmt, seine Hand hinzuhalten. Ich fühlte, wie mich sein Blick einige Male – wie fragend – streifte. Endlich dürfte er sich wohl gesagt haben, daß es unter diesen Verhältnissen gefährlicher war, sich dem allgemeinen Wunsch zu entziehen, als demselben Folge zu leisten, worauf er seine Handschuhe auszog und seine Hand hinhielt.

»Nun, und?« fragte Wesenthal gespannt.

»Ich näherte mich, wie Sie sich wohl denken können, und unterschied ganz genau an dem Ballen der rechten Hand, aus der Höhe der Handmitte, eine kleine Narbe. Auch Judith hatte sie bemerkt, denn sie rief: ›Sehen Sie nur, Ihre Lebenslinie ist sehr stark gezeichnet; nur auf dieser Stelle ist sie mit einem Male unterbrochen.‹ Sie sah schärfer darauf hin und fügte hinzu: ›Ah, es ist eine Narbe; sie stammt jedenfalls von einem Unfall, irgendeiner Biß- oder Brandwunde.‹ – ›Beides,‹ erwiderte Amadini. »Ich bin vor vielen Jahren von einem Hunde gebissen worden, und habe mir dann vorsichtshalber die Wunde ausbrennen lassen.«

»Ah, das ist allerdings ein äußerst wichtiges Anzeichen; nun fange auch ich an, Ihnen beizupflichten.«

»Nicht wahr?« rief Egon erfreut, der sich einbildete, die Zweifel Wesenthals endlich überwunden zu haben.

»Ich gestehe es offen, ich glaubte Sie anfangs auf einer falschen Fährte.«

»Sie sind jetzt also überzeugt, daß ich auf der richtigen bin?«

»Ueberzeugt … noch nicht.«

»Nun denn, so werde ich Sie vollkommen überzeugen. In der letzten Woche – an einem Abend, den ich bei Judith zu verbringen vorhatte, traf ich sie gerade bei der Arbeit, den Seidenbezug eines prachtvollen Fächers auf seine Rippen wieder aufzukleben. Ich konnte einen Ausruf des Entzückens nicht unterdrücken und fragte, ob der Fächer nicht von Sauerwald stammte. Judith schien sich über mein Kunstverständnis zu freuen, führte mich an einen kleinen Schrank und zeigte mir darin eine herrliche Sammlung verschiedenster Fächer, Fächer aus allen Zeitaltern, aus allen Ländern, in allen Formen und in jeder beliebigen Farbe. Beim Anblick so vieler, beinahe fürstlicher Geschenke konnte ich ein Gefühl der Eifersucht nicht unterdrücken. Wer mochte ihr diese alle geschenkt haben? Denn es war doch kaum anzunehmen, daß sie sie selbst gekauft hatte. Judith erriet, was in mir vorging, und versicherte mir, daß sie sämtliche Fächer von Anastasia bekommen hätte. Mir erschien das so unglaublich, daß ich ausrief: »Das verstehe ich nicht; außer wenn Anastasia ausgerechnet ein Fächergeschäft gehabt hat.«

»Das hat sie auch ihrerzeit gehabt. Sie besaß eins in der Lindenstraße, vor langer, langer Zeit.«

»Wirklich!« rief Wesenthal.

»Sie können sich denken, welche Wirkung diese Enthüllung auf mich hatte. Anastasia, eine gewesene Fächerverkäuferin, und zwar vor Jahren, wohnhaft in der Lindenstraße! Sie war also keine andere, als jene galante Kartenlegerin, die damals von der Polizei beauftragt worden war, den Mann mit den Katzenaugen zu suchen. Sie sehen, was sich daraus schließen läßt.«

»Ja, ja! – Weiter, weiter!« drängte Wesenthal, anscheinend aufs höchste gespannt.

»Ich schließe daraus, daß ihre Nachforschungen damals erfolgreich gewesen waren, und daß sie bloß deshalb eine Meldung bei der Polizei unterlassen hat, um aus ihrer Entdeckung in verschiedener Hinsicht Vorteil zu ziehen. Sonst kann man sich ihr heutiges Auftreten und ihre Salons nicht erklären. Ein Geschäft, wie das ihrige damals, und zwar ein kleines Detailgeschäft bringt wohl so viel ein, daß man gerade davon leben kann; aber man wird nicht reich davon. Jedenfalls kann man nicht gleich aus einer Hinterwohnung in eine fürstliche Wohnung zu drei- bis viertausend Mark ziehen, die beinahe fürstlich möbliert ist, in der es von Kammerdienern, Zofen und so weiter wimmelt. Das ist auf alle Fälle zumindest recht geheimnisvoll. Und wenn wir den Verdacht, den ein so plötzlicher Umschwung in der sozialen Stellung Anastasias in uns wachruft, mit jener anderen Idee der Erpressung in Verbindung bringen, so gelangen wir beiläufig zu dem Resultat: die fragliche Erpressung wurde jedenfalls auch auf den Mann mit den Katzenaugen ausgeübt, der seinen Gewinnanteil an dem Raube in der Königgrätzer Straße mit Anastasia zu teilen gezwungen war, widrigenfalls ihn Anastasia ausgeliefert hätte.«

»Und Sie folgern daraus?«

»Daß Amadini jener Mensch ist, den wir suchen. Ist das nicht auch Ihre Ansicht?«

Wesenthal dachte einen Augenblick nach und sagte endlich: »Mag sein. Ich glaube es selbst. – Aber was für Verdachtsmomente haben Sie gegen den anderen, den Grafen?«

»Die Beschlagnahme Amadinis durch Anastasia hatte notwendigerweise auch die des Grafen zur Folge, der vermutlich anfangs auch hatte zahlen müssen, sich jedoch später mit seinem früheren Mitschuldigen verbunden hat, um die anderen zu erpressen. Und diesen hat sich dann vermutlich auch Anastasia angeschlossen.«

»Trotz alledem ist es noch nicht ausgemacht, daß Anastasia gerade jene Fächerhändlerin war, die den Auftrag hatte, den Mann mit den Katzenaugen ausfindig zu machen. In dem Geschäft in der Lindenstraße konnten ja die Inhaberinnen mehrfach gewechselt haben. Die Zeit, wann Anastasia das Geschäft hatte, war ja auch nicht angegeben. Und wie ist das anzunehmen, daß sie Judith – wenn sie es war – in ihre früheren Verhältnisse eingeweiht hat?«

»Sie wird sich schön hüten, das zu tun. Was Judith über sie weiß, hat sie eben nur nach und nach ausspioniert. Einzelne, bald hier, bald da aufgefangene Worte haben sie auf diese Entdeckung gebracht. Wenn sie all dies Material zusammentun, würden auch Sie zu der Ueberzeugung kommen, daß in Amadini und Straußberg uns die beiden lang Gesuchten gegenüberstehen.«

Wesenthal hatte erreicht, was er wollte. Dadurch, daß er jede Behauptung oder Mutmaßung Egons anzweifelte, war dieser gezwungen gewesen, ihn in alle kleinsten Details einzuweihen, so daß Wesenthal den Anschein hatte, alles das, was er wußte, bloß aus Egons Munde erfahren zu haben. Egon konnte sich einbilden, als der erste alle diese Indizien herausgefunden und Amadini und Straußberg, trotz der Einwürfe Wesenthals, als die Mörder bezeichnet zu haben, so daß nie auf Wesenthal der Verdacht fallen konnte, schon vor dieser Unterredung etwas über jene beiden gewußt zu haben. Und wenn jetzt Wesenthal beginnen würde, energisch vorzugehen, so tat er es auf Grund der Informationen, die er durch Egon erhalten hatte, nachdem er durch ihn hatte erst gewaltsam überzeugt werden müssen.

Um jedoch völlig sicher zu gehen, sagte er zu Egon: »Trotzdem ich beinahe ebenso überzeugt bin wie Sie, würde ich mir damit nicht genügen lassen. Alle diese Indizien sind eben nur Indizien, und würden gewiß vollauf genügen, jene beiden unter Anklage zu stellen, damit die Untersuchung weitere Beweise zutage fördert. Wir aber haben – wie Sie wissen – keine Anklage zu erheben. Wir sind in diesem Falle selbst die Richter, die das Urteil zu fällen haben. Respektive Rudolf ist es. Um aber ein Urteil zu fällen, bedarf es überführender Beweise und nicht Indizien. Wenn wir zu Rudolf sagen: ›Da hast du sie! Schlage zu!‹ – dann müssen wir die Beweise haben, daß sie auch wirklich die Gesuchten sind, da wir mit obigem das Todesurteil der beiden Verbrecher aussprechen. Die bloße moralische Gewißheit genügt nicht.«

Egon wurde durch diese Auseinandersetzung ziemlich niedergeschlagen. »Und was denken Sie, was weiter geschehen soll?«

Wesenthal rückte seinen Stuhl näher an den Egons und sagte, dessen Hand ergreifend: »Ich würde an Ihrer Stelle nun alles daran setzen, mich von dem Leuchten der Augen des einen im Dunkeln zu überzeugen, sowie die beiden zu veranlassen, sich selbst zu verraten. Sie haben nun schon den großen Vorteil, daß Sie nicht weiter zu suchen brauchen. Denn nach dem, was Sie mir mitgeteilt haben, glaube ich selbst, daß sie es sind – und keine anderen. Also zentralisieren Sie Ihre ganze Aufmerksamkeit auf Amadini und Straußberg, scheuen Sie keine List und kein Mittel, diese Beweise zu erbringen. Vielleicht gelingt es Ihnen auch, neue Verbrechen der beiden zu entdecken, damit wir nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart bestrafen, nachdem wir die Ueberzeugung erlangt haben, daß die beiden sich in den zwanzig Jahren nicht nur nicht gebessert haben, sondern weiter auf der Bahn des Verbrechens geblieben sind. Denn – nur dann sind wir moralisch berechtigt, die Vollstreckung des Urteils selbst in die Hand zu nehmen. Und um Rudolfs und meiner Tochter Zukunft nicht aufs Spiel zu setzen, würde ich selbst – ohne jede Scheu und Gewissenbisse – den Henker spielen. Ich bin alt, meine Tage sind gezählt. Sollte der Rächer von den Gerichten zur Verantwortung gezogen werden – und das wird er auf alle Fälle –, so trifft mich alten Mann die Strafe leichter, als die beiden jungen Leute, denen noch das ganze Leben offen steht. – So. Und nun wollen wir überlegen, wie wir am besten zu dem gewünschten Resultat kommen können.«

Ihre Unterredung dauerte bis spät in die Nacht. Mit großer Klarheit entwickelte Wesenthal den Plan, den Egon befolgen sollte. Egon hörte ihm zu, ganz erstaunt darüber, daß ein Mann der Wissenschaft und des Studiums, der seit Jahren so vollkommen zurückgezogen lebte, nebenbei auch so praktisch war, und die Lebekreise Berlins, deren Angewohnheiten, Leidenschaften und Laster so genau kannte.

»Ich habe viel gelesen, viel über die Menschen nachgedacht und auch so viel selbst erlebt, als ich in Ihrem Alter war,« erklärte Wesenthal, der Egons Erstaunen darüber zerstreuen wollte, was ihm auch unschwer gelang, so daß Egon von tiefster Verehrung und grenzenloser Bewunderung für den alten Herrn erfüllt war; er bewunderte diesen Mitarbeiter, der die Aufgabe, die sie übernommen hatten, so gänzlich umformte und beinahe veredelte. Bis jetzt hatte man nur gewöhnliche Mörder auffinden, strafen und an ihnen ein Rachewerk vollführen wollen, das auf alle Fälle gegen das Gesetz verstieß. Wesenthal aber stand auf dem Standpunkt:

»Wohl wollen wir unter allen Umständen ein Rachewerk. Jedoch versuchen wir erst, nach unseren schwachen Kräften das Böse, das jene Menschen getan haben, wieder gut zu machen. Befreien wir ihre Opfer und versuchen wir, Judith, das arme Geschöpf, das sie mit sich in den Schlamm gezerrt haben, wieder aufzurichten, auf daß es uns auch bei unserem Strafwerk behilflich sein soll.«

Er entwickelte Egon mit aller Präzision, wie und was er alles sagen und tun müßte, um Judith zu überreden und zu überzeugen, um sie im Guten zu kräftigen und zum Guten anzuhalten, wie sie bisher zum Schlechten gezwungen worden war.

Als sie sich trennten, wandte sich Wesenthal noch einmal an seinen jungen Mitarbeiter:

»Ich bin der Meinung, daß wir uns hier nicht mehr treffen sollten. Unsere Gegner überwachen uns, und es ist besser, daß sie in Unkenntnis darüber bleiben, daß wir uns öfters treffen. Sobald Sie mir etwas mitzuteilen haben, haben Sie die Güte, mich in Potsdam zu besuchen. Wir werden uns dort ganz ungestört aussprechen können.« Er seufzte tief auf. »Es wird mir da draußen jetzt recht einsam vorkommen, und um so mehr werde ich mich freuen. Sie bei mir zu sehen. Hoffentlich sind wir bald in der Lage, meine Kinder zurückrufen zu können, trotz verschiedener Verzögerungen, die Ihre neuen Informationen zur Folge haben werden. »Unser Plan jedoch ist jetzt so klar und die Situation derart vorbereitet, daß sich die Ereignisse unmittelbar aufeinander entwickeln müssen. Es wäre auch recht gefahrvoll, unsererseits dieselben zu verzögern, und den Leuten da drüben die Möglichkeit zu geben, zu entfliehen. Wie sollten wir sie in der Fremde wiederfinden, wenn sie es so gut verstanden haben, sich bisher in Berlin zu verstecken, in derselben Stadt, in der auch wir leben? … Also auf Wiedersehen! Ich siehe Ihnen jederzeit zur Verfügung.«


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