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7. Kapitel.

Ohne ein Auge zu schließen, verbrachte er mit all seinen quälenden Gedanken die Nacht. Den nächsten Morgen war dieser sonst so unermüdliche Arbeiter nicht imstande, auch nur eine Zeile zu schreiben. Beim leisesten Geräusch schrak er zusammen und stürzte an das Fenster. Er wollte sie sehen, jene Marie, ohne von ihr gesehen zu werden, um sich ihre Gesichtszüge wieder genau einzuprägen, und sie zu fliehen, wenn er ihr einmal von weitem begegnen sollte.

Doch der Tag verging und der Abend kam, ohne die Erwartete zu bringen.

Sollte etwa Rudolf Melmström nicht gewollt haben, daß sich seine Wirtschafterin zu Fräulein von Wesenthal begab, wie sie ihn doch darum ersucht hatte?

Nach einem dreitägigen Urlaub, den Marie bei ihrer Familie in Pommern verbrachte, erhielt sie von ihrem Herrn folgenden Auftrag:

»Fahren Sie sogleich nach Potsdam und verlangen Sie Herrn von Wesenthal zu sprechen; aber auch nur Herrn von Wesenthal; wenn Sie vorgelassen werden, so richten Sie von mir eine Empfehlung aus und geben ihm diese Bücher, die er mir in Montreux geborgt hat.«

Mit seinem angeborenen Taktgefühl hatte er begriffen, daß er Marie bloß zum Vater und nicht zur Tochter schicken durfte, um Herrn von Wesenthal volle Freiheit zu lassen, die von Käthe erbetene Unterredung zu gestatten oder abzuschlagen.

Marie, ohne sich erst umzukleiden, machte sich sofort auf den Weg und langte etwa um vier Uhr nachmittags vor der Villa an. Nachdem ihr ein Mädchen geöffnet hatte, verlangte sie Herrn von Wesenthal zu sprechen. Hätte sie Fräulein von Wesenthal zu sprechen gewünscht, so wäre sie – laut den gegebenen Befehlen – sicher nicht vorgelassen worden. Da diese Dame aber den gnädigen Herrn zu sprechen wünschte, meldete sie den Besuch auch an.

»Gnädiger Herr, hier ist jemand, der Ihnen zu sprechen wünscht,« rief das Mädchen, die Tür zum Arbeitszimmer öffnend.

Marie trat ein. – Zufällig war Wesenthal gerade abwesend und nur Käthe im Zimmer.

Seit einigen Tagen hatte sich Wesenthal nach und nach beruhigt; er dachte, daß der junge Melmström eingesehen haben dürfte, daß er im Grunde genommen niemand zu ihm schicken konnte. Augenblicklich litt er unsagbar unter dem Erkalten des Verhältnisses seiner Tochter ihm gegenüber. Denn es war das erste Mal in seinem Leben, daß er mit seiner über alles geliebten Tochter kühler stand und daß sich beide in gewissen zurückhaltenden Formen bewegten. Gewiß war er selbst schuld daran. Denn noch am Tage vorher hatte er sich mit Käthe über jenes Drama, das sie so sehr beschäftigte, eingehend unterhalten, und plötzlich, ohne jeden für sie stichhaltigen Grund, hatte er ihr nun nach einem freundschaftlichen Besuch des Professors in einem beinahe brutalen Tone untersagt, jemals wieder über das so oft besprochene Thema zu reden.

Vielleicht suchte sie infolge jener Szene, die stattgefunden hatte, irgendeinen ernsthaften Grund, weshalb er den Besuch jener Zeugin Marie so schroff verweigert hatte. Ein solches Grübeln bei Käthe konnte gefährlich werden. Deshalb hielt er es für klüger, sich den Anschein zu geben, als hätte er heute nichts mehr gegen den angekündigten Besuch einzuwenden, der – nach seiner Ueberzeugung – jetzt doch nicht mehr stattfinden würde. Auch sagte er sich, daß für ihn wirklich keinerlei Gefahr in Frage kam, wenn sich jene Wirtschafterin mit seiner Tochter und recht gern mit ihm unterhielte. Auch glaubte er aus den Worten Käthes, daß sie bereits an Eva Kleinthal geschrieben haben mußte, sie möge den Besuch Maries verhindern, da ihr Vater damit nicht einverstanden war. So glaubte er tatsächlich die Angelegenheit abgetan und hielt die Gefahr für bleibend beseitigt.

Im Laufe des Nachmittags brauchte er einige Bücher, die er auf dem Boden in einer Kiste verpackt hatte, weshalb er sich nach oben begab, um dort aus ihnen einige Notizen zu machen. Es war dies gerade der Augenblick, als Marie ankam und das Mädchen den Besuch in das Arbeitszimmer ihres Herrn führte.

Käthe saß am Fenster und arbeitete. Sie erhob sich, warf einen Blick auf die eben eintretende Frau und erriet sofort an ihrem Aeußeren, ihrem Alter und ihren Manieren, mit wem sie es zu tun hatte.

»Es war Herr von Wesenthal, den ich zu sprechen wünschte, liebes Fräulein,« begann Marie. »Herr Melmström läßt sich bestens empfehlen und übersendet mit bestem Dank diese Bücher, die ihm Ihr Herr Vater in Montreux geliehen hatte.«

Sie legte drei zu einem Paket zusammengebundene Bücher auf den Tisch und war eben im Begriff, sich wieder zu entfernen, als sie Käthe nach einem Augenblick des Zögerns zurückhielt:

»Und haben Sie mir nichts auszurichten?«

»Nein, gnädiges Fräulein. Der gnädige Herr hat mir nur aufgetragen, alle Ihre Fragen und die Ihres Herrn Vaters genau zu beantworten, falls Sie mir solche stellen würden.«

»Also schön! Nehmen Sie Platz, bitte; ich möchte Sie wirklich um einige Sachen befragen. Ich wäre Ihnen so undenklich dankbar, wenn Sie einige Erinnerungen aus alter, lang verwehter Zeit wieder wachrufen könnten. – Sie haben doch jenen Joseph Kammgarn gekannt, einen der Mörder der Frau Melmström?«

»Jawohl, Fräulein, und ich erinnere mich noch vollkommen an ihn.«

»Sie erinnern sich an ihn? Seit damals? In zwanzig Jahren ändert man sich doch sehr.«

»Oh, ich sehe ihn nicht so, wie er damals war, liebes Fräulein, sondern so, wie er heute sein muß. Ich war so oft in Gedanken bei ihm, daß ich, sozusagen, ihn im Geiste verfolgt habe, wie er gealtert haben mag, daß ich fast jede seiner äußeren Veränderungen mitgelebt habe.«

»Und wie glauben Sie, daß er jetzt aussehen mag?«

»Natürlich groß, wie damals, nur etwas gebeugt durch das Alter und durch den Kummer. Sein Blick ist nicht schlecht; im Gegenteil, es liegt etwas Trauriges, Sanftes, Zärtliches in seinen Augen. Er wird seinen Schnurrbart abgenommen und dafür einen Vollbart stehen gelassen haben, um nicht erkannt zu werden. Aber ich würde ihn trotzdem wiedererkennen.«

»Sie haben gesagt: »Gebeugt durch den Kummer.« Glauben Sie also, daß jener Mensch unter seinem Verbrechen gelitten hat?«

»O ja! Außerordentlich! Er war kein schlechter Mensch. Ich glaube fest und bestimmt, daß er zu dem Verbrechen gezwungen worden ist. Er war nie fähig, so etwas selbst auszuhecken. Er hat acht Tage lang in einem Zimmer des fünften Stockes gewohnt, dicht neben dem meinigen. Nur eine dünne Mauer hat mein Zimmer von dem seinigen getrennt. Nachts hörte ich ihn dann seufzen und stöhnen. Einmal sogar habe ich ganz deutlich gehört, wie er geweint hat. Er hatte damals jedenfalls mit sich selbst gekämpft; er war in Verzweiflung über das Böse, das er zu tun beabsichtigte – über das Verbrechen, zu dem man ihn trieb.«

»Und das er schließlich doch begangen hat,« unterbrach sie Käthe.

»Gewiß! Allerdings! Gewiß hat er sich schwer versündigt. Aber bis zum letzten Augenblick hat er dieser gräßlichen Versuchung zu widerstehen versucht!«

»Woraus schließen Sie das?«

»Der andere – der wirkliche Mörder – hat die Nacht vom 15. bis 16. Januar in Josephs Zimmer verbracht. Natürlich habe ich nicht verstehen können, was die beiden miteinander gesprochen haben. Die Stimmen waren nicht deutlich genug. Aber manchmal sind sie ziemlich heftig und laut geworden, und ich habe daran erkannt, daß sich zwischen den beiden Männern ein heftiger Zank erhoben hatte. Der eine drohte und der andere schien dem ersten bittend zuzureden: und das war die Stimme Josephs. Unglücklicherweise bin ich dann gegen Morgen eingeschlafen, und das furchtbare Verbrechen, zu dem ihn der eine gezwungen hat, und das auszuführen er sich weigerte, ist inzwischen begangen worden.«

»Und den Mitschuldigen dieses Joseph Kammgarn haben Sie nicht gesehen?« setzte Käthe ihr Verhör weiter fort.

»Doch, Fräulein, als er gegen fünf Uhr abends in Josephs Zimmer eintrat, unter dem Vorwande, hier auf seinen Freund warten zu wollen.«

»So würden Sie diesen auch wiedererkennen?«

»Vielleicht, wenn ich mich plötzlich ihm gegenüber befände: trotzdem aber würde ich ihn nicht so gut wiedererkennen, wie den andern. Bei dem könnte ich mich leicht täuschen.«

»Und hat Ihnen Herr Melmström niemals den Auftrag gegeben, auch Ihrerseits Nachforschungen anzustellen?«

»Jawohl, Fräulein, und ich habe überall nachgeforscht, soweit ich eben konnte, mich auf den Zufall verlassend. Aber dieser war mir nicht günstig. Wie könnte ich auch etwas entdecken? Höchstens vom Fenster aus oder auf der Straße, falls er zufällig an mir vorübergehen würde.«

»Ich höre eben meinen Vater von oben herunterkommen. Sie können ihm Ihren Auftrag selbst ausrichten und, wenn er es Ihnen erlaubt, werden wir dann noch ein wenig miteinander plaudern, sobald er wieder an seine Arbeit gegangen ist.«

In diesem Augenblick trat Wesenthal ein.

Sobald er die ältere Frau an der Seite seiner Tochter sitzen sah, wußte er sofort, daß das niemand anders als Marie sein konnte. Blitzschnell, obwohl er fühlte, wie er – trotz aller Gegenanstrengung – die Farbe wechselte, überlegte er, daß er verloren war, wenn er durch irgend etwas seine Erregung kundgab oder zurückging. Wie durch einen magischen Spiegel erinnerte er sich, wie er damals ausgesehen hatte, als ihn Marie gekannt; da er auch damals die Angewohnheit gehabt hatte, mit etwas nach vorn geneigtem Oberkörper zu gehen, warf er ihn jetzt zurück, um eine möglichst militärische Haltung anzunehmen; seine sonst so finstere Stirn glättete sich – seine Trauer und sein ihm angeborener Ernst wich dem Ausdruck des gemütlichen Wohlwollens. Er gebot seinen Zügen, sich nicht zu entstellen oder zu erregen, und trat in das Zimmer, die Augen auf die Wirtschafterin geheftet, als wundere er sich, hier eine Frau zu finden, während seine Blicke zu fragen schienen, wer sie wäre.

»Väterchen,« sagte Käthe, sich alsbald erhebend, »da ist die Dame, von der ich mit dir gesprochen habe, und die Herr Melmström zu uns geschickt hat. Das Mädchen hat Fräulein Marie hier hereingelassen, weil sie nach dir gefragt hat und nicht nach mir. Da du eben beschäftigt warst, ersuchte ich sie, dich zu erwarten.«

»Du hast vollkommen recht getan,« erwiderte er mit vollkommener Ruhe und Liebenswürdigkeit, um sich dann an Marie zu wenden: »Wie geht es Herrn Melmström? Hoffentlich gut?«

Sie richtete ihren Auftrag aus, ohne daß ihre Stimme auch nur die leiseste Aufregung verraten hätte.

Sollte sie ihn also nicht wiedererkannt haben? Nein. Natürlich nicht. Sie bildete sich zwar ein, daß sie sich an Joseph Kammgarn erinnerte, aber das war eben Einbildung. Dadurch, daß sie sich einen neuen Kammgarn aus dem alten, ihr bekannten, zurechtgezimmert hatte, schwand ihr nach und nach gänzlich das Bild des einst von ihr gekannten Kammgarn, ohne daß das neue Konterfei irgendwie Aehnlichkeit mit Wesenthal hatte. Außerdem – wie sollte sie in dem Vater jenes Mädchens, das ihr Herr so unsagbar liebte, und das er zu seiner Frau hatte machen wollen, den verbrecherischen früheren Diener der Frau Melmström vermuten?

Ihr Blick ruhte so harmlos und mit solchem Respekt auf Wesenthal, daß er erleichtert aufatmete. Um ein Haar – und er hätte geweint. Er fühlte, daß er gerettet war, und wandte sich voll Liebe an seine Tochter.

»Du hast dich wohl während meiner Abwesenheit mit dem Fräulein über manches unterhalten?«

»Jawohl, Vater,« antwortete sie treuherzig.

»Was hast du das Fräulein gefragt? Ich glaube … Fräulein Marie, nicht wahr?«

»Jawohl, gnädiger Herr.«

»Haben Sie meiner Tochter irgendeine neue Beobachtung mitgeteilt?« wandte er sich an die gewesene Kammerfrau der Ermordeten.

»Jawohl, Papa,« erwiderte Käthe an ihrer statt, »und zwar ein Detail, das mich heute über Joseph Kammgarn anders denken läßt, als früher. Wenn ich früher behauptet hatte, er wäre der Schuldigste von den drei Mördern, so hast du ihn stets in Schutz genommen und hast vielleicht recht gehabt, das zu tun.«

»Oh, ich habe ihn nicht in Schutz genommen,« erwiderte er lebhaft. »Ich habe nur manchmal bemerkt, ob er nicht etwas Mitleid verdiente. Aber nichtsdestoweniger ist seine Tat ebenso unentschuldbar, wie die der andern.«

Absichtlich griff er Kammgarn heute etwas heftiger an, um etwaige Verdachtsmomente Maries zu zerstreuen; allerdings war es unwahrscheinlich, daß sie jetzt noch solch einen Verdacht schöpfen könnte.

Eine wahre Lust überfiel ihn jetzt, sich selbst anzuklagen und zu belasten. Er wollte seine Tochter, die ihn so lange angegriffen hatte, zwingen, diesen Kammgarn in Schutz zu nehmen; was er schließlich denn auch erreichte. Denn sie begann ihn plötzlich mit einer Lebhaftigkeit zu verteidigen, mit der sie ihn vorher nicht einmal angegriffen hatte.

Darauf ergriff Käthe wieder das Wort:

»Die Reue, die Gewissensbisse dieses Mannes sind vollkommen erwiesen. Später – erinnerst du dich noch, Vater – hat er doch die 600 000 Mark an Herrn Melmström zurückgesandt. – Und dann,« fügte Käthe hinzu, »erinnerst du dich an jenen Brief, von dem die Zeitungen gesprochen haben und der gleichzeitig mit den 600 000 Mark angekommen war? Ich erinnere mich allerdings nicht mehr an die Worte, weiß jedoch, daß sie mir aufgefallen waren.«

Sie wandte sich darauf an Marie:

»Waren Sie bei Herrn Melmström, liebes Fräulein, als der Brief und das Geld an ihn gelangten?«

»Natürlich; ich hatte Herrn Rudolf seit dem Tode seiner Mutter mit Ausnahme weniger Tage noch niemals verlassen.«

»Und wissen Sie, ob er diesen Brief aufbewahrt hat?«

»Ich bin fest überzeugt davon.«

»Ach, ich möchte ihn so gern lesen!«

»Wozu? Weshalb?« fragte Wesenthal lebhaft.

»Verzeih', Papchen. Man kann jemand an der Schrift wiedererkennen, genau so, wie man ihn oft wiedererkennt, wenn man ihn selbst sieht. Wenn du nichts dagegen hast, werde ich Herrn Melmström durch das Fräulein bitten lassen, uns auf einige Tage den Brief anzuvertrauen.«

Nach einigen Augenblicken des Ueberlegens antwortete er:

»Meinetwegen; aber bitten Sie Herrn Melmström, daß er mir den Brief übersendet,« fügte er hinzu, dabei seinen Blick auf Marie heftend.

Spät war es, als sie ihn umarmte, wie, um ihm gleichzeitig zu danken, daß er ihr den früher untersagten Besuch zu empfangen gestattet hatte. Ihm noch einmal freundlich zunickend, ging sie nach oben auf ihr Zimmer.

Wesenthal war froh, mit sich allein zu sein, um endlich einmal freier aufatmen und seine Nerven sammeln zu können. Mit welch übermenschlicher Kraft hatte er sich zwingen müssen, so natürlich und harmlos zu handeln. Was aber diesen Brief anbetraf, so hatte er eingewilligt, daß er ihnen zugeschickt würde. Was für einen Vorwand sollte er nun nehmen, ihn seiner Tochter vorzuenthalten?

Was aber, wenn sie seine Schrift erkennen, würde?

So brachte jeder Tag, beinahe jede Stunde eine neue Gefahr.

Ehe er noch zu einem endgültigen Entschluß gekommen war, erhielt er einen eingeschriebenen Brief, der die Handschrift Rudolfs trug und seinen eigenen Brief von damals einschloß.

Einige Augenblicke starrte er auf das geöffnete Kuvert, ohne den Mut zu haben, seinen Brief herauszunehmen. Endlich überwand er sich und nahm mit zitternden Fingern das Blatt heraus. Er las die Aufschrift auf dem Briefumschlag. Er kannte seine Handschrift nicht wieder; so würde auch wohl seine Tochter, trotz ihrer Begabung, Schriften zu entziffern, dieselbe kaum wiedererkennen.

Nun wollte er den ganzen Brief lesen: eine Zeile, ein Wort, ohne etwas Wichtiges für Rudolf Melmström zu enthalten, konnte jedoch für Käthe eine Aufklärung und Enthüllung, oder auch nur ein Fingerzeig werden.

Er las unter anderem:

 

»Ich kann nicht länger dieses Geld behalten. Ich gebe es Ihnen hiermit zurück. Das ist der Anteil jener 1 800 000 Mark, die Ihrer Mutter entwendet worden sind. Dadurch, daß ich sie zurückgebe, verbleibe ich arm, vollkommen ohne Mittel, aber ich will mein weiteres Leben einzig und allein nur der Arbeit widmen, ohne jemals innezuhalten, so lange noch mein Kopf denken, meine Hand mir gehorchen kann.«

 

Dann dieser lange Schmerzensschrei:

 

»Ach, wenn Sie wüßten, was ich gelitten habe, was ich noch leide und was ich bis zu meinem letzten Atemzug noch leiden werde! Nie wird ein Verbrechen derart gesühnt worden sein, wie durch den Schmerz, den ich erlitten, mit dem ich die furchtbare Tat absühne. Oh, vergeben Sie dem Unbekannten, daß er Ihnen von seinen Leiden spricht. Ihnen, dem so unsagbares Leid zugefügt worden ist. Wenn ich mich einer anderen Tat schuldig wüßte, als des Raubes, würde ich niemals wagen, dies zu schreiben. Man versucht nicht, das Herz jenes Mannes zu erweichen, dessen Mutter man getötet hat. Niemals! Es kann sich nicht rühren lassen. Aber ich habe nichts mit dem Verbrechen des Mordes gemein. Ich habe es nicht begangen. Ich habe sogar versucht, es zu verhindern … Ich weiß wohl. Sie werden mir erwidern, daß ich den Mörder nicht in die Wohnung hätte einlassen sollen. Ich schwöre Ihnen, daß er nur in der Absicht gekommen war, zu stehlen – – mit mir gemeinschaftlich zu stehlen! Wie weit hat uns nun der Diebstahl geführt! – Verraten Sie mich nicht! Versuchen Sie es nicht, mich an meiner Handschrift wiederzuerkennen. Ich wollte sie anfangs verstellen, ich kann es aber nicht durchführen. Wenn es Ihnen gelingen würde, mich zu entdecken und verhaften zu lassen! Was sollte dann aus meinem Kinde werden, wenn ich nicht mehr lebe! – Ich habe Sie gerettet. Nun erflehe ich meinerseits von Ihnen Erbarmen – Erbarmen für das arme kleine Wesen, das an seinem Vater hängt. Ich bange vor dem Elend nur einzig und allein um meines Kindes willen. Glauben Sie mir, nicht das Zuchthaus und das Schaffot schrecken mich.

Ich weiß wohl, daß Sie mir nicht vergeben können, darum schenken Sie mir nur etwas Mitleid! Es ist mein Kind, das durch mich zu Ihnen fleht. Und dieses arme, unschuldige Wesen hat Ihnen ja kein Leid getan.«

 

Hier endigte der Brief.

Wesenthal las ihn noch einmal. Und noch einmal. Nein, er enthielt nichts, das ihn verraten könnte. Die Arbeit? Er war nicht der einzige, der unermüdlich arbeitete. Das Kind? Es gab noch andere Väter außer ihm; und er sprach im Briefe nicht einmal von dem Geschlecht des Kindes.

Bleibt nur noch die Schrift. Auf den ersten Blick konnte sie kaum die Aufmerksamkeit seiner Tochter fesseln. Wenn sie sich noch so sehr Mühe gab, konnte sie höchstens eine Aehnlichkeit entdecken. Trotzdem schnürte ihm die Angst die Kehle zusammen. Er dachte einen Augenblick daran, den Brief zu vernichten oder zu verbrennen. – Aber das war ja wieder unmöglich, denn der Brief war eingeschrieben angekommen; auch trug der Schein seine Unterschrift. Außerdem konnte Käthe den Brief vom Boten in Empfang genommen, die Schrift ihres gewesenen Bräutigams erkannt haben und sich nun über den Verbleib des Briefes verwundern. Nein, nein, besser, der Gefahr auch hier kühn die Stirn zu bieten.

Eben, als er noch überlegte, trat Käthe in das Zimmer. An ihren Blicken erkannte er sofort, daß sie irgend etwas suchte, so daß sie sich nicht einmal Zeit lassen wollte, ihn zu fragen.

»Du willst fragen, ob Herr Melmström mir den Brief geschickt hat, den du von ihm erbeten hast?« redete er sie mit ganz natürlichem Tone an. »Jawohl. Und lies. Setze dich an meinen Schreibtisch, ich trete dir meinen Platz ab. Ich muß etwas auf- und abgehen. Ich arbeite schon ziemlich lange. Mich friert vom langen Sitzen. Der Morgen war recht kühl heute.«

Sie tat, wie ihr geheißen und las langsam die wenigen Begleitzeilen Rudolfs, um dann an die Lektüre des ihr so wichtigen Briefes zu gehen.

Nichts an der Schrift war ihr aufgefallen; plötzlich bemerkte er, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten.

Er war nahe daran, sich vor ihr auf die Knie zu stürzen und ihr für das Mitleid, das sie dem Schreiber dieses Briefes zollte, zu danken. Doch hieß es sich auch hier – wie immer – mit aller Energie zu beherrschen.

Als sie mit dem Brief zu Ende war, begann sie mit bewegter Stimme: »Jetzt weiß ich, warum Herr Melmström immer nur nach dem anderen Schuldigen gesucht hat. Er wollte diesen nicht wiederfinden. Gewiß kann er diesem nicht verzeihen; sogar der Schreiber dieses Briefes sieht das ein. Aber er will ihn nicht strafen. Er trägt der Bitte jenes Kindes Rechnung, das heute schon erwachsen sein muß. Rudolf liebte und ehrte in dem Unbekannten dessen väterliche Gefühle. Wenn jenes Kind davon erführe, so würde es vielleicht daran sterben!«

»Vielleicht würde es dem Vater auch verzeihen?« versuchte er zaghaft einzuwerfen.

»Auch das ist möglich.«

Sie starrte immer noch in den Brief.

»Du studierst wohl die Handschrift?« fragte er.

»Nein. Wozu?« erwiderte sie. »Ich stehe jetzt auf dem Standpunkt Rudolfs. Mir liegt jetzt nichts mehr daran, diesen Menschen wiederzufinden. Auf alle Fälle möchte ich nicht, daß dies, was er in einem Augenblick der Verzweiflung und der bittersten Reue niedergeschrieben hat, dazu dienen könnte, ihn zu verraten. – Wir dürfen den Brief nicht behalten,« begann sie nach einer kurzen Pause. »Er bedeutet jedenfalls ein wichtiges Stück in einer Beweiskette, deren einzelne Belege Herr Melmström sorgsam aufgehoben haben dürfte. Schicke diesen Brief sofort wieder zurück, Papchen, mit einigen Dankesworten von dir.«

»Du hast recht, mein Kind.«

Aber in dem Augenblick, als er den Brief schloß, tauchte eine neue Gefahr in ihm auf: War es nicht möglich, daß Rudolf Melmström zwischen beiden Schriften – der des alten Briefes und seines jetzigen – irgendeine Aehnlichkeit entdecken konnte? Rudolf erhielt seinen Brief als unbefangener Leser, während Käthe den Brief in großer seelischer Erregung gelesen hatte, die nicht dazu angetan war, Vergleiche zu gestatten.

Deshalb zerriß er seinen Brief wieder und sagte, sich an Käthe wendend:

»Der Brief gefällt mir nicht. Er ist zu kühl, zu formell. Schreibe du doch in meinem Namen. Auch werden ihn deine Zeilen mehr freuen, als die meinigen.«

Sie ließ sich nicht erst lange bitten, sondern warf rasch einige liebenswürdige Zeilen an Herrn Melmström zu Papier, die ihr Vater dann unterschrieb. Käthe steckte ihre Zeilen und den Kammgarnschen Brief in ein Kuvert, versiegelte dasselbe und schickte sofort das Mädchen damit zur Post.

Für den Augenblick wenigstens war Wesenthal jeder Gefahr entgangen.


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