Maurice Renard
Ein Mensch unter den Mikroben
Maurice Renard

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Nachschrift

Pons klappte das Heft zu.

Er schüttete in den Ofen, der nahe am Ausgehen war, einen Eimer Anthrazit.

Fléchambeau machte ein Zeichen.

»Etwas verstehe ich nicht,« bemerkte Pons nachdenklich. »Papageien sind viel kleiner als Elefanten, und doch erreichen beide das gleich hohe Alter.«

»Ich konnte den Anhang nicht mehr schreiben, war zu müde,« murmelte Fléchambeau. »Ich bin zu rasch wieder gewachsen. Und mein Alter ... mein hohes Alter! ... Mach' mir einen Grog.«

Vor sich hingrübelnd, warf Pons das Heft auf den Tisch.

»Vorsicht!« sagte Fléchambeau. »Denk' an die Katastrophen, die du im unendlich Kleinen entfesseln kannst!«

Während Pons heißes Wasser für den Grog zubereitete, fuhr er fort:

»Die Landsleute Mikromegas hatten tausend Sinne. Trotzdem meinte Mikromegas: ›Wir haben ein unbestimmtes Ahnen, eine gewisse Unruhe in uns, die uns unaufhörlich zuflüstert, daß es Wesen gibt, die viel vollkommener sind als wir.‹ Der Mensch, lieber Pons, ist ein monströses und rührendes Geschöpf. Von den hunderttausend Spiegelflächen des Alls sehen wir nur jene fünf, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen können. Wer die hunderttausend sehen würde, würde Gott schauen. Wir haben von Gott nur einen höchst unklaren Begriff, so etwa wie vom Unendlichen und Ewigen, das wir mit unseren Sinnen weder erfassen noch begreifen können, ebensowenig wie mit unserem Geiste. Du kannst nicht die Luft durchfliegen, nicht im Wasser leben. So vermagst du auch nicht mit deinen Gedanken in Sphären herumzuschweifen, welche deine Sinne nicht kennen. Ich glaube, die Mandarinen nehmen Dinge wahr, die wir mit dem infraroten Lichte oder den ultravioletten Strahlen vergleichen können.«

»Trink' jetzt deinen Grog!« meinte Pons, ihm das Glas reichend.

»Teufel, ich hab' mich verbrannt! ... die Mandarinen verbrannten sich niemals. Davor bewahrte sie ihr Pomponsinn.«

»Denk' jetzt nicht mehr an deine Mandarinen, Fléchambeau, sag' mir lieber, wie du bis zu meiner Rückkehr gelebt hast?«

»Ganz im geheimen,« entgegnete Fléchambeau. »Niemand erkannte mich wieder. Ich ging übrigens nur nach Schwinden des Tageslichtes aus. Alle Leute waren sehr nett zu mir, aber das kommt daher, daß ich wohl in der Mandarinengesellschaft viel nachsichtiger geworden bin, mehr ... großdenkend. Der Erdenmensch hat, ohne etwas davon zu wissen, etwas vom Mandarin an sich. Unseresgleichen wie unseresgleichen zu behandeln, ist ein schwerer Fehler, die ewige Quelle von Mißverständnissen, Ungerechtigkeiten und Verdruß.«

Beunruhigt fühlte Pons ihm den Puls. Fléchambeau hub wieder an:

Von manchen unserer Sinne behauptet man, daß sie auf höherer Stufe stehen. Warum, weiß man nicht. Aber man verzeiht ihnen alles. Es gibt Musiknarren und Malereibegeisterte ... Dilettanten und Künstler ... und weil einer ein besonders stark entwickeltes Gefühlsleben besitzt oder einen verfeinerten Geschmackssinn, schimpfst du ihn einen sittenlosen Kerl oder einen Schlemmer. Man redet von Todsünden, Lastern. Ist das vernünftig? ...

Um den Kranken zu beruhigen, sagte Pons:

»Schon gut, schon gut. Aber sag' mir lieber, was du getrieben hast, während ich nicht da war?«

»Ich las, habe Bücher gelesen, alte Schmöker, die ich früher nicht verstand. Es gibt sehr viele Werke, deren Verfasser einen unendlich weiten oder einen unendlich beschränkten Blick haben, was auf das gleiche herauskommt. Manche sind auch ganz unverständlich geschrieben, Pons, und wenn wir sie nicht an das Licht unseres Geistes näher heranrücken, um die Kleinarbeit ...«

»Du hast eine lange Fahrt hinter dir, du mußt dich jetzt ausruhn!« unterbrach ihn der Doktor.

»Stimmt,« nickte Fléchambeau, »eine lange Fahrt durch alle drei Dimensionen ... ›Die Fahrt ohne Fahrt‹ eines Autors, dessen Namen mir nicht einfällt ... Pons, bist du deiner Sache sicher, daß wir uns nicht unter der Glasglocke irgendeines riesigen Mikroskopes befinden? ... Bist du sicher, daß uns nicht ein gigantisches Auge durch das Okular betrachtet? ...«

»Ein Auge innerhalb eines gleichseitigen Dreiecks?« lächelte Pons. »Was du da sagst, ist alt wie die Welt.«

»Pons,« begann wieder Fléchambeau, dessen Gedanken sich etwas verwirrten. »Es wird gut sein, wenn du Olga heiratest. Aber nimm dich in acht. Die Frauen sind uns nicht so ähnlich, wie wir den Mandarinen. Zwischen einer Frau und einem Mann ist der Unterschied größer, als zwischen einem Zitronenfalter und einem Hecht.«

»Gewiß, Alter, verstanden! Aber jetzt gib deinen Gedanken Urlaub. Schlafe, schlafe, Fléchambeau.«

Und Fléchambeau schlummerte wie ein Kind ein.

Das Kinn in der Hand, grübelte Pons lange vor sich hin. Ein starker Wind hatte sich aufgemacht. Die dürren Äste der Glyzinien rasselten wie Knochen.

»Marionetten sind wir!« murmelte Pons. »Kleine Püppchen, aus Brotkrume geknetet, die ein Meisterphilosoph auf einem Teller tanzen läßt. Mit einem Puster kann er uns in den Staub des Nichts wegblasen.«

Der Sturm begann zu heulen.

Pons blickte nach dem Bett ... Fléchambeau lag nicht mehr darin. Unter der Wucht des Orkans geriet alles ins Wanken. Das Haus flog davon. Saint-Jean-de Nèves entwich samt seinen Bergen, wie ein Spielzeug vor der Macht des Sturmes. Ein geheimnisvoller Mund blies über die Bildfläche hin und fegte die Männlein hinweg, die eine humoristische Hand einst geformt hatte. Pons ward sich klar, daß er selbst in Wahrheit nichts war. Er wollte ausrufen:

»Was hab' ich gesagt!«

Aber schon hatte ihm der Schöpfer (Autor) das Wort entzogen und Leben und Gedanken.


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