Maurice Renard
Ein Mensch unter den Mikroben
Maurice Renard

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Drittes Kapitel

In welchem eine Katze und ein Hanswurst auftreten

Fléchambeau wartete nicht die Revolution der 30 Tage ab, um nach Saint-Jean-de Nèves zurückzukehren. Keinerlei Vergnügungen und Spiele, noch Strapazen welcher Art immer vermochten ihn auf andere Gedanken zu bringen. Obwohl er wußte, daß Pons dafür Sorge getragen hatte, Fräulein Olga über die Geschehnisse zu informieren, litt er doch unsäglich unter der Trennung. Das ist die Liebe, und es ist nicht nötig, sich näher darüber auszulassen, denn jeder von uns hat diesen Zustand mehr oder minder häufig durchgemacht und weiß, wie er sich auswirkt. Die Liebe liebt die Liebenden (schöner Stabreim, der alles sagt), und wer sich von dem Gegenstande seiner Liebe entfernt, auf den übt er eine Anziehungskraft aus, die ihm den Kopf verdreht und ihn unaufhörlich beschäftigt. Die Herzen laden sich gegenseitig mit einem sympathischen Fluidum, und so hatte Fléchambeau das seine mitgenommen, wie ein Kompaß seine Nadel mit sich trägt, nur mit dem Unterschiede, daß für ihn der Nordpol in Savoyen lag.

Schon nach knappen drei Wochen sah ihn Pons wieder landen.

Der Ankömmling ließ etwas den Kopf hängen, denn er fürchtete sich vor einer Strafpredigt, aber die joviale Miene seines Freundes gab ihm Mut.

»Gewiß, eigentlich sollte ich dich auszanken,« meinte Pons. »Doch sei willkommen. Die Sache macht sich. Die Hauptarbeit ist getan. Mit 95 Prozent Wahrscheinlichkeit werden wir siegen. Und wenn du mir versprichst, vernünftig zu sein, will ich dir gern anvertrauen, wieso.«

»Vernünftig soll ich sein?«

»Ich meine damit: verschwiegen. Es darf zu keinem Menschen auch nur das leiseste Wort gesagt werden, ehe nicht auch noch die uns widrigen 5 Prozent eliminiert sind.«

Fléchambeau trat in die Mitte des Zimmers, um beim Emporheben der Schwurhand nichts umzustoßen.

»Ich gelobe, stumm zu sein wie das Grab eines Karpfens!« sagte er. »Doch glaubst du, nach Ablauf der Bedenkzeit die Einwilligung der Monempoix erlangen zu können?«

»Zweifelsohne, wenigstens um diese Zeit herum. Wenn nicht – bedeutet es eine Niederlage, was ich dir nicht verheimlichen möchte. Warte ein wenig. Ich komme gleich wieder.«

Sie befanden sich in Fléchambeaus Zimmer.

Pons empfahl sich und kehrte bald darauf mit einem winzigen Kätzchen auf der Schulter zurück.

»Schau mal an,« meinte er. »Maria-Stuart hat schon wieder geworfen? Und dieses Kind kann sie nicht verleugnen, was? Betrachte dies Schnäuzchen. Ganz die Mama. Es schielt auch und ist dreifarbig. Die gleiche Zeichnung, dasselbe Dirnengesichtchen. Das genaue Ebenbild der Alten, nur ein Miniaturporträt von ihr.«

»Erstaunlich!« bemerkte Fléchambeau ohne Interesse. »Aber mich quälen andre Sorgen, und ich bin pressiert ... es drängt mich, offen gestanden, zu erfahren ...«

»Dummkopf! Du hast es ja schon erfahren, du weißt alles.«

»Was weiß ich?« stotterte Fléchambeau verwirrt.

Ein »Jokunda«-Lächeln auf den geschlossenen Lippen, wie es Leonardo da Vinci gemalt haben könnte, weidete sich Pons an der Verblüffung seines Freundes.

»Dummkopf,« wiederholte er grausam. »Es ist doch Maria-Stuart selbst, die du hier siehst!«

»Ah!«

»Hör' zu! Du hattest ganz recht. Das mit Olgas ›Jugend‹ war ein leerer Vorwand. Die Monempoix – vor allem sie, die Frau – verweigerten dir ihre Tochter, weil du zu groß bist. Sie wollten es dir nicht sagen, um dich nicht zu kränken, was schließlich verständlich ist. Olga mißt nur 1,55 m, mein Lieber. Daran hast du wohl nicht gedacht, Tambour-Major? Aber die Eltern, die Mutter, haben sich daran gestoßen. Der Größenunterschied von 42 cm bedeutet für sie eine unüberwindliche Schranke. Tatsächlich ist die Differenz auch eine gewaltige, das mußt du selbst zugeben.«

»Nun und?«

»Nun ... dann haben sie sich auf mein Bitten hin mir offenbart, ihre innersten Gedanken vor mir entschleiert, und plötzlich fiel mir eine elegante, ja geradezu wunderbare Lösung ein. Man muß dich kleiner machen! Schon als ich noch vor den Monempoix stand, wälzte sich ein Chaos von Ideen durch mein Hirn ... Zunächst brachte ich der Form halber vor, deine Frau könnte ja hohe Stöckel tragen, die hohen Stöckel zur Zeit Ludwigs XIV. seien ja nicht für Hunde erfunden worden. Aber Herr Monempoix biß auf den Zopf nicht an. ›Das ist ja kein Mann, Ihr Fléchambeau!‹ rief er, ›das ist ein Berg, ein Gatte für Hochtouristinnen!‹ und ich selber sagte mir, als ich an jene dachte, die du liebst: ›der Vater ist kurz, die Mutter ist klein, dies Kind kann nicht mehr wachsen, nie größer werden‹ ... und dann ... lockte mich die wissenschaftliche Forschung. ... Endlich sagte ich: und wenn ich Ihnen in vier Wochen einen Bräutigam vorstelle, der nicht größer ist, als Ihr Bedienter, und wenn dieser Bräutigam alle Eigenschaften Fléchambeaus aufweist, würden Sie ihn in Gnaden aufnehmen?

›Mit Vergnügen, natürlich, falls er unserer Tochter zusagt.‹

Gut, erwiderte ich. Wollen Sie mir auf dieser Basis einen Aufschub gewähren und mir versprechen, einen Monat zuzuwarten, ehe Sie einen anderen Bewerber berücksichtigen?

Sie nahmen den Gedanken auf. ›Es ist zwar lächerlich,‹ meinte der Präsident, ›da Sie aber so hartnäckig sind, lieber Doktor ... gut ... einverstanden! Ist Ihr Freund, der andre, auch Advokat, gute Kinderstube, aus achtbarer Familie, bei Vermögen?‹

Genau wie Fléchambeau!

Ich antizipierte ... aber heute glaube ich nicht übertrieben zu haben, denn ... bitte!«

Pons hob mit beiden Händen die kleine Maria-Stuart empor.

»Ich glaube, in mir steckt was! Feine Arbeit, nicht? Die Sache hängt mit der Schilddrüse zusammen!«

Pons ließ die Katze los. Ihrer Kleinheit noch ungewohnt, sprang sie ungeschickt zu Boden. Pons zog aus der Tasche eine runde Pappschachtel und öffnete sie. Sie enthielt eine Anzahl Pillen, nicht größer als Schrotkörner Nr. 2 und von scharlachroter Farbe.

»Jeden Morgen erhielt Maria-Stuart zwei solcher Pillen,« sagte er. »Und den Erfolg siehst du. Innerhalb einer Woche ist sie so klein geworden. Wenn meine Schlußfolgerungen stimmen, muß ein Mensch bei gleicher Behandlung täglich um 2 cm an Größe verlieren. Ich messe 1,76 m. Um dieses mein Größenmaß zu erreichen, mußt du 20 Pillen innerhalb zehn Tage schlucken, wenn ...«

»Zeig' her!« meinte Fléchambeau, nahm die Schachtel neugierig in die Hand und ließ die roten Pillen hin und her rollen. »Zum Henker, ich versteh's zwar nicht ...« – und ehe es Pons zu hindern vermochte, hatte Fléchambeau zwei Pillen gepackt und – verschluckt.

»Du bist wahnsinnig!« rief Pons. »Wenn die Pillen auf eine Katze wirkten, so ist damit noch nicht gesagt, daß sie auch bei Menschen Erfolg haben. Ich hoffe es, selbstredend. Aber sicher bin ich dessen schließlich und endlich nicht. Ich hätte zuvor noch gern einige Versuche angestellt.«

»Dazu haben wir keine Zeit mehr,« erwiderte Fléchambeau. »In zehn Tagen läuft der Termin ab. Und was riskiere ich schließlich? Wir werden es ja früh genug erfahren, wenn ich nicht kleiner werde.«

»Stimmt, aber du könntest daran erkranken.«

»Gefährlich erkranken, Pons?« – Fléchambeau blickte den Doktor scharf an. Dieser senkte verlegen den Blick.

»Ich hätte es vorgezogen, wenn du noch etwas zugewartet hättest,« meinte er. »Morgen abend hätten mich meine Arbeiten darüber aufgeklärt. Doch, was geschehen ist, ist geschehen. Was empfindest du?«

»Nichts.«

»Kein Schwindelgefühl? ... laß mich deinen Puls fühlen.«

»1,76 m ist noch immer eine anständige Größe,« bemerkte Fléchambeau. »Glaubst du, daß sie mich dennoch lieb behalten wird?«

»Dessen kannst du versichert sein. Ich zog sie ins Vertrauen. Doch warte erst ab, ob du kleiner wirst. Sicher ist nichts auf der Welt.«

»Wenn sie mich lieb hat, ist mir alles andere Wurst.«

»Puls ist gut! Kein Bauchweh?«

»Nein, mein Freund. Nur eine leichte Migräne keimt auf ... aber, hast du nicht auf deinem Speicher einen Größenmesser? Laß ihn herunterschaffen, bitte.«

Das Holzmöbel ward gebracht. Fléchambeau stellte sich darunter. Er maß genau 1,96 m.

Die Uhr zeigte 8 Uhr abends.

Tags darauf maß er nur mehr 1,94 m, ohne etwas anderes verspürt zu haben, als ein wenig Schwindel, Übelkeit und Benommenheit von keinerlei Bedeutung.


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