Maurice Renard
Ein Mensch unter den Mikroben
Maurice Renard

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Achtes Kapitel

Das einem die Tatsache enthüllt, daß Pons nur eine andere Ausgabe des Herrn Prologus ist

Im Februar kehrte Pons nach Saint-Jean-de Nèves zurück. Amerika hatte ihn in keiner Weise befriedigt, und er verstand nicht, weshalb man ein so großes Getue mit Christoph Kolumbus oder, wenn auch etwas weniger, mit Amerigo Vespucci mache.

Überdies fehlte ihm die innere Ruhe, die selbst die banalste Landschaft interessant erscheinen läßt. Eine Menge Dinge gingen ihm im Kopfe herum. Fléchambeau, den er in der unendlich großen Welt des unendlich Kleinen verloren, »Maria-Stuart«, die er Valentin geschenkt hatte, sein im Stich gelassenes Heim, das er geflohen wie ein Schuldbewußter. ... Sein Briefkasten mußte übergehen ... und auf der Post sich die Masse der Einschreibsendungen zu einem Turme aufgehäuft haben. ... Was sollte man dort von ihm denken? ... Und Olga, sapperment, und Bargoulin, dieser ekelhafte Bargoulin!

Er hätte ja schreiben können, gewiß, aber er hatte sich geschworen, es nicht zu tun, und jeder Meineid war ihm ein Greuel.

Er fühlte sich daher recht unsicher, als er aus dem Bahnhofe in Saint-Jean-de Nèves trat und sich dem Platze der Republik zuwandte.

Es schneite. Fast niemand war im Freien. Der Himmel war dunkel wie ein Hangardach. Lähmendes Schweigen herrschte. Der Pulverschnee knirschte unter seinen Tritten, und die Flocken wirbelten vom Himmel und sangen ihr stummes Lied.

Der Gedanke an sein kaltes, verstaubtes und düsteres Haus machte ihm wenig Spaß. So stapfte er durch den Schnee, die Hauptstraße entlang. Aus dem kahlen Geäste der Chausseebäume herab spotteten die Raben, dieses schwarze Himmelsungeziefer, ihm krächzend nach. Und die Dohlen umflatterten mit entrüstetem Geschrei die Kirche von Saint-Jean-de Nèves.

Der Bronzerepublik hatte der Winter einen weißen Hermelinmantel umgeworfen. Hoheitsvoll blickte sie drein wie eine Negerkönigin.

»He!« brummte Pons und zog die Stirn in krause Falten.

Verdutzt stehenbleibend, blies er den Rauch seines Atems von sich. »Was soll das bedeuten?« ...

Die Läden seines Hauses waren geöffnet.

Er stürzte vorwärts und klinkte mit fiebernder Hand die Haustüre auf.

»Teufel, ist's da kalt!«

Die Türe knirschte auf.

Im Parterre alles in Ordnung. Staub, Leere.

Erster Stock – sein Schlafzimmer ebenso.

Aber in Fléchambeaus Stube herrschte eine bange Atmosphäre.

Pons mußte seinen ganzen Mut zusammennehmen und dem Schlage seines Herzens gebieten, sein Ohr einer innern Stimme verschließen, die ihm zurief: »Du träumst!«

Wenn das große Unbekannte durch eine Türe verschlossen wäre, könnte man sie nicht mit größerem Entsetzen, größerer Aufregung und Ängstlichkeit aufstoßen, als Pons jetzt die Pforte seines Laboratoriums öffnete.

Sollte vielleicht zufällig ...?

Aber Unsinn! Jedenfalls hatte sich nur irgendein Vagabund, am Ende ein Dieb, oder ein xbeliebiger armer Teufel eingeschlichen, um, Pons' Abwesenzeit benützend, sich ins warme Nest zu setzen. Aber Fléchambeau ... zum Henker ... vorwärts, vorwärts!

Er stand im Zimmer.

Sofort fiel ihm der bewohnte Eindruck, den der Raum machte, auf. Auf dem Ofen, in dem das Feuer ausgegangen war, standen zwei Kochtöpfe. Das Bett zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Es lag jemand darin.

Den Traum verschluckte die Wirklichkeit.

Der Betreffende, ein alter Kerl, sah aus, als habe es auch auf ihn herabgeschneit, so schlohweiß waren seine Haare und der Bart, der sein ganzes Gesicht bedeckte. Der Greis lag ganz keck in Fléchambeaus Bett! Er sah blaß aus und hatte die Augen geschlossen. Trotz der Kälte stand sein Hemd vorn auf der Brust offen, deren fahle Haut mit Tätowierungen über und über bedeckt war.

Pons bestaunte die Füße des Unbekannten, nicht wegen ihrer grünlichen Farbe und weil sie nackt waren, sondern ob ihrer riesigen Größe und da sie weit über die Liegestatt hinausragten.

Auf seine ursprüngliche Idee zurückkommend, doch nicht daran zu glauben wagend, rief Pons mit erstickter, keuchender Stimme:

»Fléchambeau!«

Der Mann hob die Lider und lächelte matt.

Seine langen Arme streckten sich aus.

»Pons,« murmelte er, »alter, lieber Pons!«

»Du bist es wirklich, Fléchambeau? Ist's denn möglich?«

Der Mann gab keine Antwort. Er ließ den Kopf zur Seite herabhängen.

Um Himmelwillen, der Mensch schien im Verscheiden!

Pons erinnerte sich seiner ärztlichen Kunst. Er untersuchte den Kranken und ward sich klar, daß Fléchambeau das Charakteristische eines hohen Alters – mindestens 90 Jahre – zeigte und ganz einfach im Begriffe stand, an Altersschwäche zu sterben.

Mit 25 Jahren an Altersschwäche zu sterben! Ein 90jähriger Greis zu sein, wenn man 25 Jahre zählte – das war bisher noch nicht dagewesen! Und was bedeuteten alle diese Tätowierungen!

Doch ehe er irgendwelche Fragen an diesen sonderbaren Altvordern stellen konnte, war es unumgänglich notwendig, ihm erst wieder die Sprache zu verschaffen und ihn zu hindern, in ein Land abzufahren, von wo noch niemand zurückkehrte. Pons eilte in den zweiten Stock, rannte ins Laboratorium und stieg wie aus der Kanone geschossen wieder die Stiege herab, nachdem er sich durch einen flüchtigen Blick überzeugt hatte, daß die Glasglocke noch immer das Übermikroskop bedeckte.

Er machte Fléchambeau an passender Stelle eine Einspritzung – wahrscheinlich mit Coffein oder Kampheröl, das ist irrelevant. Wesentlich für uns ist nur, daß Fléchambeau zu niesen begann, was immer ein Zeichen wiedererwachender Lebensgeister ist.

Pons zündete den Ofen an und stellte Wasser auf.

»Komm,« sagte Fléchambeau, »neige dich zu mir herab ... Du siehst, wie alt ich geworden bin!«

»Allerdings, aber ... wie kommt das?«

»Ich war ja so klein ... so furchtbar klein, die Zeit verstrich für mich ... Viel rascher ... die Eintagsfliege durchlebt ja auch ein ganzes Leben im Verlaufe, eines einzigen Tages ...«

»Gewiß, doch sag' mir ...«

Schmerzlich lächelnd hauchte der alte Mann:

»Ich glaube nicht, daß ich dir noch viel zu erzählen vermag. Meine Minuten sind gezählt.«

»Tatata!« widersprach Pons. »Was redest du da? Jedes Menschen Minuten sind von der Sekunde der Geburt an gezählt. Die deinen ...«

Fléchambeau schüttelte den Kopf.

»Bei meinem Begräbnis möchte ich Musik haben.«

Pons reimte mit Galgenhumor:

»Senkt ihr mich in schwarzer Truhe
In das Grab zur letzten Ruhe,
Soll es mit Musik geschehen,
Möchte alles lustig sehen.

Aber so weit sind wir noch nicht, beim Kuckuck! Hundertfünfzig Jahre wirst du noch leben, so wie die Papageien, deren Zungengeläufigkeit du besitzest. Überhaupt, du magst tun und sagen, was du willst. Dein Ergreisen ging nicht auf natürlichem Wege vor sich. Ich betrachte es vielmehr als eine Art Krankheit, die man kurieren kann. Und ich werde dich wieder gesund machen.«

»Deine Behandlungen sind nichts für mich,« lehnte Fléchambeau höflich ab. »Ich habe genug von ihnen. Es kann ja sein, daß du mich von meinem hohen Alter heilst, aber es erginge mir wie schon einmal: ich würde unaufhaltsam jünger und jünger werden und schließlich, lieber Freund, in fünf oder sechs Wochen wieder zum Wickelkinde ... nein, Pons, verzeih', ich verzichte auf dies Vergnügen, weißt du? ... Ich ziehe lieber den gegebenen Zustand vor.«

»Aber lieber Alter ...« – Pons hielt inne. Das Wort »Alter« klang hier etwas unschicklich. Er ging rasch auf ein anderes Thema über. –

»Olga ...« sagte er. »Ich weiß, sie ist noch unvermählt.«

»Ich wollte dich fragen, ob ich sie benachrichtigen soll?«

»Hüte dich! Seit meiner Rückkehr tat ich alles, um nicht mit ihr zusammenzutreffen. Ich könnte ja ihr Ur-Urgroßvater sein, lieber junger Freund. Olga ist für mich eine Jugenderinnerung, eine liebliche Erinnerung, aber auch nur eine Erinnerung.«

»Und du bist schon lange zurück?«

»So lange, daß ich schriftlich meine Reiseerlebnisse in großen Zügen niederlegen konnte. Dort auf der Kommode, das Heft ... es gehört dir.«

Pons ergriff das Heft.

»Lies es, lies es jetzt, Pons. Später bin ich vielleicht nicht mehr imstande, dir nähere Aufklärungen zu geben.«

»Unsinn! Wenn dein letztes Stündlein nahe wäre, könntest du nicht so viel schwätzen. Doch was bedeuten diese Tätowierungen, Fléchambeau?«

»Lies das Heft, da wirst du es erfahren. Aber schieb' es nicht auf die lange Bank, bitte. Ich fühle mich jetzt behaglich und warm. Lies, sag' ich dir!«

Obwohl Pons überzeugt war, daß seinem Freunde noch ein langes, sorgenloses und friedliches Leben und ein gesundes Alter bevorstand, wollte er ihm in diesem Moment doch nicht widersprechen, um ihn nicht aufzuregen. Daher setzte er sich zum Ofen hin, schnitt ein vergnügtes Gesicht und deklamierte, auf das Herz klopfend:

»Welch großer Bucherfolg, auf Ehre,
Hier dieses Tagebuch doch wäre!«

Fléchambeau setzte eine gottergebene Duldermiene auf – er kannte ja die schwache Seite seines Freundes –, und dieser las, was man jetzt lesen wird.


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