Maurice Renard
Ein Mensch unter den Mikroben
Maurice Renard

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Siebentes Kapitel

In welchem man noch mit anderen neuartigen Dingen Bekanntschaft macht und der abscheuliche Kakos die schreckliche schwarz-weiß-rote Bonbonniere versteckt

Sobald Agathos sich an seine wissenschaftlichen Forschungen machte, nahm sich Kalos meiner an. Eskortiert von wachsamen und robusten grünen Negern, besuchten wir gemeinschaftlich die Stadt und die Gegend. Die Kugelautomobile beförderten einen ebenso sicher und rasch durch die Luft, wie auf dem Wasser oder dem Boden.

Trocken und rationell dehnte sich die Mandarinenstadt weithin aus. Sie war etwa viermal so groß wie Paris. Das kam von der Entvölkerung der »Ourrh« und war das Resultat der Zentralisation. Was den Planeten selbst anbetrifft, glaube ich nicht, daß er größer war als unser Mond. Seine Oberfläche war brach und öde. Nur einzelne hygienische Forste standen da und dort; ferner die regenerzeugenden Türme. Unzählige Wachtposten, die mit mächtigen antiseptischen Reservoirs, Sterilisierpumpen und Spritzen ausgerüstet waren, verteilten sich ringsherum. Diese grauen, nackten, traurigen Landschaften, wo nicht der kleinste Vogel zwitscherte, nicht das winzigste Insekt summte, gewährten einen trostlosen Anblick. Kalos erzählte mir, daß die Vogelwelt innerhalb weniger Wochen verschwunden war. Als Übertrager von Sämereien flößten die Vögel den Mandarinen große Besorgnis ein. Mittels vergifteter Körner gelang es, den Schwingenträgern die Seekrankheit und Schwindel in der Luft einzuimpfen. Tollwütig fielen sie übereinander her, brachten sich schwere Wunden bei und infizierten damit auch ihre Artgenossen, und als sie, vom Fliegen angewidert, sich zur Erde herabließen, wurden sie mühelos in Massen umgebracht und verendeten, indem sie ein letztes Mal ihre wertlosen Flügel ausbreiteten.

Auf meinen neuen Gefährten machte die namenlose Trauer der wüsten Gefilde einen tiefen Eindruck. Sein Herz war sehr empfänglich, und seine Gemütsbewegung löste in seiner Seele verzückte Harmonien aus. Er sang zuweilen im Geiste Gedichte, die ich um so mehr schätzte, als sie mir an der Quelle offenbar wurden, ohne durch irgendwelche Lautsprache verunstaltet zu werden.

Immerhin stieß mich Kalos ein wenig ab, und zwar wegen seines Sichgehenlassens – etwas, das er mit allen Cherubim gemein hatte –, und weil er so auf Kosten Agathos' dahinlebte. Ich konnte es mir nicht versagen, ihm darüber eine Bemerkung zu machen, worauf er mir entgegnete, er gehorche damit nur einem mandarinischen Naturgesetze.

»Übrigens,« meinte er, »ich werde an Jahren zunehmen und meinerseits zum ›Arbeiter‹ werden, wenn ich nicht ausnahmsweise – was wenig wünschenswert wäre – Cherub bleibe und als greisenhafter Jüngling ein greuliches Alter mit mir herumschleppen muß, wovor mich die Götter in Gnaden bewahren mögen.«

»Sie machen also verschiedene Entwicklungsstadien durch?« fragte ich neugierig.

»Selbstredend! Es gibt Mandarinen, die als ›Arbeiter‹ zur Welt kommen und es ihr ganzes Leben bleiben. Andere, die, wenn sie mannbar werden, sich zum Cherub entwickeln, bleiben es nur ganz ausnahmsweise. Was nun unsere Frauen anbetrifft, so verändern sie sich, vom Puppenzustande angefangen, aber so wie Ihre irdischen Frauen.«

»Puppenzustande? ... Was ist denn das wieder?«

Da führte mich Kalos in eine Anstalt, die, mindestens für einen Irdischen, wohl das Merkwürdigste darstellte, was man sich denken kann.

Die Mandarinen werden nicht als solche geboren. Sie kommen als höchst anspruchsvolle, blöde und unreinliche Larven zur Welt. Diese Larven ähneln absolut nicht erwachsenen Mandarinen, die ihnen aber innigste Zärtlichkeit erweisen. Während des Puppenzustandes werden sie von eigenen Funktionären, die oft große Witzbolde sind, gewartet und einer Behandlung unterworfen, die sie je nach dem Wunsch der Eltern oder des Staates in eine gewisse Lebensbahn lenken soll. Je nachdem man Handarbeiter, Läufer, Intellektuelle oder was sonst aus ihnen zu machen wünscht, sucht man der Entwicklung ihrer Hände, Beine oder des Schädels Vorschub zu leisten. Die zu Hütern des Gesetzes Bestimmten werden in ihrer Muskulatur gefördert, den späteren Chirurgen sucht man rohe und herrische Gesichtszüge zu verleihen, ihre Fäuste werden so eng verschnürt, daß sie sie nie mehr aufmachen können.

In diesem Entwicklungsstadium sucht man auch, zu bestimmen, wer Cherub und wer Arbeiter werden soll.

Aber die Larven spielen allen Berechnungen Possen und machen einem einen Strich durch die Rechnung. Es existiert da eine geheimnisvolle Umwandlungsperiode. Aus dem Ei, in welchem die Mandarinenlarve einige Monate schlummerte, kriecht häufig ein ganz unerwartetes Wesen, und die ganze Geschlechtsspezialisierung wird dadurch umgestoßen.«

»Und das ist ganz gut,« fügte Kalos hinzu, »denn die Spezialisierungsbeamten sind arme Kerle, somit revolutionär angehaucht, und arbeiten oft nach ihrem eigenen Schädel und in gewissenloser Weise, nur im Interesse der eigenen Kaste.«

Ich fand es sonderbar, daß diese »Menschenschmiede«, diese Bildhauer Lebender, schlecht bezahlt werden, hatten sie doch die Aufgabe, das Werk des Schöpfers, der die Ware sozusagen nur in halbfertigem Zustande lieferte, marktfähig zu machen. Gelassen stopfte sich Kalos die Nasenlöcher mit einem kostbaren Schnupftabak voll und vergewisserte sich, daß seine schicke Frisur in Ordnung sei.

»Als ich Larve war, wollte man mich anscheinend zum Mediziner vorbereiten,« sagte er, »einen Pompon-Spezialisten aus mir machen. Wohin das führte, sehen Sie ... ich wurde Cherub, und es ist besser so.«

»Für wie lange noch, Kalos?«

»Für hundert Jahre.«

»Teufel, die Mandarinen werden also sehr alt?«

»Ihr durchschnittliches Lebensalter beträgt zweihundert Jahre.«

Das erklärt dir, lieber Pons, weshalb der gute Agathos, der nicht mehr jung war, fünfundsechzig Jahre an der Entdeckung der von ihm gesuchten Formel arbeiten konnte, ohne ein hartleibiger, mürrischer Greis geworden zu sein.

Allabendlich, nämlich vor Einbruch der künstlichen Nacht, fragte ich Agathos, wie weit seine Studien gediehen seien. Eines Tages teilte er mir etwas niedergeschlagen mit, daß er sicher sei, die erlösende Formel zu finden, daß er aber zur Berechnung derselben sechzig Jahre benötigen werde. Dabei war er eine erste mathematische Größe, und zehn andere Mandarinen von Fach arbeiteten mit ihm zusammen, gegen die unsere größten Leuchten am mathematischen Himmel die reinsten Trotteln sind. Immerhin bewahrte ich mir für die Mandarinen größtes Interesse, für diese Welt, in die ich mich freiwillig verbannt hatte, bis mir des Agathos Wissenschaft den Paß ausstellen würde zur Abreise auf die Erde, von der ich so weit entfernt war, ohne dieselbe je verlassen zu haben. Täglich erwarteten mich neue Überraschungen.

Wäre nicht das furchtbare Heimweh gewesen, hätte ich ganz glücklich dahingelebt. Aber ich sehnte mich nach dir, teurer Freund, und der Schmerz, Olga auf immer verloren zu haben, und die Angst vor Kakos nagten an meinem Herzen.

Dieses Scheusal stellte mir auf die mannigfaltigste Art nach. Alle möglichen Fallen richtete er für mich auf. Oft währten seine Verfolgungen ununterbrochen und ließen mir nicht einen Tag Ruhe. Schlag auf Schlag harrten meiner Hinterhalte, Nachstellungen, Überfälle. Ich traute mich kaum, einzuschlafen, und schreckliches Alpdrücken folterte mich im Halbschlummer. Ich sah mich von Kakos in die Tiefe seiner Keller geworfen, schmachtete zwischen greulichen Bazillenkulturen und der furchtbaren schwarz-weiß-roten Bonbonniere, und dann öffnete er mir bei lebendigem Leibe den Schädel, um mein Gehirn zu studieren.

Dann folgte nach langen, langen Jahren eine Zeit der Ruhe. Kakos schien der Sache überdrüssig geworden zu sein. Das war zu jener Epoche, als Agathos zu der Schlußberechnung der von ihm gesuchten Formel kam. Seit einigen Monaten hatte sich die Berechnung vereinfacht. Die Milliarden Lösungen, die anfangs in Betracht gekommen waren, hatten sich auf einige tausend vermindert, und es rückten Tag, Stunde und Minute näher, wo die Menschen die endgültige Lösung in einer Buchstabenzeile hätten niederschreiben können.

Dieser Tag leuchtete auf, diese Stunde schlug, diese Minute brach an.

Es geschah, daß Agathos, sehr gealtert und gebeugt, mir zwei waschblaufarbige Pillen reichte und mir mit sehr begreiflicher Gemütsbewegung sagte: »Hier, Fléchambeau, ist die Frucht meiner angestrengtesten Studien. Eine einzige dieser Pillen gibt Ihnen Ihre ursprüngliche Gestalt zurück. Aber ich drehte deren zwei, im Falle Sie eine verlieren sollten.«

Ich verwahrte die Pillen in meiner Schnupftabakdose, denn ich hatte die Gewohnheit angenommen, zu schnupfen, wie alle Welt.

»Gemacht!« erwiderte ich. »Wir haben Zeit.«

Tatsächlich, jetzt, wo ich meinen »Paß« und mein Visum besaß, stand es mir frei, mich zu empfehlen, wann ich Lust haben würde. Ich fühlte mich nicht mehr gedrängt. Die Beschwerden des Alters peinigten mich. Das Andenken an Olga war nur mehr ein kleines Häuflein Asche. Sie mußte jetzt eine sehr dürre oder eine sehr dicke alte Dame sein, falls sie nicht schon in den Himmel eingegangen war. Und du, Pons, warst du nicht auch schon ein griesgrämiger Alter geworden? Zudem hatte ich mich auf »Ourrh« eingewöhnt. Ich ertappte mich dabei, daß feste Bande mich geistig und seelisch hier fesselten.

Lange schob ich die Abreise von einem Tag auf den andern auf. Noch einmal wollte ich gewisse Leute, gewisse Gegenden sehen. Ja, unglaublicherweise, manche öden Gefilde, traurige, brache Landstriche hatten mein Herz unwillkürlich gefangengenommen. Ich stand im Banne ihrer urigen Größe, ihrer tückischen Trostlosigkeit. Und da mich Kakos in Frieden ließ, machte ich oft ganz allein Ausflüge, um in der düstern Einsamkeit mich meinen traurigen Gedanken hemmungslos hinzugeben.

Namentlich ein furchtbar ödes Tal zog mich an, denn ich fühlte es, wie dessen rötliche Erdhänge und der fette Boden danach lechzten, sich mit Wiesen und Kornfeldern zu bedecken. Aber einmal mußte wohl geschieden sein.

Ich stieg auf einen Hügel, ließ mich auf einem Felsblock nieder und verlor mich in tiefstem Nachgrübeln.

Fernab am Horizonte zog die riesige Stadt der Mandarinen mit ihren vielen Kuppeln ihre gebrochene Linie. Nirgends bewegte sich ein Ast, nirgends ein Halm. Grabesstille lag über dem wüsten Tale.

So vieles ging mir im Kopf herum, so vieles schnürte mir das Herz zusammen. War mein Greisenalter daran schuld? Oder mein törichtes weiches Gemüt? Ich vergrub meine Stirne in meine Handflächen und weinte über die Kleinwelt, auf der mein Leben sich abgerollt, und die ich nun auf immer, auf immer verlassen sollte.

Plötzlich wurde mir mein falscher Pompon brutal entrissen. Ich sprang in die Höhe ... mein Blut wallte ... alle meine Nerven spannten sich.

Mit eisernem Griffe hielt Kakos meine Linke umkrampft, und mit der Rechten schwang er höhnisch lachend meinen falschen Pompon in der Luft herum.

Ich verabreichte ihm einen wuchtigen Fausthieb auf die Nase. Er brach zusammen.

Nun suchte ich meine Linke zu befreien, aber die Faust dieses Mannes umklammerte mich wie ein Eisenband. Er warf meinen falschen Pompon fort und zog eine kurze Knochensäge hervor. Ich schlug ihm nochmals mit der Faust gegen das Kinn.

Er wankte, fing sich aber grinsend auf. Da stürzte ich mich auf ihn und überhäufte ihn mit Rippenstößen, Püffen und Fußtritten. Wir stürzten beide zu Boden.

Er stieß den fürchterlichsten Schrei aus, der je aus einer Mandarinenkehle kam, was viel sagen will.

Ich glaubte ihn schwer getroffen. Da fühlte ich, wie er sich unter mir mit aller Macht zu dehnen suchte und seinen Arm ausstreckte, und blickte hin.

Zu meinem Schrecken gewahrte ich, daß ihm während des Kampfes die furchtbare schwarz-weiß-rote Bonbonniere aus der Tasche gefallen und im Rollen an einen Stein angestoßen war und sich geöffnet hatte, und daß sich auf dem fetten, roten Boden die Samen wie ein weißes, mehliges Pulver ausbreiteten.

Dieser alte Narr hatte also bei sich selbst die Sporen der »Hons« versteckt. Unglück über Unglück!

Kakos benützte meine Verblüffung, um mir einen schmerzhaften Hieb an die Schläfe zu versetzen. Um mich zu rächen, begann ich ihn zu würgen, als mich der Schmerz zwang, mein Opfer loszulassen. Wie zwischen einem Nebelschleier hindurch sah ich meinen Gegner regungslos daliegen. In der Nähe der Bonbonniere erscholl ein leises Knistern. Das waren meine letzten Eindrücke, ehe ich die Besinnung verlor. Immerhin scheine ich noch ein paar Schritte getan zu haben, bevor ich mich vollkommen »knock-out« niederkauerte.


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