Maurice Renard
Ein Mensch unter den Mikroben
Maurice Renard

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Achtes Kapitel

Die »Hons«

Hatte mich Kakos, meine Ohnmacht sich zunutze machend, wieder gepackt? Ich erstickte ... ah, er würgte mich! ... er lag auf meiner Brust! ...

Finsternis ... Lähmung ... Atemnot ...

Dumpfe Detonationen, wie hinter dickem Gemäuer, schlugen an mein Ohr.

Stand ich im Begriffe, im Bauche des Museums erstickt zu werden? ...

Ein scharfer, pestartiger Geruch beleidigte meine Nase.

Die Detonationen steigerten sich. Ich machte eine Riesenanstrengung, mich zu bewegen. Meine Glieder schienen von einer zähen Hülle umgeben zu sein, die sie immobilisierten. Ich schüttelte mich energisch. Kein Zweifel! Ich stak in einer dunklen, kalten, schwammigen Masse, die mich dicht umgab.

Wahnsinnig vor Angst, schlug ich wie ein Tollwütiger um mich, überallhin mit den Fäusten und Füßen stoßend.

Die Masse wich und zerriß. Meine Faustschläge hallten dumpf wie gegen faules Holz. Ich konnte mich aufrichten und den Kopf aus der schwammigen Masse herausstrecken. Nun drehte und wandte ich mich pfropfenzieherartig empor, und plötzlich gelangte ich ans Tageslicht. Mit wütender Freude zerfetzte ich die klebrige, aufgedunsene Masse, die mich umgab, und befreite mich aus ihrer Umarmung. Ich hatte mich von einem riesigen, ekelhaften Pilz befreit, der mich beim Emporschießen während meiner Ohnmacht verschluckt hatte. Er war am Stengelende mehrere Meter hoch und hatte einen Hut, so groß wie ein Hausdach.

Er stand nicht allein da, sondern mindestens achtzehn andere, ebenso riesige, gelbliche und pockennarbige Champignons umgaben ihn im Kreise.

Ein schmutziger Dunst verhüllte das gelbe Tageslicht. Die Sonne leuchtete auf dem höchsten Punkte des Firmamentes mit mattem Scheine, glanz- und strahlenlos, wie eine dürftige goldene Scheibe. Auf allen Seiten krachte und donnerte es. Zwischen den Stämmen der Pilze, die mir zunächst standen, schossen andre aus dem Boden auf. Man sah sie mit unerhörter Geschwindigkeit wachsen.

Plötzlich erdröhnte auf dem Hute des Goliaths, der mich beim Emporwachsen in sich aufgenommen hatte, direkt ein »Minenschlag«. In tausend Fragmente zerfetzt explodierte der Hut, und eine Wolke weißlichen Staubes stob nach allen Windrichtungen auseinander und senkte sich auf den Boden herab. Augenblicklich tauchten dann hier Unmassen von winzigen, ebenso fahlen und pockennarbigen, jungen Champignons auf und knatterten und knisterten dabei. Und aus den Köpfen der großen Pilze folgten Entladungen auf Entladungen. Die reifen Champignons schossen ihren Samen ab. Der Staubnebel verdichtete sich. Mehr und mehr rollte der sich verstärkende »Geschützdonner«. Ich mußte fürchterlich husten und niesen, die Übelkeit erzeugende Schärfe dieser vehementen Vermehrungsart griff mir an die Kehle. Und sogleich empfand ich wieder Atemnot. Selbst meine Hände bedeckten sich mit Samen und verursachten mir ein unerträgliches Juckgefühl.

Jetzt hieß es, unverzüglich ausreißen, trachten, die Stadt zu erreichen, Alarm zu schlagen, falls dies nicht schon geschehen wäre. Das Gedröhn der Entladungen mußte die Mandarinen bereits aufgeschreckt haben, auch befand sich unweit des Tales ein Sterilisierposten.

Der Vormarsch der »Hons« vollzog sich mit furchtbarer Geschwindigkeit. Ich sah mich inmitten eines großen Waldes weißlicher Säulen, deren klebrige Oberfläche mit ekelhaften Pusteln bedeckt war, aus denen eine schmutzige Flüssigkeit herabtroff. Und unaufhörlich schossen weitere Säulen auf, drängten sich und verschmolzen ineinander und errichteten kolossale Palisaden und unerhört dicke Mauern, die sich ineinander verankerten und allmählich auf der »Ourrh« eine dicke, alles verschlingende Schicht bildeten, als ob ein fester Ozean den Boden überschwemme.

Ich suchte mich zu orientieren, denn man konnte die Stadt nicht mehr sehen. Ich blickte mich im Todesringe um. Da bemerkte ich einen Arm, der in der Faust eine Knochensäge hielt, starr und mit sechs Fingern an der Hand, deren Nägel bereits ganz blau waren.

Quer durch den Wald, der unter Gedröhn und Geknatter heranwuchs, nahm ich meinen Lauf. Hustend und tränenden Auges drängte ich mich durch die Stämme, wobei mich Gesicht und Hände gräßlich juckten. Ab und zu gewahrte ich die Stadt. Mein Gott, hatten sich die »Hons« schon so weit vorgeschoben! Trotz meines hohen Alters sprang ich in weiten Sätzen dahin, und die jungen Pilze rings um mich wurden immer seltener. Der von den Alten abgeschossene Samen verfinsterte nicht mehr so arg den Himmel. Auf meiner Flucht zerquetschte ich ganze Nester von »Hons« und rannte Pilzjünglinge mit der Schulter über den Haufen.

Rauschend wie ein Wasserfall ergoß sich hinter mir ein Regenstrom. Ich erkannte an dem Desinfektionsgeruche der Flüssigkeit, daß die Mandarinen die Verteidigungsoffensive ergriffen hatten. Gleichzeitig begannen die Leuchttürme zu spielen und sandten rotflammende Strahlen aus. Künstliche, kupfrige Wolken ballten sich zusammen. Ein braunroter Gewitterregenguß, der stark nach Phenol roch, prasselte auf das Tal der »Hons« herab. Dieses neue Verteidigungsmittel war mir unbekannt gewesen. Es war nie davon gesprochen worden. Es bildete ein militärisches Geheimnis, das man nur im Ernstfalle preisgibt. Unglücklicherweise bemerkte ich, daß es nicht recht klappte. Man hatte es zu wenig ausgeprobt, und so verfehlte es mehr oder minder seinen Zweck. Die Wolken luden sich mit Elektrizität, spieen Blitze – und verdunsteten. Man versuchte es nochmals, aber die Blitze unterbrachen stets die Aktion. Auch schlugen sie in mehrere Türme ein und zerstörten sie.

Als ich die Stadt erreichte, brachte gerade die Wehrmacht große Apparate für antiseptische Gase in Stellung, und ein Regiment Sterilisierartillerie rückte mit seinen Spritzen aus. Diese Mandarinen sahen sehr kriegerisch aus. Man feuerte sie durch Zurufe an. In den äußeren Vorstädten und auf den Terrassen ballten sich die Volksmassen zusammen und starrten nach dem Tale hinüber, von wo die schrecklichen »Hons«, deren Namen man nicht einmal auszusprechen wagte, anmarschierten.

Außer Atem und in Schweiß gebadet, traf ich beim alten Agathos ein. Ich bot einen traurigen Anblick. Mein Gewand war von dem ekelhaften Zeug, das mich umfangen hatte, besudelt.

In stummer Resignation fand ich Agathos, Kalos und deren Frau versammelt. Ich berichtete ihnen wahrheitsgetreu mein Abenteuer und fügte hinzu, daß Kakos, der Schuldige, mit seinem Leben seine Unvorsichtigkeit bezahlt hatte.

»Wir sind verloren,« erklärte Agathos. »Diesmal hilft nichts mehr. Seit den Jahrtausenden, wo wir die ›Hons‹ besiegten, schmolz die Bevölkerung der ›Ourrh‹ zu sehr zusammen. Sie hatten recht, Fléchambeau, man hätte sie restlos vernichten sollen. Wir ›machten in Gefühl‹! ... Morgen nicht mehr, das sage ich Ihnen, denn morgen werden wir nicht mehr sein. Ich sah sie eben, diese ›Hons‹, von der Terrasse aus. Sie stellen eine Naturgewalt dar, gegen die das Häuflein Mandarinen machtlos ist.«

»Es handelt sich hier um ›Boviste‹, sagte ich. Auf Erden nennt das Volk diese Staubpilze auch ›Wolfslosung‹, mit Respekt zu sagen. Es gibt Arten, die die Größe eines Kindes erreichen, und deren Hut zwei Meter im Durchmesser mißt. Ich habe sie an ihrem Geknall erkannt. Sie sind deshalb so gefährlich, weil sie in Massen auftreten, sich zu einem geschlossenen Ganzen vereinigen und sich so rasch vermehren, daß man ihr Sichausbreiten fast mit dem Auge verfolgen kann.«

»Es ist um uns geschehn,« nickte Agathos. »Sie aber, Fléchambeau, werden die Katastrophe überleben. Jetzt dürfen Sie nicht mehr zögern und lange fackeln, mein Freund. Rasch! Schlucken Sie eine meiner Pillen und verlassen Sie diese Welt, wo fortab die ›Hons‹ herrschen werden. Die Mandarinen sind entthront.«

»Wieviel Zeit bleibt mir?« fragte ich mit gepreßter Stimme.

»In höchstens sechs Stunden werden die ›Hons‹ in der Stadt sein, und Sie sind in kürzerer Zeit als sechzig Minuten ihrem Angriffe entrückt.«

Kala, die mehr tot als lebendig auf dem Teppiche lag, stieß rauhe Klagerufe aus. Sich erhebend, zeigte sie mit ausgestreckter Hand auf kleine Pilze, die mit kräftigem Geknatter auf meinem Pantoffel aufsprossen.

Kalos riß von der Wand einen Sterilisierungsapparat und übergoß mich, ohne eine Sekunde zu zögern, vom Kopf bis zu den Füßen mit dessen Inhalt.

Ich ging mich umkleiden. Agathos folgte mir. Als ich ganz nackt war, bedeutete er mir, daß es völlig unnütz sei, mich wieder anzuziehen, da ja meine Kleider nicht mit mir zugleich wachsen könnten.

Da kam es mir zum verzweifelten Bewußtsein, daß ich keinerlei Andenken an die Mandarinen und ihren Planeten mit mir nehmen konnte.

»Doch!« sagte Agathos, »einige Lichtbilder.«

»Wieso das?«

»Schon seit langer Zeit beschäftigte ich mich mit diesem Probleme. Und Gott sei Dank können wir die Sache durchführen, ehe die Stadt von den ›Hons‹ überschwemmt wird. Ich werde Ihre Haut mit etwas präparieren, wie man photographische Platten erzeugt, und auf diese Weise können wir die interessantesten Bilder aufnehmen, die Sie dann später nur zu entwickeln und zu kopieren brauchen. Ihre Haut wird wachsen, und mit ihr werden auch die Negative größer werden.«

Und so geschah es. Drei Stunden später war ich mit photographischen Aufnahmen auf meiner Haut bedeckt. Das Porträt Agathos' befindet sich gegenüber demjenigen von Kala, das auf meiner linken Brust, wo das Herz sich befindet, abgebildet steht. Du wirst, lieber Pons, auf meiner Körperoberfläche wie in einem Ansichtenalbum lesen können, auch quer über der Brust die Formel des Größerwerdens. Ich bedaure nur, daß alles so schnell gehen mußte, aber wir hatten Eile und konnten keine allzu große Auswahl der aufzunehmenden Objekte treffen.

Kaum war ich tätowiert, zog ich mein Lieblingsröcklein an und nahm unter Tränen Abschied von Kalos und von den zwei Frauen.

Andauernder Lärm dröhnte von außen herüber. Die Kanonade der »Hons« rückte näher. Dazwischen rollten die Salven der mandarinischen Sterilisierungsgeschütze.

In Kissen vergraben, jammerte Kala herzzerbrechend. Ihr hübsches Gesicht begann zu altern. Kalos umarmte die andere Frau.

Agathos und ich stiegen in den Garten hinab. Ich öffnete meine Tabakdose und entnahm dem parfümierten Schnupfpulver die beiden blauen Kügelchen.

»Agathos,« sagte ich, »es sind zwei Pillen. Eine einzige genügt, so sagten Sie, um mir meine frühere Gestalt wiederzugeben. Agathos, begleiten Sie mich! Nehmen Sie die andre Pille zu sich, alter Freund!«

Mich zärtlich anblickend, erwiderte der Biedere:

»Ich bezweifle die Möglichkeit. Sie, Fléchambeau, waren groß. Für Sie kommt es nur darauf an, wieder zu werden, was Sie waren. Aber ich? ... meine Gewebe zogen sich nicht wie die Ihrigen zusammen; sie besitzen nicht die Kraft, ein altes Entwicklungsstadium wieder zu erlangen. Gern würde ich Sie begleiten, Fléchambeau. Sehen Sie, hier wird alles, was Mandarin heißt, zugrunde gehn. Und dann ... und dann ... es ist schließlich nicht sehr lustig, sein ganzes Leben ein ›Arbeiter‹ zu bleiben, sein ganzes Leben für die Weiber und die Cherubim zu schuften. Doch wozu versuchen, abzufahren. Diese Pille kann nur die Todesart ändern, die mir bestimmt ist.«

»Sterben, um zu sterben, Agathos! Versuchen Sie's! Schön wäre das. Doch wer weiß ... wer weiß ... vorwärts, Mut, Agathos, Mut!«

Lautlos ließ Agathos seinen Pompon kreisen, um noch einen Rundblick auf alles zu werfen, was ihn umgab. Dann nahm er zwischen Daumen und Zeigefinger eine der Pillen, und ich nahm die andre.

»Auf Ihre Gesundheit!« rief ich.

Wir stießen mit den zwei Pillen zusammen und schluckten sie hinab.

Sofort spürte ich, wie es mich raketenartig in die Lüfte hob. Ich sah das Heer der »Hons«, das sich unbesiegbar der Mandarinenstadt näherte, sah, wie die Türme, als letztes, verzweifeltes Mittel, die künstliche Nacht über die »Ourrh« ausgossen, damit nicht die Mandarinen das schreckliche Ende wahrnehmen könnten, und in meiner Hand schrumpfte meine Tabaksdose zu einem lächerlichen Nichts zusammen.

Mir zur Seite wuchs Agathos auf und wuchs ins Riesenhafte.

Aber je größer er wurde, desto durchsichtiger wurde er, und bald war er nur mehr ein sich verflüchtigender Schatten. Ich unterschied noch im Unendlichen eine vage Silhouette, die mir mit schemenhaftem, gigantischem Arme ein Lebewohl zuwinkte, und ich befand mich mutterseelenallein inmitten eines Universums, wo Gestirne auftauchten und andere verschwanden.

Wie ein Expreßzug eine Gegend durchrast, also durcheilte ich die Welten voller Bewegung und unfaßbaren, unbegreiflichen Geschöpfen. Dann erblickte ich, zuerst riesenhaft, dann unansehnlich die niedern Lebewesen und winzigen Vegetabilien, die unsere Wissenschaft bereits kennt.

Endlich erschien im Nebelmeere die erdrückende Form und das Okular eines Objektivs. Ich faßte auf dem Glasplättchen Fuß, das Mikroskop trat wieder in den Wahrnehmungskreis meiner Sinne, und ich sah mich bald unter der Lupe von der Größe eines Menschen, der auf dem Montblanc steht und vom Tal aus gesehen wird.

Es tagte, aber dämmerig, denn du hattest die Läden geschlossen. Ich stellte jedoch fest, daß eine Glasglocke den Mikroskopkopf bedeckte, ein Glassturz, unter den kleine Keile geschoben waren.

An einem Spinnwebfaden gelang es mir, auf den Tisch zu steigen. Ich verließ den Glassturz durch den unter seinem Rande freigebliebenen Raum.

Zwei Tage darauf war ich dein alter Fléchambeau wieder geworden. Aber das Meßinstrument zeigte nicht mehr die hundertsechsundneunzig Zentimeter meiner Jugendjahre an. Mein Alter hatte mich gebeugt.

Aber Gefühle seligen Glückes schwellten meine Brust.

Meine Abenteuerfahrt war beendet. Heil und gesund war ich wieder in meiner Heimat angelangt. Schon hatte ich gefürchtet, daß man das Mikroskop vielleicht weggestellt haben könnte, und überlegte mir, wo ich mich wohl befände. Gott sei Dank bei mir zu Hause. Ich hatte niemanden als Bakterie oder Bazillus getötet.

Immerhin staunte ich, alles so vorzufinden, wie ich es verlassen hatte. Ich öffnete ein Fenster des Laboratoriums.

Olga ging vorüber. Olga in der strahlenden Schönheit ihrer vollen Jugend!

Pons, alter Pons, o dies furchtbare Greisenalter! Nun ward es mir klar, jetzt verstand ich alles. Doch was ist das Verstehen des gesamten Universums angesichts einer einzigen kleinen Träne, die zurückzuhalten nicht der Verstand der ganzen Welt vermag!«


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