Maurice Renard
Ein Mensch unter den Mikroben
Maurice Renard

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Erster Teil

Fléchambeaus Verlobung

Erstes Kapitel

Das Kapitel eines Hutes

»Saint-Jean de Nèves«, Sitz einer Unterpräfektur, ein kleines Nest am Fuße des Hochgebirges, glich einer vor Urzeiten niedergegangenen Erdlawine, auf der nach und nach die Kultur erblühte.

Den Mittelpunkt der Ortschaft bildete ein freier Platz mit einem Brunnen von schlichter Monumentalität, den die allegorische Figur der Republik, ein Weib mit riesigen Brüsten, krönte.

Dort wohnte Pons, der junge Dr. Pons, zwischen einem Perückenmacher und einem Notar, in einem echt savoyardischen Häuschen, dessen Front völlig unter Glyzinien verschwand, und dessen großes Dach alte Ziegel deckten. Ein Schriftsteller von gestern oder vorgestern würde zweifelsohne seine Geschichte damit beginnen, die große Enttäuschung Dr. Pons' zu schildern, als er bei seinem Schulaustritt von einem seiner Lehrer erfuhr, sein gesundheitlicher Zustand würde es nicht erlauben, daß er in Paris oder in einer anderen Großstadt die ärztliche Kunst ausübe, beziehungsweise daß er sich dort, wie er es wünschte, dem Studium ruhmvoller klinischer Forschungen hingebe, was zur Folge hatte, daß Dr. Pons nach »Saint-Jean-de Nèves, seinem Geburtsort, zurückkehrte, wo nur zwei Kollegen waren, die ihn hochschätzten, weil er sich sehr wenig aus Patientenzulauf machte.

Ein etwas modernerer Schriftsteller, wenn auch kein viel modernerer, würde seine Erzählung mit der Ankunft Fléchambeaus, eines Freundes von Dr. Pons, bei diesem beginnen; er würde berichten, daß Fléchambeau, Amtsnotar beim Pariser Obersten Gerichtshofe, ursprünglich nur ein paar Wochen in »Saint-Jean-de Nèves« zur Erholung und zum Vergnügen bleiben wollte, nach drei Monaten aber noch immer dort war, und zwar dank des unwiderstehlichen Eindrucks, den Fräulein Olga Monempoix, älteste Tochter des Herrn Emil Monempoix, Präsidenten des Zivilgerichts, und dessen Gattin, geborene Sanson-Darras, auf ihn gemacht hatte.

Wir dagegen gehen ohne lange Umschweife in medias res. –


»Viel Glück, Alter!« sagte Pons.

Sie standen in der Halle. Durch die offene Tür sah man auf den Platz hinaus, auf die vollbusige Brunnen-Marianne und gerade gegenüber auf das Haus des Herrn Präsidenten Monempoix.

Fléchambeau schüttelte seinem Freunde die Hand.

Lang wie ein Besenstiel – maß er doch von der Sohle bis zum Scheitel einen Meter sechsundneunzig Zentimeter –, zeichnete sich Fléchambeau noch durch brennrotes Haar aus – »Haar à l'a Crécy«, wie Pons sich im Spaße auszudrücken pflegte. Er war so hoch gewachsen, daß er zwanzig Sekunden brauchte, um das Kreuzzeichen zu machen, und wenn er den Hut auf sein flammrotes Haupt setzte, glich er einer brennenden Kerze, die sich selbst auslöscht.

Momentan trug er einen wundervollen blitzenden Zylinder. Sein tadellos geschnittenes Jackett von schwarzer Farbe stach vorteilhaft von dem rosenholzfarbenen Beinkleid ab. Lackschuhe Nr. 47 bekleideten die Füße des Riesen, und das Leder seiner Handschuhe (Nr. 9¾), die er über die dicken Finger gezogen hatte, glänzte wie frische Butter. Drei Nelken, die Fléchambeau sich ins Knopfloch gesteckt, glichen im proportionalen Verhältnisse einer einzigen.

Das Monokel ins Auge klemmend und sich den gestutzten Schnurrbart – ein rotes Zahnbürstchen – wischend, schnitt der Goliath ein Gesicht wie ein Schwimmer, der gerade in zu kaltes Wasser hinabtaucht, und meinte:

»Ich zieh' mich in meine Haut zurück, mein Alter!«

Nichtsdestoweniger verließ er das Haus und dirigierte sich langsam nach dem Heim des Herrn Präsidenten Monempoix, so langsam, daß ihn Dr. Pons erst drüben anläuten sah, als er selber nach seinem Laboratorium, das im zweiten Stock lag, zurückgekehrt war. Dabei hatte sich Pons Zeit gelassen, als er, tief in Gedanken versunken, die Treppe emporgestiegen war.

Breites Fenster. Ein Meer von Licht. Laboratorium neuesten Modells. Denn Dr. Pons verzichtete durchaus nicht darauf, daß man von ihm rede. Er hatte nach einem Studium gesucht, das seine Zurückgezogenheit nicht abträglich zu beeinflussen imstande sei und ihn in Saint-Jean-de Nèves beschäftigen könne, und das Studium der Parasitologie gewählt, nämlich, um mich Damen und Kindern verständlicher zu machen, die Wissenschaft der Parasiten.

Aber die Parasitologie befriedigte ihn nur mäßig und war für seinen Eifer ein recht unproduktives Betätigungsfeld.

Und doch war das Laboratorium geradezu ein Schmuckkästchen. Weiße Schränke, blitzende Vitrinen, angefüllt mit blauen, roten, gelben, grünen und noch andersfarbigen Phiolen und Gläsern, drei Mikroskope, die wie Strandbatterien scharf ausgerichtet nebeneinander standen, und drei vernickelte Tische, auf denen ein ganzes Arsenal von Pinzetten, Coupellen, Fläschchen und optischen Kästchen standen, ebenfalls in Reih' und Glied, gleich Soldaten in Paradestellung.

Noch immer in Träumereien versunken, streichelte Dr. Pons mechanisch mit der Hand die Glasglocken, mit denen die Mikroskope bedeckt waren. Als dies die Hauskatze »Maria-Stuart«, die ihm nachgeschlichen war, sah, rieb sie ihre Nase an seinen Beinen, um auch etwas von diesen Zärtlichkeiten abzubekommen.

Er nahm sie in die Arme.

Dreifarbig und die schmachtenden Augen umrändert, schielte sie ein wenig, weshalb sie ihr Herr »Maria-Stuart« getauft hatte, zum Andenken an die unglückliche Fürstin, die, wie allbekannt ist, auch geschielt hat.

Fast wäre einmal aus dem guten Tier ein Kaninchenfrikassee geworden. Ein gütiges Geschick hatte ihm diese posthume Verwandlung erspart. Es hatte sich zu Pons geflüchtet.

»Maria-Stuart« verdiente ehrlich ihren Ruheposten. Wie ein ostasiatisches Porzellanding, aber aus Pelz, schmückte sie die Gesimse der Bücherregale und nahm dabei Stellungen ein, denen wir einen besonderen Ausdruck unterschieben. Sie zeigte sich, wie es sich gebührt, myophag und kynophob, das heißt, sie fraß gern Ratten und haßte das Hundegeschlecht. Sich sauber haltend wie ein Grisettchen, strich sie sich unaufhörlich ihr Muffpelzchen, an welchem man sich die Hände wärmt, schnurrte – das »inwendige Lachen« der Katzen –, rollte sich mit graziösem Wohlbehagen von der einen auf die andre Seite und stieß dabei mit umflortem Blicke rauhe Schreie aus, tanzte auf den Hinterbeinen Mücken nach und ging auf heimliche Abenteuer aus, ohne das Haus davon zu benachrichtigen, so daß man sich ängstigte, Sorge hatte und sie suchte, und erschien dann wieder, als sei gar nichts los gewesen, plötzlich und wie durch Hexerei, zusammengerollt beim Ofen, oder auf einer Tischdecke hockend, mit eingezogenen Pfoten und Schweif, das Auge halb geschlossen und schläfrig. Dann wiederum bevölkerte sie zur Belustigung des Hauses das Heim mit einer Schar junger Kätzchen, die sich höchst komisch gebärdeten und »Entrées lustiger Clowns« zum Besten gaben. Das eine springt mit allen vier Pfoten zugleich in die Luft, das andre kommt schief daher, gesträubt das Buckelhaar und die Rute senkrecht aufgerichtet, widerborstig wie ein »Samurai« auf japanischen Kakemonos. Zur Belustigung aller stürmt ein drittes jäh vorwärts, daß es sich schier den Kopf an der Mauer einrennt, ein viertes verfolgt mit dem Blicke seiner wasserblauen Augen irgend etwas Unsichtbares, das im All herumfliegt. Zwei umstricken sich auf der Erde, bohren sich eines in den Bauch des andern ein und strampeln mit den Hinterpfoten, daß es zum Brüllen ist. –

»Komm,« sagte Pons, »du, die mir leben hilft! Komm, Muni, komm!« und er schickte sich an, sie zu necken, indem er der Katze mit Altweiberstimme die bekannte Phrase sagte: »Was für ein komisches Kaninchen? Man könnte es für eine Katze halten!« Da bemerkte er erst, daß »Maria-Stuart« sich in den Friseurladen gegenüber begeben hatte. Dieser Nachbar war nämlich mit einer Horde Rangen behaftet, für die – es ist ganz unerklärlich, wieso – die Katze geradezu schwärmte.

Oft kehrte sie von dort mit einer bunten Masche um den Hals oder irgendein Flitterwerk hinter sich herschleifend zurück. Die Fratzen staffierten sie aus, ohne daß sie dagegen Widerspruch erhob. Heute hatten sie ihr den Kopf einpomadisiert, um ihr einen Scheitel zu ziehen. Sie roch auf hundert Schritte nach Heliotrop.

Als Pons dies wahrnahm und roch, expedierte er sie unter Spott und Hohn zur Türe hinaus und versprach ihr zum xten Male, sie nach ihrem Hinscheiden ausstopfen zu lassen.

Er war eine Type für sich, dieser Pons. Gutes, numismatisches Profil; auch von vorn war sein Gesicht schön, aber in ganz andrer Art. Wenn er sich umdrehte, war man immer erstaunt, weil man sich ein anderes Gesicht erwartet hatte. Nur die Augen blieben sich immer gleich – diese dunklen Augen, aus denen ein finsteres Feuer hervorloderte, und die so tief in den Höhlen lagen, daß sie mitten im Schädel zu stecken schienen, der sich durch eine derartige Größe auszeichnete, daß er auch die allerweitesten Hüte ausfüllte.

Pons kehrte zu dem von der Sonne überfluteten Fenster zurück. Zuvor aber hatte er mit raschem Blicke festgestellt, daß die Wanduhr ihre Pflicht und Schuldigkeit tat, mit dem Daumen die beiden Zeiger des Barometers übereinander ausgerichtet, den Thermometer und Hygrometer konsultiert und den Kalender inspiziert. Bei ihm gab es keine Nachlässigkeit. Alles war stets auf dem Posten, auf die Stunde, auf den Tag, bei jeder Witterung.

Die Glyzinien umrahmten mit ihren lila Blütentrauben den »Platz der Republik«. Liebesdürstend wie junge Witwen, die noch kaum in Trauer sind, erschauerten die Blumen nervös und lebenshungrig bei dem Flügelschlage der Vögelchen, die so klein waren, daß man sie im Fluge kaum sah.

Pons betrachtete das Haus des Präsidenten Monempoix, das Fenster Olgas, der Tochter, das auf Kußweite vor ihm lag, und die Eingangstür des Gebäudes, die sich eben hinter dem riesigen Fléchambeau geschlossen hatte; alles gedeckt von der Bronzefigur, welche die französische Republik darstellte.

»Glücklicher, glücklicher Fléchambeau!« murmelte Pons, der gern mit sich selbst sprach. »Jetzt schlug's in den Blitzableiter ein! Das Ehepaar Monempoix steht im Begriffe, seine Werbung huldvollst entgegenzunehmen und ihm die Hand des Erbtöchterleins zu geben. Und ich ... ich hocke hier mitten unter meinen Mikroben und Wanzen! Und ich ... der ich darauf stolz bin, Physiognomiker zu sein ... ich ... empfinde Ekel über mein Gesicht! ... Das ist das Höchste! Ach, wie schön wäre es jetzt, eine Luxusreise antreten zu können, im ›Sleeping‹, mit einer entzückenden kleinen Frau, die mich vergöttern würde, weil ich ein Genie wäre und sie es wüßte! Oder nach einer epochemachenden Erfindung, den Ruhm im Sack, nach Paris abzufahren, nach der Stadt der tausend Kraftstücke, meinem Lakai zu sagen: ›Rasch! Man fliegt aus! Tinte in meine Füllfeder, Benzin ins Feuerzeug, Parfüm ins Schnupftuch! Paris, hörst du, Paris erwartet mich! Und dorthin zu drahten: Obelisk mit Bimstein abputzen! Invalidendom mit Brillantine abreiben! Eiffelturm polieren! Ich komme! ...‹«

Das Wort blieb ihm in der Kehle stecken, denn er sah Fléchambeau den Platz mit Riesenschritten überqueren. Wütendes Anläuten ... man stürmte die Treppe herauf ... die Türe des Laboratoriums flog auf, als habe sie ein Sowjetkommissär eingerannt ... Fléchambeau erscheint, zornbebend schleudert er seinen Zylinder gegen einen Schrank, der aber von dem Hute nichts wissen will und ihn höhnisch zu Boden fallen läßt.

Stumm und verblüfft glotzte Pons ihn an. Fléchambeau kreuzte die Arme, stampfte wie wahnsinnig mit dem Fuße in maßloser Verzweiflung auf (allegro furioso) und stieß nur das eine Wort zwischen den Zähnen hervor:

»Abgefahren!«

Es sah aus als stünde das Rothaar hoch droben auf der Stirne des Goliaths in Flammen.

»Bitte?« stammelte Pons, der seinen Ohren nicht traute.

»Idiot! Abgefahren bin ich, sage ich dir! Abgewiesen hat man mich, auf feine Art mir die Türe gewiesen! Diese alten Monempoix sind zwei Ölgötzen, zwei Kaffern, zwei –«

»Was für Gründe brachten sie vor?«

»Was für Gründe? ... Olga sei noch zu jung. Dabei ist sie seit dem Sonntag schon achtzehn Jahre alt. Das sind doch nichts als faule Ausreden, böser Wille, leerer Vorwand ... Aber ich lasse noch nicht locker, sie werden mich nicht so schnell los, diese dreckigen Republikaner!«

»Verzeih, du vergißt, daß auch ich ...«

»Du? Ich pfeif' auf dich!«

Beide Fäuste in die Hosentaschen versenkend, daß man den Stoff krachen hörte, begann Fléchambeau wie ein gefangener Bär in seinem Käfige auf und ab zu rennen. Er war ganz blaß und schnaufte. Wie eine Schildwache im Winter stampfte er auf, preßte die Ellenbogen an den Leib und zog den Kopf ein.

Pons hob den Zylinder auf und reichte ihn seinem Besitzer.

»Gib ihm den Rest, bitte. Aus Mitleid ... er atmet noch!«

Von harter Ohrfeige getroffen, flog der Hut ins Weite.

»Willst du meinen?« fragte Pons, »Ich werde ihn dir holen.«

Fléchambeau mußte unwillkürlich lächeln.

»Setz' dich, großer Gimpel, und berichte!« sagte der Doktor.

Ein Lederfauteuil nahm den verzweifelten Jüngling in seinen gepolsterten Schoß auf, der sich beim Setzen in der Mitte wie ein Zweimetermaßstab abbog.

»Ach,« seufzte er, »du weißt ja, wie ich zu lieben imstande bin, daher wirst du auch wissen, wie ich zu hassen vermag ... und ich liebe und werde trotz allem wiedergeliebt!«

»Die Sache ist tiefgehend,« bemerkte Pons.

»Ja, Olga liebt mich, dessen bin ich sicher. Damals in der Nacht, als wir bei Godbillons tanzten, schwur sie es mir hundertmal im Lichte des Vollmonds. Es war im Gemüsegarten ... ganz hinten.

Ich sagte ihr allerhand Liebes ins Ohr und hielt ihre Taille umfangen. Auf die weiße Gartenmauer warfen die Zweige der Obstbäume ihre Schatten, die sich wie Spitzenstickereien ausnahmen, und der Mond, der wohlwollende Schützer aller Liebenden, lächelte auf uns herab. Ich murmelte ...«

»Wissen wir,« unterbrach ihn Pons. »Ich kenne sowohl Fräulein Olgas Schönheit als auch ihr Gefühlsleben. Was ihre körperlichen Vorzüge anbelangt, verdient sie den Preis, denn ihre Gestalt ist wundervoll modelliert, schlank und ebenmäßig. Sie hat knospende Brüste, entzückende weiche Linien, ein kleines Näslein, das beim Küssen nicht stört, und ihre Wangen gleichen den reifen Äpfelchen der Normandie im Monate Fructidor. Mit ihrer glatten Haut und dem zartüppigen Fleische ist sie wie eine aufblühende Rose. Sie atmet weniger ein Parfüm aus, als eine duftige Frische. Ihre Finger erinnern an jene der rosafarbenen Eos, an die Morgenröte, die mir aus meiner Studentenzeit wohl bekannt ist. Seitdem die Süße auf Erden niederstieg, gibt es im Olymp nur mehr zwei Grazien. Kurzum, Olga ist ›das Weib‹, und sicherlich ward sie nicht von einem Kusse auf die Stirn erzeugt.«

Begeistert hatte Fléchambeau seinem geriebenen Freunde zugehört. Aber bei den letzten Worten, die ihn irgendwie an das Ehepaar Monempoix gemahnten, hob er abwehrend die Hand.

»Laß die Eltern aus dem Spiele,« sagte er angegraust. »Vor allem die alte Madame!«

»Die Tochter erhebt sich himmelhoch über das Niveau der Mutter!« bemerkte Pons.

»Ich werde Olga schreiben, einen recht herzlichen, aus meinem Innersten kommenden Brief.«

»Mach' erst einen Entwurf!«

»Nein, ich werde ihr doch nicht schreiben. Ich will sie selber sehen.«

»Nur Ruhe und etwas Methode!« meinte der Doktor. »Man kennt sich ja nicht mehr aus.«

»Oder noch besser. Du mußt jetzt in Aktion treten, Pons!«

»Ich? Welcher Hintergedanke leitet dich?«

»Nun. Die ›Jugend‹ Olgas ist Unsinn. Und wenn man mir vorsäuselt: ›Wir wollen sie bis zu ihrem zwanzigsten Lebensjahre im Hause behalten‹, so ist das auch Kaff ... Ich glaube nicht daran.«

»Warum?«

»Na, das ist doch klar wie dicke Tinte!«

»Wieso?«

»Ich glaube kein Jota davon, du doch auch nicht und niemand. Das ist die übliche Abschiedsphrase, die dilatorische Antwort. Nein, nein, etwas ganz anderes steckt dahinter, und zwar: Diese Leute sind Republikaner und müssen es aus Avancementsrücksichten sein ...«

»Warum so gehässig? Frau Monempoix ist doch die Urenkelin des Konventmitgliedes Sanson-Darras!«

»Gut! ... Bürgerpflicht. Das hindert aber nicht, daß ich, Fléchambeau, für ›Gott und König‹ bin. Ich mache daraus kein Geheimnis. Sie wissen es, und daher wollen sie von solch einem Schwiegersohn nichts sehen und hören.«

»Möglich,« meinte Pons. »Und du hältst an deinen Ansichten sehr fest?«

Fléchambeau entrüstete sich.

»Ich werde doch nicht wegen der schönen Augen eines ›Sansculotten‹ und einer ›Trikoteuse‹ die ›Carmagnole‹, das Freiheitslied, singen und die ›Capucine‹ tanzen? Es lebe der König, Herr!«

»Glücklich, wer es so weit brachte wie die königliche Lilie!« erklärte Pons mit geheuchelter Feierlichkeit.

»Dein Spott läßt mich kalt,« entgegnete der andre. »Die republikanische Staatsform ist nichts anderes als eine verkappte Anarchie. Selbst die beste Republik gewährt den Menschen weniger Glück als die schlechteste Monarchie. Und was Gott betrifft, an den du leider nicht glaubst ...«

Pons entschuldigte sich artig.

»Wir gehören nicht demselben Klub an, er und ich. Ich kenne ihn nur dem Namen nach, so wie die meisten Menschen. Immerhin hege ich für ihn große Sympathie, aber ...«

»Aber ... das sind lauter Redensarten,« unterbrach ihn Fléchambeau. »Und ich will das Wesentliche nur herausschälen.«

»Das wäre?«

»Daß du genau wie die Monempoix auf Backbord stehst!«

»Nun, und?«

»Begib dich zu ihnen, Kleiner. Du kennst sie gut. Trachte den wahren Grund herauszubekommen, weshalb sie mich abwiesen, und wenn der Grund zutrifft, den ich vermute ...«

»Dann ...?«

»Aber Menschenskind, du hast doch so gute Beziehungen zu links orientierten Politikern, um den Abgeordneten X oder den Minister Y bewegen zu können, ein gutes Wort für mich bei den Monempoix einzulegen.«

Pons erhob den Blick himmelwärts, nämlich nach dem Kopfe seines Freundes, der sich ihm genähert hatte und mit überzeugungskräftiger Gewalt an den obersten Westenknöpfen des Doktors herummanipulierte.

»Es genügt dir nicht, daß dir die gebratenen Tauben in den Mund fliegen, du möchtest sie auch noch von den Knochen losgelöst haben!« sagte Pons.

»Du machst dich über mich lustig!« rief Fléchambeau.

»Reg' dich nicht auf, großes Kind. Wahre Liebe muß Scherz erdulden.«

»Du, na ja, mein Junge, du bist mit Züchtigkeit geschlagen, frönst der Klugheit!«

»Der Klugheit, was Leidenschaften anbelangt. Aber auch ich habe meine Passion – die Wissenschaft!«

»Etwas Wissenschaft und viel Ehrgeiz!«

»Ich besitze Selbstvertrauen und den Glauben an mich selbst. Das ist alles.«

»Du gehörst zu jenen Glückspilzen, die, ohne irgend etwas im Leben erreicht zu haben, hundert Jahre alt werden und immer wieder behaupten: In mir steckt etwas!« bemerkte Fléchambeau. »Aber gib nur acht, wenn du einmal im Höllenpfuhl sitzen wirst, ehrgeiziger, ruhmsüchtiger Pons, wird dein Schädel ein Pfeifenkopf sein, aus dem ein gehörnter Teufel in alle Ewigkeit glühenden Tabak schmauchen wird.« Dann fügte er, einlenkend, hinzu: »Sag' mir, Pons, sag' mir, guter Freund, würdest du nicht so lieb sein, dich zu den Monempoix zu begeben?«

Er hielt ihn bei den Schultern, und seine Blicke senkten sich im Gleitfluge flehend auf ihn herab.

»Ich werde nicht hingehen,« erklärte der Doktor entschlossen.

Und er verfügte sich unverzüglich nach dem Hause des Präsidenten.


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