Maurice Renard
Ein Mensch unter den Mikroben
Maurice Renard

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Fünftes Kapitel

In welchem tüchtig geschlemmt wird

Monempoix' Dienstmädchen, ein Trampel mit roten Händen und geschwollenen Füßen, merkte nichts. Durch die Anforderungen, die ihre Herrin an sie im Hause stellte, war sie bereits völlig vertiert.

»Treten Sie ein!« sagte sie und führte Pons und Fléchambeau nach einem Salon Napoleon III., der nicht ohne Reiz gewesen wäre, hätte man ihn nicht mit allerhand Deckchen, Bändern und Etageren im Stile Ludwigs XV. und mit kitschigen Porzellan-Nippes vollgestopft.

An der Wand prangte ein recht gutes Porträt des Konventsmitgliedes Sanson-Darras: sprechende Haltung, interpellierende Geste, halb geöffneter Mund, wie zu einer Apostrophe, auf die es keine Antwort gibt, die Haare im Winde des Volkssturmes fliegend – und dicht daneben ein durchaus mittelmäßiges Gemälde, eine kolorierte Photographie, das den Großvater Monempoix' darstellte, den Herrn Rat Monempoix in roter Robe, ein ganz unpersönliches Machwerk, das durch seine Nichtigkeit geradezu aufreizend wirkte.

Pons wandte den Blick ab, um Fléchambeau zu betrachten, sozusagen »sein« Werk, seinen künstlichen Sohn, hatte er doch die Arbeit von dessen Vater etwas retuschiert. Und er sagte: »Es ist gut«, genau wie Gott, als er den ersten Menschen erschaffen hatte.

Fléchambeau sah in der Tat brillant aus. Jetzt genügten ihm zwei Nelken im Knopfloche. Der Optiker am Platze hatte ihm ein Lorgnonglas verkauft, das täuschend ähnlich die Funktionen eines Monokels erfüllte. Und was den unglücklichen Zylinder Fléchambeaus anbetraf, so bereute sein Besitzer nicht, ihm den Garaus gemacht zu haben, da es ja heutzutage für schick gilt, mit nichts in den Händen seine Aufwartung bei anderen Leuten zu machen.

Herr Monempoix erschien zuerst. Schon auf der Schwelle verspürte er eine innere Hemmung. Verständnislos blickte er bald auf Pons, bald auf Fléchambeau. Er glaubte, der Doktor bringe ihm einen Doppelgänger Fléchambeaus in kleinerer Ausgabe. Er fühlte das lebhafteste Bedürfnis, klar zu sehen, fürchtete aber andererseits, für einen Idioten angesehen zu werden, wenn er sich selber Gewißheit verschaffen würde.

Pons befreite ihn aus dem Dilemma, indem er sagte:

»Herr Präsident, hier stelle ich Ihnen den Kandidaten vor, den Sie in Gnaden aufzunehmen mir versprachen, falls er Ihrem Fräulein Tochter zusagen würde. Wenn Ihnen auch die Sache ziemlich unglaublich erscheinen sollte, ist der Kandidat dennoch mein Freund Fléchambeau in Person. Seine hohe Gestalt bildete das einzige Hindernis auf dem Wege zu seinem Glück. Ich suchte also diesem Übel abzuhelfen, und wie Sie sehn, tat ich es mit Erfolg. Nun ist es an Ihnen, Ihr Versprechen zu halten.«

»Ist's denn menschenmöglich!« rief Monempoix.

Verblüffung und Mißtrauen verzerrten sein Gesicht.

Herr Monempoix war ein aufgeblasener, eher unbedeutender Spießer von bleicher Gesichtsfarbe, die den Anschein erweckte, als habe man ihrem Besitzer Stearin injiziert. Auf niedrigen Beinen wölbte sich ein dicker Bauch, und sein runder, vollkommen kahler Schädel gemahnte an irgend etwas Unanständiges. Um diese Kahlheit etwas zu mildern – allerdings ein vergebliches Bemühen –, ließ er die letzten Haare, die ihm wie ein Kränzchen im Genick lagen, übermäßig lang wachsen.

Stellen Sie sich eine Büste aus Wachs vor – oder noch besser, aus Talg –, die fallen gelassen und beim Sturze deformiert wurde und in diesem kläglichen Zustande verblieb, mit plattgequetschter Nase, schiefem Kinn und Schrammen da und dort: In seiner Verblüffung, seinem Ärger und maßlosem Erstaunen gewährte Herr Monempoix momentan diesen Anblick.

Fléchambeau ergriff das Wort und bestätigte alles, was sein Freund vorgebracht hatte, und obwohl seine Stimme gleichfalls eine dünnere Klangfarbe bekommen hatte (wie ein Stück für Bratsche, das man für Violine transponierte), ließ sich der Herr Präsident nach und nach überzeugen. Er öffnete die Tür und rief in das Stiegenhaus.

»Bichonne! Komm doch in den Salon!«

»Bichonne« – Frau Monempoix erschien. Niemand als sie hätte bei einer Sylvesterfeier so treffend Klöße oder Knödel personifizieren können. Ihre Gesichtsblässe und das auffallend Ätherische ihrer Gestalt hatten etwas Gespenstisches. Wenn man sie sah, raunte man sich ins Ohr: Eine arme Seele im Anfangsstadium der Materialisation! Ihre karikaturenhafte Ähnlichkeit mit einer berühmten Tragödin ließ die Vermutung aufkommen, daß man, wenn sie die Lippen öffne, eine Stimme von Gold, zumindest von Plattgold, vernehmen würde.

Doch welcher Irrtum! Nichts Melodisches kam über diese Lippen von durchsichtiger Blässe.

Sie drückte sich höchst plebejisch aus und besaß ein rauhes Organ. Ihre Rede untermischte sie mit seltsamem Gegrunze, als stecke ihr in der Kehle etwas, das lebhaft an die Stimme eines in der Nähe befindlichen Schweines erinnerte. Dazu kam, daß sie ein unstillbares Bedürfnis empfand, ihr Gegenüber anzurühren, seine Hände zu packen, sich an seine Schulter zu lehnen, in das Weiße seiner Augen zu blicken und in seinen Mund hineinzusprechen. Wohl die meisten hätte eine solche Schwiegermutter in spe zurückgeschreckt, und nichts ist imstande, Fléchambeaus große Liebe besser zu charakterisieren als das. Fräulein Olga konnte sich auf eine Leidenschaft etwas einbilden, die nicht einmal das Dazwischentreten ihrer Gebärerin abzuschwächen vermocht hatte.

»Schau her!« sagte der Präsident. »Ich stelle dir unseren Freund, den Herrn Amtsadvokaten beim Pariser Appellationsgerichte, Fléchambeau vor. Herr Dr. Pons hat ihn eine Kur durchmachen lassen. Ist das nicht wunderbar, Bichonne?«

»In der Tat,« zierte sich Frau Monempoix. »Ich bin ganz aus dem Häuschen. Wie brachten Sie das fertig, Doktor?«

»Was liegt an dem ›Wie‹« zuckte Pons die Achseln, »das Faktum genügt.«

»Wird es aber auch anhalten?« meinte Frau Monempoix. »Wird Ihr Freund nicht wieder wachsen, so von Tag zu Tag?«

»Nein, gnädige Frau, ich bürge dafür.«

»Wenn dem so ist ...«

Das Ehepaar wechselte einen beratenden Blick.

»Na also,« erklärte der Präsident. »Hol' unsere Tochter,« und an Fléchambeau sich wendend, sagte er mit feinem Lächeln: »Seien Sie mir als Sohn willkommen, lieber Junge. Wir geben sie Ihnen.«

Inzwischen hatte Frau Monempoix ihre Tochter hereingeführt, die hinter der Tür gelauscht.

»Machen Sie sie glücklich!« seufzte die Präsidentin, wie sie das einmal in irgendeinem Küchenromane gelesen hatte.

Herr Monempoix betrachtete die Liebenden, die sich in die Arme sanken. Olga erhob den Blick ihrer seelenvollen Augen zu dem feurigen Sehorgan Fléchambeaus, und der Herr Präsident erklärte salbungsvoll:

»Man könnte kein Pärchen passender zusammenstellen.«

»Und du bleibst stumm, Pons?« fragte Fléchambeau. »Du sagst mir gar nichts?«

Pons sann ein wenig nach und erwiderte schüchtern:

»Ich grüße dich, Herr Gemahl.«

»Gott, ist er komisch!« rief Frau Monempoix.

»Er ist ebenso geistreich wie gelehrt!« setzte der Herr Präsident den Punkt auf das »i«.

Den Zeigefinger auf die Brust seines Freundes pflanzend, machte Pons seinen Gefühlen mit einem seiner üblichen Verschen Luft:

»Herzt euch voll Liebesglut,
Küßt euch voll Liebeswut!
Wer immer im Liebesspiel
Des Guten nicht tut zu viel,
Der liebt zu wenig, der liebt nicht genug,
Seine Leidenschaft ist nur Lug und Trug!«

Man mußte sich Gewalt antun, um nicht zu applaudieren.

Fléchambeaus Gesicht ging vor lauter seligem Lachen fast aus dem Leim. Er schwamm in einem Meere von Glück und er hatte das Gefühl, als ob Wasserstoff – oder ein anderes Gas, das leichter als Luft ist, ihn erfülle und ihn von der Erde emporhebe.

»Gib acht!« ermahnte ihn Pons. »Mach's nicht wie jener Greis, dessen weißes Haar in einer Nacht vor lauter Glück und Seligkeit schwarz wurde!«

Alles platzte heraus, denn jeder fühlte ein unwiderstehliches Bedürfnis, seiner Heiterkeit Luft zu machen, und ergriff daher die Lachgelegenheit beim Schopfe. Bei Pons lief man keine Gefahr, darin zu kurz zu kommen.

Das Ehepaar Monempoix erschöpfte sich wechselseitig in lauten »Hm! Hm!«, denn die Verlobten waren nicht voneinander loszukriegen. Eins ans andre geschmiegt, saßen Fléchambeau und die reizende Olga auf dem Sofa und gaben sich konharmonischen Beweisen gegenseitiger Zärtlichkeit hin. Vielleicht nur, um diesem anscheinend nicht endenwollenden Idylle ein Ziel zu setzen, rief plötzlich der Herr Präsident:

»Zum Henker, warum solltet ihr eigentlich nicht alle zwei, Pons und Fléchambeau, heute abend bei uns mit ein paar intimen Freunden unseres Hauses speisen? ... Du könntest doch ein kleines Verlobungssouper improvisieren, Bichonne? ... Der Traiteur Digermal wird uns alles Nötige besorgen. Die Choderpils kommen ohne weiteres, auch die Chabosseaus und Dézormets!«

»Gewiß, gewiß!« stimmte die Frau Präsidentin zu, die für solche improvisierte Festchen eine große Vorliebe hegte. »Werfen Sie sich in Smoking, meine Herren, und kommen Sie um acht Uhr wieder. Wir wollen den freudenreichen Tag mit einem schönen Abend festlich begehn. Paßt es Ihnen?«

»Gemacht!« erwiderte Pons, während Fléchambeau statt aller Antwort die Präsidentin umarmte und dem Präsidenten gerührt die Vorderflosse drückte. Dabei warf er seiner Verlobten einen jener langen, verschleierten und liebesschwangeren Blicke zu, die heiß und unverbrüchlich die Liebe und Treue von tausend Generationen in sich bergen.

*

Punkt acht Uhr erschienen die beiden Freunde wieder in der Wohnung des Präsidenten. Warmer Küchengeruch schlug ihnen entgegen, und man vernahm das Geräusch von Tellern und Geschirr.

Fléchambeau fühlte sich wie in den siebenten Himmel versetzt. Die Schlußstunde seines Kleinerwerdens hatte geschlagen. Der nach den Maßen von Pons umgearbeitete Smoking beengte ihn nicht im mindesten, und die mit breiter Seidenborte verzierte Hose fiel schick, nicht zu lang, nicht zu kurz, auf seine Lackschuhe herab. Das physiologische Wunder war geschehen.

Im Salon war noch niemand. Aber eine Sekunde später erschien bereits Olga, leider in Begleitung von Bobiche, die in ihren Armen eine ganze Karnevalsgesellschaft Puppen mitschleppte.

Olga trug ein himmelblaues, mit silbernen Sternchen übersätes Kleid. Verzückt hob sich ihr fester, zarter Busen, und ihre Frühlingsbrüstchen waren wie junge Tauben, der Göttin Venus heilige Vögelchen. Fléchambeau liebkoste mit den Blicken die entzückenden Formen des Fräuleins, die rundlich wogenden Hüften und deren obere weiche Doppelwölbung, die einen Armand Sylvestre begeistert haben würde, und die gewiß nicht dem Erfinder der Autobusse, dieser anscheinend nur für Skelette berechneten Fuhrwerke, als Modell vorgeschwebt hat.

Bebend verstrickte das Pärchen seine zwanzig Finger ineinander.

Bobiche paßte das aber gar nicht. Da im Wachsen begriffene Kinder für Proportionen nur ein diffuses Auffassungsvermögen besitzen, fiel ihr die äußerliche Veränderung ihres Freundes Fléchambeau nicht weiter auf. Sie wollte absolut Pons die Puppen, die sie der Generosität seines Freundes verdankte, eine nach der anderen vorstellen und ihn dann bitten, ihr die Geschichte vom König Turbul und dem Prinzen Mirobol, die er neulich angefangen, aber nicht fertig erzählt hatte, weiter zu erzählen.

Fléchambeau zuliebe opferte sich also der Doktor. Er ließ die Puppen in Parade an sich vorüberziehen und miteinander reden; den Torero mit dem Fischer von Dieppe, den Matrosen mit dem Mädchen von Arles, und fragte dann Fléchambeau:

»Wo waren wir denn stehngeblieben?«

»Wo die Feen zur Tauffeier der Prinzessin Kuckuck erscheinen, die einen auf Engelsschwingen, die andern in fliegenden Karossen ...«

»Richtig!« nickte Pons. »Also hör' weiter, Bobiche! ... Plötzlich sah man die Fee Piane-Pianne rittlings auf einem Camembert daherkommen. Sie hatte sich natürlich verspätet. Zur Wiege der kleinen Prinzessin tretend, hob sie ihren Zauberstab und sprach zum Baby: Du wirst langsam sein! Auf dieses fatale Wort hin riß sich König Turbul die letzten drei Haare, die ihm noch geblieben waren, vor Entsetzen aus und rief: ›Wie könnte man wohl das Schreckliche verhüten, das ein derart düsteres Geschenk mit im Gefolge hat. O meine Feendamen, welch namenloses Unglück! Meine Tochter soll jeglicher Flinkheit und Schnelligkeit beraubt bleiben! Geben Sie mir Ihren Rat? Was kann ich tun, um das Furchtbare, das Harte dieser Gabe zu mildern?‹ – ›Geben Sie der Prinzessin viel Sellerie zu essen. Das ist das einzige Mittel!‹ erklärte die Fee Morgan. Und die Fee Carabosse fügte hinzu: ›Sie soll möglichst viel Hunyady-Janos trinken ...‹ – In diesem Moment erblickte der König ein hübsches junges Ding, das in Lumpen gehüllt war, die kaum ihren grazilen Körper bedeckten. ›Hallo!‹ wandte sich Se. Majestät an den Hofnarren. ›Wer ist das Mädel mit dem entzückenden kleinen Popo?‹ – ›Sire,‹ entgegnete der Leibzwerg, ›die schöne Meerschweinchenhirtin Nigaudinossa ist es.‹ – ›Palababumssa!‹ rief der König. ›Dann verstehe ich allerdings, daß ...«

Bobiche platzte vor Lachen heraus. Da öffnete sich die Tür, und das Dienstmädchen ließ das Ehepaar Choderpil eintreten. Diesem folgten die Chabosseaus und Dézormets. Zu deren Empfang eilten jetzt auch Herr und Frau Monempoix herbei. Es erhob sich nun ein Tohuwabohu von Ausrufen, Gekicher und Küssen. Jeder versicherte, wie unendlich er sich freue, und wie er sich vor Staunen ob des beispiellosen Phänomens des Kleinergewordenseins des Herrn Fléchambeau gar nicht fassen könne.

Man hätte glauben können, daß alle diese Herren und Damen nur auf diesen einen Moment uferloser Seligkeit in ihrem Leben gewartet hätten, daß sie keine andre Sorge gehabt, als die Zukunft Olgas, der herzigen Kleinen.

»Und jetzt heiratet sie ein Naturwunder!« erklärte die Frau Präsidentin.

Man näherte sich Fléchambeau mit einer gewissen Scheu, einer Scheu, wie man sie etwa einem Monstrum gegenüber auf Jahrmärkten oder in Museen empfindet. Frau Monempoix gebärdete sich mit einer durch Erziehung etwas abgedämpften Raserei. Ihr glimmerhaft schillerndes Kleid von lila Farbe mühte sich vergeblich, violett zu erscheinen. Pons sagte ihr, sie gleiche einer Glyzinie, versprach sich aber und sagte »Glyzerin«. Sie glaubte, er mache ihr irgendeine »medizinische« Schmeichelei, welche die Damen nicht verstehen.

Der Lohndiener von Digernal unterbrach die gesellschaftliche Unterhaltung, indem er die Türe zum Speisezimmer aufriß und meldete:

»Es ist serviert!«

Der Präsident bot seinen henkelförmig gebogenen Arm Madame Dézormet. Staatsanwalt Dézormet führte, ein blöd-galantes Lächeln auf den Lippen, die Hausfrau; Richter Choderpil folgte mit der Gattin seines Kollegen Chabosseau usw. Fléchambeau und Olga glichen Paul und Virginie, und den Schluß des vorhochzeitlichen Reigens bildeten Pons und Bobiche. Der Doktor machte sich innerlich nicht wenig lustig über die »Herrschaften« und konnte nur mit Mühe ein homerisches Lachen unterdrücken. Es war ein lukullisches Mahl. Obwohl Digernal gar nicht darauf gefaßt gewesen, hatte er sich selbst übertroffen. Das ist immer so. Nur von langer Hand vorbereitete Dinge krachen.

Zur größten Freude unseres Pons hatte der Herr Präsident Monempoix den Vorsitz an sich gerissen; selbstbewußt thronte er auf seinem Stuhle und servierte seinen Gästen, ohne jedoch dabei auch nur im mindesten seinen Magen zu kurz kommen zu lassen, Anekdoten aus seinem Leben.

»Als ich eines Tages in Strafsachen den Vorsitz führte, richtete, stellen Sie sich vor, der Angeklagte folgende Frage an mich: Und Sie, Herr Präsident, haben Sie sich nie etwas vorzuwerfen gehabt? O doch, mein Herr – erwiderte ich –, die Ernennung von Sachverständigen und Geschworenenobmännern!«

Die Tafelrunde hielt sich die Rippen, denn Monempoix hatte eine drollige Art zu reden.

Selbst im Gerichtssaale schien er immer jemanden zu parodieren, wen, wußte man nicht, aber irgendeinen komischen Kauz. Er war wie einer jener Schauspieler, die einen bloß durch ihr Erscheinen auf der Bühne zum Lachen reizen.

Fléchambeau war nur Herz. Man hatte ihn neben Olga gesetzt, und er erklärte sich unfähig, etwas zu essen oder zu trinken. Mit ihrer sanften, aber unerbittlichen Hand würgte ihm die Glückseligkeit die Kehle zu. Olgas Augen faszinierten ihn. Sie waren auch einzig in ihrer Art. Es gab keine zweiten, die so samtweich, klar und unvergleichlich gefühlvoll dreinblicken konnten. Wenn sie die langen, seidenen Wimpern senkte und wieder hob, war es, als ob das leuchtende Morgenrot die finstere Nacht ablöse. Diesen Blick konnte man nicht mit Worten schildern, es war weniger ein Blick als ein drahtloser Kuß.

»Erbarmen!« flehte Fléchambeau, »lassen Sie Ihre süßen Augen ein wenig schlummern!«

Doch sie vermochte es nicht, denn ein inneres Triebwerk beherrschte auch ihr Herz, Kopf und Blut.

Ernst, blaß, steif, überselig, fast leidend unter der Gewalt restloser Befriedigung, saßen sie da und weilten, fernab von dieser lärmenden Tafelrunde, wie auf einer von Watteau gemalten Insel.

»Nunc est bibendum!« erklärte der Präsident.

»G'soffen!« übersetzte Pons republikanisch.

»Er ist unbezahlbar!« meckerte die Präsidentin.

Pons hatte ihr Herz erobert. Sie verschlang ihn förmlich mit den Augen, bedauerte, daß er nicht ihr Tischnachbar war. Ihre Füße tasteten im Leeren herum.

»Was werden Sie jetzt beginnen?« fragte sie. »Saint-Jean-de Nèves verlassen? Morgen sind Sie eine Berühmtheit!«

»Ich gehe mit keinen großen Plänen mehr um,« erwiderte der Doktor. »Ich will's mir fortab gut sein lassen und mich nur mit der Muse der Dichtkunst ein wenig herumnecken:

Was kümmern den Dichter des Lebens Sorgen?
Er lebt für das ›Heute‹ und denkt nicht ans ›Morgen‹.«

»Entzückend,« seufzte sie.

Und ihr Zwiegespräch setzte sich über die von Blumen und Blattwerk strotzenden Tafelaufsätze hinweg fort.

Die Zeit verstrich; ein Gericht folgte dem andern, ein guter Tropfen dem nächsten, die angenehme Musik des Schlemmermahles ertönte fortissimo. Die Wangen röteten sich, die Gesprächsthemata wurden gewagter. Wie schön war es, zu leben! Man empfand es immer mehr. Der Lärm der Gesellschaft verschwamm und versank für die beiden in ihren egoistischen Träumen versunkenen Liebenden wie ein Narrengestade im Meere des Alls. Aber die andern, meine Herren! Wie gaben sie sich der Lust hin, vor allem die Männer, selig, mindestens für einige Zeit die Amtsmiene ablegen zu dürfen.

Wie wohl tat es, ja wie wundervoll wohl, Herrn Emil Monempoix zu sehen, wie er, nicht mehr Amtsperson, sondern dickbauchiger Privatmann, ein Riesenmesser zückte, groß genug, um einen Ludwig XV. abzumurksen, und wie er mit lüsternem Munde damit eine prachtvoll gelungene Kalbskeule in saftige Scheiben zerlegte.

Doch wir armen Schriftsteller mit unserem leeren Bauche, die wir nur in unserer Phantasie schlemmen können und nur am Kellergitter der Erinnerung den Bratenduft einer kulinarischen Fata Morgana einatmen dürfen, wollen uns bei solchen Schilderungen, die einem das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen, nicht länger aufhalten. Wir gehören zu den Bedauernswerten, die ihre Feder gern für eine Gabel und das Papier vor sich für einen vollen Teller ansehen. Schlagen wir ihn in Trümmer, Herr Histograph! Ihr Löschblatt ist kein Tischtuch, Ihr Tisch keine Tafel. Es braucht nicht mehr viel, und Sie leeren Ihr Tintenfaß! Presto, presto! Übergehen Sie glatt die Gänge: Vorspeisen, Braten, Wild, Geflügel, Gemüse und Salate – der Fisch ist schon längst abserviert – halten Sie sich nicht beim Käse und der Eisbombe auf, erwähnen Sie nur den Johannisberger, den Barsac, Chambertin, Pommery und Samos. Lassen Sie rasch die »Petits fours« vorbeiflitzen. Erzählen Sie meinetwegen, wie Bobiche ihrem »Fischer von Dieppe« zu trinken geben wollte, Herr Monempoix mit lustiger Miene eine pikante Geschichte unter Deckworten vom Stapel läßt, die Frauen vergnügt gackern und die Männer aus sich herausgehen. Teilen Sie mit, daß elf Uhr nachts vorbei ist (welch lange Nährsitzung!), malen Sie in Ihren wirkungsvollsten Farben aus, wie eine leichte Konfusion entsteht, als die Servietten, zum Knäuel geballt, hingeworfen werden und man die heißgesessenen Stühle, diese dienstbaren Vierfüßler, die dabei ein kleines Adieugeräusch von sich geben, fortrückt, und führen Sie uns mit ein paar schnellen Pinselstrichen den Reigen vor Augen, der sich jetzt nach dem »Schwarzen« und den Likören hinbewegt. (Für die Nervösen gibt es Kamillentee.)

Fléchambeau erhob sich. Verzückt fühlte er, wie ein molliges Ärmchen sich in seinen schob, und folgte seinem Laboratoriumskameraden. Pons machte sich vor ihm den Spaß, gebückt einherzugehen, um mit Bobiche in einer Kopfhöhe zu sein.

Da – an Fléchambeaus Absatz mußte sich anscheinend etwas festgeklebt haben, ein Stück Brot oder sonst irgendein Speiserest! Er wischte mit dem Fuße auf den Teppich hin. Das Ding blieb, ließ sich nicht entfernen! ... Ekelhaft!

Fléchambeau hob das Knie und tastete rasch mit der Hand nach seinem Absatze ... und ward von jäher Blässe befallen. Pons drehte sich lustig um. Aber es war ihm, als wehe ihn ein eisiger Unglückswind an. Er richtete sich auf, ließ Bobine los ...

»Was gibt's?«

»Mein Beinkleid ist mir zu lang geworden,« stotterte Fléchambeau. »Ich trete darauf ... ich ... fahre fort, kleiner zu werden ... auch mein Kragen ... meine Ärmel ... schau her!«

»Kreuzdonnerwetter!« brummte Pons.

»Fluche nicht!« erwiderte Fléchambeau. »Machen wir lieber, daß wir schleunigst wegkommen. Eine schöne Geschichte das!«

Pons war wie zu einer Salzsäule verwandelt. Er schwitzte vor Entsetzen.

Unter dem Vorwande, ein gewisses Plätzchen aufsuchen zu müssen – sie waren nicht die einzigen –, empfahlen sie sich auf Französisch.

Die Klarheit des Himmels wirkte aufreizend. Die Luft war friedlich und mild, das Firmament wolkenlos ...


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