Maurice Renard
Ein Mensch unter den Mikroben
Maurice Renard

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebentes Kapitel

In welchem Pons abtritt

Dr. Pons blickte Fräulein Olga nach, als sie den Platz der Republik überschritt, um sich zu Vater und Mutter zurückzubegeben. Dieser liebliche Anblick hemmte ein wenig die ungeheure Verlassenheit, die nun jäh über ihn hereinbrechen sollte.

Die Glyzinien waren verwelkt. Inmitten goldgelben Blattwerks lag der Platz der Republik, und die allegorische Gestalt der Republik verzichtete darauf, ihr Antlitz im Spiegelbild des Bassins zu betrachten (hätte sie es bei einem solchen Busen überhaupt vermocht?), und quer über diesen Platz bewegte sich Olga mit graziöser Würde heimwärts.

»Sie ist wirklich ganz reizend,« murmelte Pons.

Nicht ungestraft sieht ein junger Mann ein junges Mädchen vorübergehen, und noch viel weniger ungestraft kann er täglich, eindrucksvolle Stunden lang, mit ihr allein zusammensein. Als Olga ihm die Rechte gedrückt, hatten sich sein Blick und ihr Blick miteinander »vermählt« – wenn Pons sich so ausdrücken durfte. Er bewunderte sie. Wie selbstlos, wie mutig hatte sie der üblen Nachrede getrotzt und bis zum bittern Ende Fléchambeau gegenüber ihre Pflicht erfüllt, indem sie täglich zu Pons kam und sich nicht darum kümmerte, daß es alle bösen Klatschbasen sahen und wußten.

Wieso gedachte Pons jetzt nicht ohne Gehässigkeit des Staatsanwalts Bargoulin? Wieso fragte er sich, wie wohl der Herr Präsident und die Frau Präsidentin über seine eigene Person denken mochten?

Warum bereute er es, in »Bichonnes« Gemüt nicht jene Schrulle genährt zu haben, die eines Abends seine komische Art in ihr geweckt hatte?

Aber Olga verschwand, die Galgenfrist war abgelaufen. Die Einsamkeit senkte ihre grauen Fittiche auf ihn herab.

Doch war er wirklich so einsam? Dort stand ja das Mikroskop mit Fléchambeau darunter!

Apropos –

Fléchambeau ... was reimt sich doch darauf? ... Pons mußte sich Gewalt antun, um nicht in diesem unpassenden Momente irgendeinen läppischen Reim zu schmieden, denn so niedergeschlagen er vorher gewesen war, um so lichter fühlte er sich jetzt im Geiste.

»Fléchambeau,« seufzte der Doktor melancholisch, »Du nimmst jetzt mehr Raum ein, als wenn du wirklich da wärest!« – Doch, war Fléchambeau nicht gleichzeitig da und nicht da? Sonderbar dieses gleichzeitige Dableiben und Sichentfernen. Sonderbar auch diese Gegenwart und zugleich diese Abwesenheit! »To be and not to be«, realisiertes Paradoxon. Erfüllte Unmöglichkeit! Fléchambeau – niemand mehr und doch jemand! Jemand – wie lange? Wer wird jemals die Minute seines Hinscheidens erfahren? Lebte er überhaupt noch?

Er war Waise und ohne Familie. Das vereinfachte die Sache. Nicht einmal ein weitläufiger Verwandter war zu benachrichtigen. Vorerst brauchte man nur ein paar Monate herumzuerzählen, Fléchambeau habe eine Reise angetreten, wohin, wisse man nicht. Später hatte man noch immer Zeit, sich etwas anderes auszudenken, zu sagen, Fléchambeau habe niemandem geschrieben; was aus ihm geworden sei, hatte man nicht erfahren. Das Gericht würde ihn für verschollen erklären. Verschollenheit ist ein legaler Zustand wie jeder andre. Man ist dem Gesetze nach »verschollen«, wie man minderjährig, geschieden oder der bürgerlichen Ehrenrechte beraubt ist. Damit ist alles gesagt.


Pons hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht, nämlich ohne seine Zeitgenossen, ohne das Faktotum Valentin, ohne sich selbst.

Er fing an, sich zu langweilen. Seine Parasitologie sagte ihm gar nichts mehr. Er empfand vor seinen Arbeiten einen unwiderruflichen, untilgbaren Ekel. Sein Laboratorium erfüllte ihn überdies wegen des Übermikroskopes und dessen Glasglocke – es schien ihm das reinste Ehrengrab – mit Trauer. Wenig fehlte, und er hätte einen Kranz Immortellen darauf gelegt.

Auch seine Enttäuschung hatte einen bitteren Nachgeschmack in ihm zurückgelassen. Seinen verzückten Blicken hatte sich bereits die Pforte des Ruhms halb geöffnet – aber nur für einen Moment. Seine Entdeckung war nun gerade gut genug, um ihn lächerlich zu machen. Die Menschen in ihrer Dummheit und Bosheit widerten ihn an. So ist's immer. Erleidet jemand Schiffbruch, sind stets die andern daran schuld.

Doch kommen wir auf das Faktotum Valentin zurück. Höchst ehrerbietig gab er seinem Herrn bekannt, daß er seine »acht Tage machen« wolle, da er zu heiraten gedenke und sich zur Bewirtschaftung eines kleinen Gutes, das er im Département Aube, in der Nähe von Troyes, besaß, dorthin zurückziehe.

Pons fluchte den Weibern, der Landwirtschaft und dem Département Aube. Doch was konnte er machen?

Und nun zu den Zeitgenossen!

Sie benahmen sich unausstehlich. Die Geschichte von der »Abreise« schluckten sie nicht so mir nichts, dir nichts. Sie wollten durchaus wissen, was aus Fléchambeau geworden sei, und was sich innerhalb der vier Mauern des Hauses abgespielt hatte, in das man ihn eintreten, nie aber herauskommen gesehen hatte. Pons wurde mit Fragen bestürmt, und die Leute sparten nicht mit faustdicken Anspielungen und doppelsinnigen Ausdrücken.

Er hatte es satt.

Und eines Tages hätte er sich fast auf die Suche nach Fléchambeau gemacht. Schon schaukelte er in der hohlen Hand zwölf der verhängnisvollen roten Pillen. Aber der Gedanke an Olga hielt ihn vom Äußersten zurück. Er fühlte sich glücklich, als er sich dabei ertappte. Aber das war kein Hindernis, um abzufahren ... für ein paar Monate, natürlich nicht in das Reich der Mikroben, sondern nach irgendeinem anderen Teile des Planeten Erde, seinerseits eine Reise anzutreten, diesmal wirklich, ohne eine Adresse zu hinterlassen, irgendwohin eine Wallfahrt zu unternehmen, nach Italien, Kalifornien, in ein Land, wo die Orangen blühen. Es mußte sein. Es war zwar blöd, aber, wie gesagt, es war notwendig. Not bricht Eisen. Eine kleine Luftveränderung konnte ihm nur wohltun. Schon der Gedanke an eine neue Umgebung regte seine dichterische Phantasie an und ließ ihn singen:

»Sattle, Knappe, mir den Hengst
Oder mein Freilaufrad,
Denn es wird mir hier schon längst
Über die Maßen fad.«

In der Nacht nach Valentins Abschied packte Pons etwas Wäsche in einen Rucksack ein, vergewisserte sich, daß die Glocke vorschriftsmäßig das Übermikroskop bedeckte, schloß sämtliche Fensterläden, verließ das Haus durch eine Hintertüre, schwang sich aufs Fahrrad und verließ nächtlicherweile Saint-Jean-de Nèves, um in der nächsten Station den Zug zu besteigen und nach der neuen Welt abzudampfen.


 << zurück weiter >>