Maurice Renard
Ein Mensch unter den Mikroben
Maurice Renard

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Viertes Kapitel

Die Geschichte einer denkwürdigen Woche

Zur Beruhigung ängstlicher Seelen wollen wir gleich vorausschicken, daß die Befürchtungen des Dr. Pons unbegründet waren. Alles verlief glatt. Keinerlei Unfall, keinerlei unangenehme Überraschung trat ein. Diese außerordentliche Kur, die den Zweck verfolgte, Fléchambeaus Körpergröße jener Fräulein Olgas anzugleichen, ward durch keinen Stillstand, keine Komplikation unterbrochen. In harmonischer Weise folgten einander die zehn Tage.

Gleich vom ersten Abend an hatte sich der Doktor im Schlafzimmer seines interessanten Versuchskaninchens Fléchambeau ein Feldbett aufstellen lassen und bei dieser Gelegenheit kurz und bündig seinem Faktotum, dem Diener Valentin, auf die Seele gebunden, strengstes Stillschweigen zu beobachten über alles, was er sehen, hören oder erleben würde. Valentin war übrigens eine Vertrauensperson, ein arbeitsamer und verschlossener Mensch, der sich nicht um die Welt kümmerte, sondern gleichmütig und gleichgültig durchs Leben wandelte und von dem sein Herr zu behaupten pflegte, daß er mit seinem Zeitalter unlöslich verbunden sei.

Valentin stellte in Fléchambeaus Zimmer das hölzerne Meßinstrument an passendem Platze auf und legte auf den Tisch alles mögliche Zeug aus dem Laboratorium: Registrierapparate, Flakons, Spritzen, Anwärmer, Kluppen, ärztliche Bestecke und Schalen, um allen pathologischen Eventualitäten gegenüber gewappnet zu sein.

Mit einem Thermometer in der Achselhöhle, ruhte Fléchambeau zumeist auf einem bequemen Sofa. Pons nahm ihm die Temperatur ab, kontrollierte seinen Blutdruck mittels pneumatischen Armringes, stellte mit einer Art Telephon die Herztätigkeit fest, hob ihm die Lider auf, um die Augen zu betrachten, sog seinen Atem ein (»riecht nach Tabak«, bemerkte er), ließ ihn von einer Tafel, näher und weiter entfernt, Sätze mit verschieden großen Buchstaben ablesen, kitzelte seine Fußsohlen und stellte dann allerhand chemische Analysen an, deren Einzelbeschreibung wir uns zu erlassen bitten.

Einen gewissen blinden Lärm rief Pons selber hervor. Indem er nämlich den Patienten in einemfort fragte, ob er nicht dies oder jenes verspüre, brachte er es schließlich zuwege, daß Fléchambeau jedes Gefühl für die Wirklichkeit verlor. Die Frage, die er stündlich sechsmal an ihn richtete: »Hast du keine Kolikschmerzen?« bewirkte es, daß der Befragte schließlich purgiert wurde, ärger, als hätte er Rhabarber oder Sennesblätter eingenommen. Das erstemal antwortet man auf derartiges mit einem harmlosen »Nein«. Später befragt man sich selbst, steigt sozusagen in Gedanken in den eigenen Bauch hinab, der sich eines restlosen Wohlbehagens erfreut. Noch etwas später sagt man sich dann: Teufel, sollte nicht doch? ... Und das Unglück ist geschehen – oder das Gute. Man nehme sich in acht und ziehe daraus die Lehre.

Am zweiten Tage fand Olga, die man heimlich über den guten Erfolg der Kur benachrichtigt hatte, Mittel und Wege, Fléchambeau ein paar Blumen und ein Briefchen zukommen zu lassen mit der Botschaft: »Ich liebe Sie. Um 5 Uhr werde ich am Fenster sein!«

Fléchambeau sah sie also zwischen dem Arme der »Republik« hindurch und genoß das Glück, aus ihren Gesten herauslesen zu dürfen, daß sie ihm mit Leib und Seele angehöre, getreu bis in den Tod, und was die Seele anbelange, auch über das Grab hinaus.

Am dritten Tage stellte Fléchambeau fest, daß ihm sein Siegelring zu weit wurde und das Monokel die Dimension der Augenhöhle überschritt. Er steckte beides in eine Schatulle und nahm sich vor, den Ring enger machen zu lassen und sich ein kleineres Einglas zu kaufen, sobald er seine Standardgröße erreicht haben würde. Einstweilen bat er seinen Freund, ihm mit einer Brille auszuhelfen.

Er aß mit Appetit, zechte brav und zeigte sich restlos glücklich und wohlgelaunt.

Abend für Abend führte er sich zwei Pillen zu Gemüte. Dann schlief er wie ein Kind, bis sich die Sonne in Valparaiso erhob, d. h. bis gegen 10 Uhr.

Am vierten Tage wachte er jedoch früher auf. Er hatte Zahnweh, fürchterliches Zahnweh.

Pons, der nur oberflächlich schlummerte, beunruhigten Fléchambeaus Seufzer.

»Was gibt's? Es ist ja noch kaum grau!«

»Ich hab' so Zahnweh,« sagte Fléchambeau.

»Was für Zähne tun dir denn weh?«

»Ich glaube ... ich glaube, es sind meine Goldzähne.«

»Natürlich!« rief Pons beruhigt. »Ich hab' nicht daran gedacht. Deine Goldzähne gehören nicht zu deiner Anatomie. Es fehlt ihnen das Anpassungsvermögen. Mein Mittel wirkt auf sie ebensowenig ein, wie z. B. eine Fontanelle auf ein Holzbein. Deine natürlichen Zähne werden von selbst mit der Reduktion des Kiefers kleiner ... verstehst du?«

»Ich verstehe, daß man mir die Goldzähne wird ausreißen müssen!« versetzte Fléchambeau konsterniert.

»Was liegt daran. Du läßt dir einfach in sechs Tagen andere einsetzen, denn wir brauchen uns nur noch sechs Tage zu gedulden. Heute abend wirst du nicht mehr als 1,88 m messen, d. h. um 8 cm kleiner geworden sein.«

Fléchambeau erhob sich, ein Taschentuch an die Wange haltend.

Wie jeden Morgen, krempelte er die Ärmel seines Schlafrockes um eine neue Umdrehung auf und schnitt unten 2 cm Stoff ab.

»Gott, wie bin ich zerstreut!« sagte er. »Meine Anzüge! Man muß sie ja auch zurechtstutzen, denn ich will doch anständig gekleidet sein ... nicht wahr, am Montag enden doch die zehn Tage?«

»Jawohl, am Montag,« erwiderte Pons und fügte – da er ein fanatischer Liebhaber improvisierter Reime war – in Versen hinzu:

»Oh Montag, du seliger, feiner!
Da bist du erlöst, mein Kleiner!«

Damit wollte er auch seinen etwas niedergeschlagen aussehenden Freund ein wenig erheitern.

»Aber ausgehen, zum Schneider gehen, kannst du nicht. Da wir aber so ziemlich eine Größe und Statur haben werden, werde ich die Anzüge angeblich für mich zurichten lassen.«

»Pons, das ist eine glänzende Idee, und schau, daß du bald hinkommst, denn ich möchte in tadelloser Adjustierung vor meinen künftigen Schwiegereltern erscheinen. Montag! Ach, dieser Montag! ... aber, Himmelsakrament, hab' ich Zahnschmerzen!«

»Ich werde sie dir ausreißen,« erklärte der Doktor. »Du kannst keine Eckzähne tragen, die für dich zu groß sind. Das geht nicht. Es würde eine unliebsame Unordnung in deinem Gebiß verursachen.«

»Auf so etwas war ich bei Gott nicht gefaßt,« knurrte Fléchambeau.

Und er grübelte, nicht ohne Beklommenheit, nach, welcher Fremdkörper ihm wohl noch einen ähnlichen Streich spielen könnte. Pons half ihm nachdenken. Sie stellten unisono fest, daß mit Ausnahme der Zähne, des Monokels und des Ringes nichts sonstiges Parasitisches ihnen größere oder kleinere Unannehmlichkeiten bereiten könnte.

Unerwähnt darf jedoch nicht bleiben, daß Fléchambeau die Füllfeder unhandlich wurde; sie erschien ihm plötzlich zu groß, man merkte es auch an der Schrift ihres Besitzers. Ebenso drückte die Pfeife, aus der er, um sein Zahnweh zu lindern, tüchtig dampfte, zu gewichtig auf die Mundwinkel.

»Hm, hm!« brummte er bei dieser Wahrnehmung.

Und als er seine Turnhanteln aufhob, mußte er sich eingestehn, daß ihm das Üben mit ihnen sauer wurde.

»Ekelhaft das!«

Da erschien Pons, bewaffnet mit einer heimtückischen Zange. Fléchambeau nahm auf dem Sofa Platz und die schönen Goldzähne verließen, einer nach dem andern, ihren Sitz.

Mit Lesen und Konversation verliefen die nächsten Tage in Ruhe und Frieden. Pons' Besorgnis schwand allmählich und seine Freude gewann die Oberhand. Er hatte eine erstaunliche Entdeckung gemacht. Wozu konnte sie wohl gut sein? Er war sich darüber nicht recht klar. Der Fall Fléchambeau schien eine Ausnahme zu sein und zu bleiben, denn man stößt nicht jeden Tag, nicht einmal alle Jahre, auf Leute, die kleiner gemacht zu werden wünschen. Doch das war ohne Bedeutung. Die Anwendung der Entdeckung kam erst in zweiter Linie in Betracht. Die Hauptsache war, daß sie überhaupt gemacht wurde. Das bedeutete Berühmtheit! ... Stolz! ... Lebt wohl, Läuse, Flöhe, Ungeziefer aller Schattierungen, ihr traurigen Parasiten! Nun hatte Saint-Jean-de Nèves einen gefeierten Mann geboren! Und wer weiß, vielleicht erhob sich eines Tages sein Standbild irgendwo, z. B. gegenüber dem Gymnasium oder gar an Stelle der »Republik« mit den großen Ammenbrüsten, deren Statue man mangels weniger allegorischer und mehr persönlicher der Verewigung würdiger Vorwürfe errichtet hatte.

Die Katze, welche die Ereignisse kalt ließen, schlich auf leisen Sohlen umher. Von nun ab mußte sie sich angewöhnen, in einer größeren Welt zu leben und höher zu springen, wollte sie ihr Siestaplätzchen erreichen.

Was Fléchambeau anbelangte, so ging es ihm ähnlich. Noch immer bückte er sich, wenn er durch die niedrige Tür seines Toilettezimmers schritt, obwohl dies jetzt völlig überflüssig geworden war. Sein Rasiermesser genierte ihn wegen dessen Dimensionen. Er handhabte es ungeschickt. Die Pantoffeln verlor er ein dutzendmal täglich. Andrerseits bemerkte er nicht, daß sich seine dünner gewordenen Haare feiner anfühlten, denn seine Finger, die an der allgemeinen Reduzierung seines »Ich« in gleicher Weise teilnahmen, bekamen ein viel delikateres Tastgefühl.

Bei Tisch aß er weniger, schnitt sich kleinere Stücke ab.

Statt wie ehedem vier, genügten jetzt drei Glas Wein, um ihn in behagliche Stimmung zu versetzen. Und wenn er auch den Arm weiter ausstrecken mußte, um die Flasche oder ein Salzfaß zu erreichen, so empfand er dafür die größere Raumweite seines Sessels umso angenehmer, und auch den Umstand, daß er nicht mehr, wie früher, seine Riesenbeine unter dem Tische herumzwängen mußte.

Das Bemerkenswerteste an dem Ganzen war, daß Fléchambeau ohne die geringste Runzel, ohne das kleinste Fältchen im Gesichte hinschwand. Er wurde, alles in allem, in der vollendetsten Weise die kleinere Ausgabe dessen, was er zuvor gewesen war.

Endlich tagte der zehnte Morgen. Die 20 Pillen waren verschluckt. Um 11 Uhr vormittags zeigte der Meßapparat schwach 1,77 m.

Um 8 Uhr abends würde Fléchambeau zweifelsohne nicht mehr als 1,76 m groß sein. Er und Pons waren dann einander gleich.

Der Schneider brachte die umgeänderten Kleider. Hemden-, Hut- und Schuhmacher kramten eine Auswahl der modernsten Artikel ihrer Branche aus. Man traf peinlichst seine Auswahl; ein Paar etwas knappe Schuhe, einen etwas engen Mantel usw., alles vorsichtshalber ½ cm kleiner.

Der schmachtende Liebhaber sang vor gehobener Freude, als er in einem schwarzen Jackett und den rosenholzfarbenen Beinkleidern stak.

Auch Pons zog sich auf das feinste an.

Gegen 5 Uhr, der Schicksalstunde, in der die vierwöchige Frist ablief, umschritten die beiden Freunde den Brunnen der Republik.

Die Hausglocke des Herrn Präsidenten Monempoix glich einer kleinen kreisrunden Zielscheibe. Pons drückte mit der Spitze des Zeigefingers entschlossen auf den Knopf.

»Punkt!« sagte der Doktor.

»Mitten ins Schwarze!« lächelte Fléchambeau selig.


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