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XV.

Carola Schöller saß hinter einem Pfeiler im Erdgeschoß des Cafés Vaterland, von wo aus sie den Eingang genau beobachten konnte. Sie war noch ganz außer Atem, denn sie war gelaufen, aber sie hatte wenigstens die beruhigende Gewißheit, das Ziel eher erreicht zu haben als Peters. Jeden Augenblick mußte er eintreffen. Sie war doch zu gespannt, was diese außergewöhnliche Verabredung zu bedeuten hatte.

Der Kellner trat zu ihr, und sie bestellte eine Tasse Kaffee und ein Stück Torte mit Schlagsahne.

Als sie sich wieder dem Eingang zuwandte, sah sie, daß Peters inzwischen gekommen war und suchend die einzelnen Tische musterte. Sie hatte gerade noch Zeit, aufzustehen und in einer Telephonzelle zu verschwinden. Durch das kleine Fenster beobachtete sie, daß er sich vergeblich im Erdgeschoß umsah und die Treppe zur Galerie hinaufstieg.

Vorsichtig folgte sie ihm und sah, daß er eine hübsche Dame begrüßte, die auffallend gut gekleidet war. Das Gesicht kam ihr bekannt vor, und gleich darauf fiel ihr ein, daß die Frau Berufstänzerin im Granada war! Wie konnte Peters sich so weit vergessen!

Empört und aufgeregt ging sie wieder nach unten an ihren alten Platz. Die beiden saßen an einem Tisch in der Nähe der Brüstung. Carola konnte aber nur Peters von der Seite sehen, wenn sie sich vorbeugte.

Ungeduldig schaute sie nach oben. Wenn sie wenigstens hören könnte, was die zwei sich zu sagen hatten. Es mußte sehr wichtig sein, denn Peters machte ein verzweifelt ernstes Gesicht.

Nach einer kurzen Unterhaltung erhoben sie sich plötzlich. Carola ging wieder in die Telephonzelle und beobachtete von dort aus, daß sie das Café verließen. Dann eilte sie zu ihrem Tisch und wollte zahlen, aber der Kellner war nicht in der Nähe. Schließlich legte sie das Geld auf die Marmorplatte und eilte hinaus.

Peters und seine Begleiterin stiegen gerade in eine Taxe. Sie schaute sich auch nach einem Mietauto um, aber diesmal hatte sie kein Glück und verlor die beiden aus den Augen. Ärgerlich trat sie an einen der Schaukästen, in dem Bilder der Artisten und Tänzerinnen ausgestellt waren. Sie überlegte. Wenn die andere Berufstänzerin im Granada war, mußte sie zum Tanztee dort sein.

Vielleicht gelang es auf die Weise, die verlorene Spur wieder aufzufinden.

Kurz entschlossen fuhr Carola Schöller mit der Untergrundbahn bis zur Uhlandstraße und ging die Fasanenstraße hinauf bis zum Granada-Palast. Unterwegs dachte sie daran, daß sie in ihrem einfachen Kleid auffallen würde, aber sie hatte keine Zeit mehr, nach Hause zu fahren und sich umzuziehen.

Sie wanderte durch alle Räume, konnte aber Peters nicht entdecken. Schließlich setzte sie sich an einen Tisch, von dem sie einen guten Überblick über die Säle hatte.

Ihre Gedanken und Vermutungen beschäftigten sie so stark, daß sie beinahe erschrak, als ein netter Herr sie zum Tanz aufforderte. Er schien sich lebhaft für sie zu interessieren. Während des Tanzes kam Flora mit einem fremden Herrn an ihr vorüber, und mit Befriedigung stellte Carola fest, daß die andere nicht mehr die Jüngste war.

Da weder Marianne und Peters auftauchten und Perqueda nur einen kurzen Augenblick zu sehen war, als er schnell den Tanzpalast verließ, blieb sie nicht bis zum Ende.

Unschlüssig ging sie den Kurfürstendamm in Richtung nach Halensee entlang.

Ob Marianne heute wieder ihren neuen Freund besuchte?

Es war dunkel geworden, als Carola vor Perquedas Haus in der Hubertusallee ankam. Unwillkürlich hatte sie den Weg dorthin eingeschlagen. Die Fenster im ersten Stock waren hell erleuchtet, Perqueda mußte also zu Hause sein. Und wahrscheinlich war Marianne bei ihm.

Einige Male ging Carola vor dem Gartenzaun auf und ab. Schließlich blieb sie bei dem Zeitungsstand stehen und unterhielt sich mit der Verkäuferin.

*

Die Mitteilung Dr. Bergers schlug ein wie eine Bombe.

Marianne sprang auf und stieß einen Schrei aus. Sie wollte zu Perqueda eilen, aber Feurig ahnte, was sie vorhatte, und trat ihr in den Weg.

Kommissar Eisler erhob sich und redete dringend auf sie ein.

»Wir müssen erst den Arzt fragen. Später können Sie Perqueda sehen, aber im Augenblick müssen Sie hierbleiben.«

Auf seinen Wink blieb Feurig bei ihr zurück.

Die beiden Kommissare folgten Dr. Berger ins Arbeitszimmer.

»Das Messer habe ich herausgezogen. Es liegt drüben auf dem Schreibtisch.«

»Was halten Sie denn von seinem Zustand?«

»Die Verwundung ist zu schwer – er wird nicht durchkommen. Ich fürchte, daß der Tod bald eintritt.«

»Glauben Sie nicht, daß er noch einmal zur Besinnung kommt?«

»Das wäre nicht ausgeschlossen – wahrscheinlich kurz vor dem Ende. Aber bitte helfen Sie mir. Wir wollen ihn im Schlafzimmer aufs Bett legen.«

Behutsam trugen die drei den Schwerverletzten hinüber. Vorsichtig öffnete Dr. Berger ihm den Kragen und nahm den Schlips ab.

»Entkleiden können wir ihn nicht – das würde zu große Erschütterungen geben.«

Eisler nickte.

»Ich werde einen der Leute rufen, der ihn dauernd beobachten soll.«

»Ich bleibe bei ihm und lasse Sie sofort verständigen, wenn er zu sich kommen sollte«, erwiderte der Arzt.

Eisler trat ans Bett und betrachtete Perqueda einige Zeit.

»Der richtige Verführer«, wandte er sich an seinen Kollegen.

»Halten Sie es denn für ratsam, daß Fräulein Körber ihn sieht?« fragte Mansfeld.

»Feurig kann sie begleiten, dann passiert nichts. Im Augenblick hat es doch keinen Zweck, sie weiter zu vernehmen.«

Bald darauf saßen sie wieder im Salon. Frau Nüßlein war hereingerufen worden und saß Kommissar Eisler gegenüber. Mansfeld protokollierte.

»Wie lange hat Fräulein Körber bei Ihnen gewohnt?«

»Ach, das arme Kind! Sie ist wirklich vom Unglück verfolgt. Als sie damals zu mir zog, hatte sie gerade ihre Eltern verloren – es war eine sehr traurige Geschichte. Sie sind bei einem Eisenbahnunfall ums Leben gekommen –«

»Das ist gewiß alles sehr betrüblich. Aber seit wann wohnt sie denn bei Ihnen?«

»Warten Sie einmal – das müssen jetzt drei Jahre sein.«

»Hat sie sonst keine näheren Verwandten?«

»Nein. Wie das gewöhnlich dann geht – die sind alle weggestorben.«

»Frau Nüßlein, ich möchte Sie jetzt nach dem Charakter von Fräulein Körber fragen. Aber bitte, antworten Sie mir möglichst sachlich, denn es ist sehr wichtig für die Aufklärung des Falles.«

Die Worte verfehlten ihre Wirkung nicht, und sie bemühte sich, seinen Wunsch zu erfüllen.

»Sie ist im allgemeinen solide, aber sie ist eben jung. Eine gute Bildung hat sie, und außerdem ist sie sehr schön und wird von den Männern umschwärmt. Ich kann nicht über sie klagen. Aber wenn ich offen sein soll: Sie braucht viel Abwechslung. Und wenn sie einem interessanten Mann begegnet, fühlt sie sich von ihm angezogen.«

»Was wissen Sie denn über das Verhältnis von Herrn Peters zu ihr?«

»Sie hat ihn vor etwa vier bis fünf Monaten im Geschäft kennengelernt. Zuerst hat sie mir viel von ihm erzählt, und ich glaubte schon, daß sie endlich den Richtigen gefunden hätte, aber dann kam das Unglück. Dieser Perqueda lief ihr in den Weg – er soll ja unheimlich reich sein. Von dem hat sie sich blenden lassen, und seitdem ist sie aus der Bahn geworfen. Es ist ja wahr, sie verdient viel Geld mit ihrer Tanzkunst, aber seit der Zeit ist wirklich der Teufel los. Sie bekommt viele Briefe und Blumen, aber daraus macht sie sich nichts. Sie schwärmt nur immer von Perqueda. Gestern hat sie sich offenbar mit ihm verlobt, und heute wollte sie mit ihm nach Paris reisen und lange fortbleiben.

»Wissen Sie sonst noch etwas über Herrn Peters?«

»Ja, ich kenne ihn persönlich. Er ist ein netter, ruhiger junger Mann – man kann ihm nur das beste Zeugnis ausstellen. Früher hat er Marianne öfter abgeholt, dann hörte das plötzlich auf. Aber heute war er wieder da.«

»Wann war das?«

»Ich kam um halb sieben nach Hause zurück und sah, daß er aus einer Taxe stieg und auf mich zukam. Weil er so aufgeregt war und so bleich aussah, habe ich ihn nach oben mitgenommen. Er wußte schon, daß Marianne mit Perqueda nach Paris reisen wollte, er glaubte aber, daß sie erst in ein paar Tagen fortfahren würde.«

»Hat er etwas Besonderes bei Ihnen gesagt?«

»Wir gingen in Mariannes Zimmer und fanden dort einen Brief auf ihrem Tisch, in dem sie mir Lebewohl wünschte. Peters war ganz außer sich, als er ihn las.«

»Haben Sie den Brief bei sich?« fragte Mansfeld.

Frau Nüßlein nickte, zog das Schreiben aus ihrer Handtasche und reichte es dem Kommissar. Mansfeld und Eisler lasen den Inhalt zusammen.

»Was machte Herr Peters dann?«

»Er hat am Telephon mit Marianne und Perqueda gesprochen. Aber als er dann wieder zu mir ins Zimmer kam, machte er ein furchtbares Gesicht, so daß ich Angst bekam. Ich wollte ihn zurückhalten, aber er ging auf nichts ein. Er sagte, er müßte zu Perquedas Wohnung und unter allen Umständen diese Reise verhindern. Denken Sie, er war so aufgeregt, daß er sogar seine Brieftasche bei mir auf dem Tisch liegen ließ. Als er gegangen war, hatte ich solche Unruhe und Angst um den jungen Menschen –«

»Was fürchteten Sie denn?«

»In der Verfassung war er zu allem fähig, und ich fürchtete, daß er Perqueda etwas antun könnte. Ich wußte ja, wo Perqueda wohnte, und da ich es nicht mehr zu Hause aushielt, bin ich hierhergefahren.«

»Wann ging er denn von Ihnen fort?«

»Er war höchstens zehn Minuten da – es muß noch vor dreiviertel sieben gewesen sein.«

Oberwachtmeister Feurig trat ein.

»Nun?« fragte Eisler.

»Fräulein Körber hat sich beruhigt. Dr. Berger hat mit ihr gesprochen und ihr Brom gegeben. Jetzt sitzt sie ganz vernünftig im Nebenzimmer.«

Eisler nickte.

»Ich danke Ihnen, das genügt«, wandte er sich dann an Frau Nüßlein. »Wenn wir weitere Fragen an Sie haben, wenden wir uns wieder an Sie. Ach, Feurig, notieren Sie bitte eben noch die Adresse von Frau Nüßlein und ihre Telephonnummer.«

Als sie gegangen war, erhob sich Mansfeld.

»Man soll ja zu Anfang einer Untersuchung noch kein Urteil fällen, aber meiner Meinung nach liegt die Sache vollkommen klar: Peters liebt Fräulein Körber und will sie heiraten. Als er von einem längeren Urlaub zurückkommt, erfährt er, daß sie diesem Perqueda nachläuft, der nicht in bestem Ruf steht und ein ziemlich gefährlicher Charakter ist. Er sucht die beiden im Granada auf, und es kommt zu einer heftigen Auseinandersetzung. Später hört er, daß Perqueda ein Mädchenhändler ist. Man kann es ihm also nicht verdenken, daß ihn eine furchtbare Wut über diesen Menschen packt, der sein Lebensglück zerstört.

Wir haben daher bei Peters ein sehr starkes Motiv für die Tat. Heute wird ihm bekannt, daß Marianne Körber mit dem Mann nach Paris reisen will. Er ist natürlich außer sich, und seine Eifersucht steigt aufs höchste, so daß er die Sache bei der Polizei anzeigt. Von dort fährt er direkt zur Wohnung von Fräulein Körber, um ihr persönlich die drohende Gefahr klarzumachen. Dann findet er den Brief. Seine Aufregung und seine Wut steigern sich dauernd, er fährt um sechs Uhr vierzig hierher, und um sieben sieht Fräulein Körber, daß er aus der Haustür herausstürzt. Gleich darauf wird Perqueda mit einem Dolchstich im Rücken aufgefunden!«

Kommissar Eisler erhob sich und ging im Zimmer auf und ab.

»Nein, so einfach liegt die Sache wohl nicht. Verschiedene Dinge sind noch aufzuklären. Wo ist zum Beispiel das eine Fahrscheinheft geblieben, wenn Fräulein Körber es nicht an sich genommen hat?«

»Das hat natürlich Peters eingesteckt!« erwiderte Mansfeld impulsiv.

»Meinen Sie, daß er fliehen wollte?«

»Warum nicht? Das würde doch ganz in der Linie liegen.«

»Das möchte ich zunächst noch nicht annehmen. Aber auch die Sache mit dem Mädchenhandel steht noch nicht einwandfrei fest. Es ist möglich und wahrscheinlich, aber es kann sich während der Untersuchung auch herausstellen, daß alles auf einem großen Mißverständnis beruht. Vor allem müssen wir diese Madame Perault vernehmen. Fräulein Körber hat doch gesehen, daß sie ins Haus kam.«

»Gewiß müssen wir sie hören, aber soweit ich den Fall überschauen kann, hatte Perqueda nicht die Absicht, sich länger mit ihr zu unterhalten. Jedenfalls muß sie schon fortgewesen sein, als Peters ins Haus kam.«

»Das ist anzunehmen. Wir müssen vor allem mit Peters selbst sprechen. Feurig, rufen Sie doch einmal zwei Leute herein.«

Der Oberwachtmeister verließ den Raum.

»Und dann, mein lieber Mansfeld, vergessen Sie nicht, daß Fräulein Körber sehr erregt ist«, fuhr Eisler fort. »Sie ›glaubt‹, daß sie Hans Peters erkannt hat. Sein Gesicht hat sie nicht gesehen. Nur der graue Mantel, der graue Hut und die Bewegungen sind ihr bekannt vorgekommen. Ich möchte erst noch eine Bestätigung ihrer Aussagen von anderer Seite abwarten.«

Feurig kam mit zwei Kriminalbeamten zurück.

»Ich brauche Herrn Hans Peters, den wir dringend als Zeugen vernehmen müssen«, wandte sich Eisler an die Leute. »Tramm, fahren Sie in seine Wohnung – Wormser Straße zwölf, und holen Sie ihn her. Sollte er nicht zu Hause sein, so rufen Sie hier an, warten aber dort, bis er kommt. Und Sie, Margold, fahren zum Granada und bringen Madame Perault hierher.«

»Peters hat Ihnen doch heute auch erzählt, daß er im Café Vaterland wichtige Aufklärungen über Perqueda von dieser Berufstänzerin im Granada gehört hat. Die könnte Margold doch auch gleich mitbringen?« meinte Mansfeld.

»Nein. Fräulein Hirt hat ihre Aussagen vertraulich gemacht, und um ihrer eigenen Sicherheit willen dürfen wir sie nicht bloßstellen. Wenn Perqueda tatsächlich Frauen ins Ausland verkauft hat, muß er mit vielen Agenten zusammengearbeitet haben. Deshalb ist Vorsicht geboten.«

Als sich die beiden Beamten entfernt hatten, wandte sich Oberwachtmeister Feurig an Kommissar Eisler.

»Der Beamte vor dem Eingang hat eine junge Dame ins Haus gebracht. Sie ist ihm schon seit einiger Zeit aufgefallen, weil sie vor dem Hause auf und ab ging und immer nach den erleuchteten Fenstern sah. Schließlich fing sie eine Unterhaltung mit ihm an, stellte sonderbare Fragen und sprach von Fräulein Körber, Herrn Peters und Herrn Perqueda.«

»Wo ist sie?«

»Unten im Hausflur.«

»Bringen Sie sie herauf.«


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