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XII.

Unwillkürlich stand Marianne auf, sank dann aber wieder auf den Sitz zurück, denn die unvorsichtige Bewegung schmerzte. Verstört schaute sie auf die Gartentür, die sich eben geschlossen hatte.

Auf der Straße herrschte verhältnismäßig wenig Verkehr. Fußgänger kamen nur selten hier vorüber. Aber gerade, als die Uhr sieben schlug, hörte sie ruhige, feste Schritte, die den Gartenzaun entlangkamen. Vor dem Eingang blieb der Betreffende stehen, als ob er die Hausnummer oder das Namensschild suchte. Dann öffnete sich die Tür langsam, und ein Herr trat herein, der ihr unbekannt war, aber einen vertrauenerweckenden Eindruck machte.

»Ach, helfen Sie mir bitte!« rief sie ihm zu.

Sofort wandte er sich zu ihr. Er war ziemlich groß, einfach, aber gut gekleidet, und mochte etwa fünfunddreißig Jahre alt sein.

»Wie kann ich Ihnen denn helfen?« fragte er liebenswürdig.

»Ich bin eben aus dem Fenster gesprungen und habe mir dabei wahrscheinlich den Fuß verstaucht.«

»Aber was hat Sie denn dazu getrieben, aus dem Fenster zu springen? Das ist doch ein etwas gefährlicher Sport!«

»Helfen Sie mir bitte ins Haus. Ich bin in größter Sorge – es muß irgend etwas geschehen sein.«

»Es ist wohl besser, wenn ich mich Ihnen gleich vorstelle: Oberwachtmeister Feurig von der Kriminalpolizei. Ich bin hergekommen, weil hier etwas nicht zu stimmen scheint.«

Marianne erschrak und sah ihn bestürzt an.

»Woher wissen Sie denn das?«

»Darauf kommt es im Augenblick nicht an. Wir sind von dritter Seite verständigt worden, und ich möchte mich hier einmal umschauen. Erzählen Sie mir bitte, was Sie wissen, und schenken Sie mir volles Vertrauen. Sie sind doch Fräulein Körber?«

Es wurde ihr unheimlich zumute.

»Ja. Aber wer hat Ihnen das gesagt?«

»Ich erkenne Sie nach der Beschreibung.«

»Aber ich habe doch nichts getan! Warum beschäftigt sich die Polizei mit mir?«

»Das werden Sie alles noch erfahren. Zunächst sagen Sie mir einmal, wie Sie hierherkommen.«

»Kurz nach sieben wollte ich mit Herrn Perqueda nach Paris fahren.«

»Dann stimmt es also?«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Es ist Anzeige erstattet worden, daß Herr Perqueda Sie entführen und ins Ausland verschleppen will, und es besteht außerdem ein gewisser Verdacht.«

»Das kann kein anderer getan haben als dieser Peters! Der Mann ist maßlos eifersüchtig und hat sich rächen wollen. Ich hätte nie geglaubt, daß er einen so gemeinen Charakter hat. Aber der bildet sich das alles doch nur ein –«

»Das wird die Untersuchung ergeben. Jedenfalls scheine ich ja gerade noch zu rechter Zeit gekommen zu sein, um die Abreise zu verhindern. Aber warum sind Sie eben aus dem Fenster gesprungen? Ich will aber inzwischen einmal Ihren Fuß untersuchen – ich verstehe etwas von erster Hilfe.«

Er bückte sich und betastete ihn.

»Stark geschwollen.«

»Zu Anfang war es viel schlimmer. Ich glaube, es wird schon besser.«

»Ich werde vorläufig mein Taschentuch darum binden, damit der Fuß eine Stütze hat. Währenddessen erzählen Sie mir, was sich hier alles zugetragen hat.«

Marianne schwieg.

»Sie wollten also mit Herrn Perqueda nach Paris fahren?« ermunterte Feurig. »Fangen Sie einmal damit an. Warum wollten Sie denn mit ihm fort?«

Sie überlegte, aber auf diese nüchterne Frage wußte sie kaum eine Antwort. Durchschnittsmenschen konnten ihr Verhältnis zu Perqueda ja auch kaum verstehen.

»Nun? Wollten Sie eine Vergnügungsreise mit ihm machen?«

»Ja – nein – er hat meine Begabung für den Tanz erkannt, und er hat Verbindungen zu ersten Bühnen im Ausland. Er wollte mir ein glänzendes Engagement verschaffen.«

»Haben Sie denn schon einen Vertrag unterschrieben?«

»Nein.«

»Um welche Bühne oder welches Theater handelt es sich denn?«

»Das hat er mir noch nicht gesagt. Die Einzelheiten wollten wir erst auf der Reise besprechen.«

»Und heute abend sollte es nach Paris gehen? Wahrscheinlich mit dem Nordexpreß?«

»Nein. Unser Zug fährt um sieben Uhr einundzwanzig ab.«

»Nun, den erreichen Sie nicht mehr. Sie kamen wohl hierher, um Herrn Perqueda zum Bahnhof abzuholen?«

»Ja.«

»Und gestern haben Sie sich mit ihm verlobt?«

»Es ist doch zu entsetzlich, wie dieser Peters mich verleumdet hat!«

»Lassen Sie Herrn Peters augenblicklich einmal aus dem Spiel und ärgern Sie sich nicht über ihn, sondern erzählen Sie mir, wie alles gekommen ist.«

Sie berichtete kurz ihre Erlebnisse.

»Wir wollen jetzt versuchen, ins Haus zu gehen«, sagte Feurig nachdenklich und faßte sie unter den Arm.

Es ging besser, als sie gedacht hatte.

Die Haustür stand offen, und auf der Treppe brannte Licht. Marianne stützte sich auf das rechte Geländer und legte die linke Hand auf Feurigs Schulter.

Nach einer Weile kamen sie oben in der kleinen Diele an, und sie sank dort erschöpft in einen Korbsessel.

»In dem Zimmer rechts haben Sie gewartet?« fragte er sofort.

Sie nickte.

Er versuchte die Tür – sie war geschlossen, der Schlüssel abgezogen.

»Und hier gegenüber liegt das Arbeitszimmer von Herrn Perqueda, in dem Sie noch kurz vorher mit ihm gesprochen haben? Bleiben Sie ruhig sitzen, ich will mich einmal umsehen.«

»Ich möchte mitgehen«, erklärte Marianne ängstlich und erhob sich, aber dann biß sie sich auf die Unterlippe, da der Fuß wieder schmerzte.

Er faßte in die Tasche und zog einen Bund mit Schlüsseln heraus.

»Bleiben Sie schön sitzen, das ist besser.«

Der dritte Schlüssel, den er probierte, öffnete die Tür zum Wohnzimmer.

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, sagte Feurig. »Kommen Sie hier herein und setzen Sie sich. Oder noch besser, Sie legen sich auf die Couch. Helfen können Sie mir doch nicht, ich komme außerdem bald zurück.«

Er führte sie hin und holte noch ein Kissen aus einem Sessel, um es ihr bequemer zu machen. Dann sah er sich verwundert in dem prachtvoll ausgestatteten Raum um. Diese Einrichtung mußte unheimlich viel gekostet haben.

»Also, versprechen Sie mir, daß Sie liegenbleiben, bis ich wiederkomme.«

Marianne sah ihn mit ihren großen, dunklen Augen besorgt an. Ihr Gesicht war bleich.

»Wenn ich mich besser fühle, komme ich nach.«

»Nein, das gibt es nicht. Sie bleiben hier – versprechen Sie es?« Sein Ton klang plötzlich sehr bestimmt.

»Ja«, erwiderte sie eingeschüchtert.

Feurig ging aus dem Zimmer. In der Diele hielt er kurz an und schaute sich nach allen Seiten um, konnte aber nichts Außergewöhnliches entdecken. Dann stieß er die Tür zum Arbeitszimmer auf, ohne sie mit der Hand zu berühren. Zuerst fiel sein Blick auf die Venusstatue und den Springbrunnen. In dem rötlich-goldenen Licht, das von der Wasserfläche ausstrahlte, schien sie fast zu leben.

Aber dann prallte er zurück, denn vor ihm auf dem Boden lag ein Mann. Vorsichtig näherte er sich ihm, hütete sich aber, ihn zu berühren. Sicher war es Perqueda. Er lag mit dem Gesicht nach unten und hatte die Stirn auf den rechten Arm gelegt, der nach oben ausgestreckt war; der linke zeigte zur Seite. Zwischen den Schulterblättern ragte ein Dolchgriff hervor.

Feurig ging um ihn herum, so daß er auch die linke Gesichtshälfte sehen konnte.

Die Züge waren wachsbleich. Feurig beobachtete ihn einige Zeit, aber der Mann rührte sich nicht. Allem Anschein nach war er tot.

Die Mordkommission mußte sofort verständigt werden.

Feurig ging zum Schreibtisch, aber als er den Hörer vom Apparat abheben wollte, entdeckte er, daß die Zuleitungsschnur durchschnitten war. Es handelte sich also offenbar um ein wohlüberlegtes Verbrechen.

Er ärgerte sich, daß Eisler nicht gleich mitgekommen war. Aber der Kommissar hatte ja versprochen, sobald wie möglich zu folgen. Allein konnte Feurig hier nicht viel anfangen, und es war wichtig, daß die Mordkommission sofort mit den Ermittlungen begann.

Er eilte ins Wohnzimmer hinüber, wo Marianne noch auf der Couch lag. Ängstlich forschend sah sie ihn an. Er hatte Mitleid mit ihr, aber er hielt es für richtig, sie nicht im ungewissen zu lassen.

»Ich habe Ihnen eine traurige Mitteilung zu machen –«

»Was ist mit Herrn Perqueda? Ist ihm etwas zugestoßen?« fragte sie entsetzt und richtete sich auf.

»Ja.«

»Ist er tot?«

»Ja. Er ist ermordet worden.«

Sie starrte ihn an, als ob sie das Ungeheuerliche nicht glauben könnte, dann packte sie ihn wild am Arm.

»Das hat Hans Peters getan!« rief sie außer sich.

»Fräulein Körber, fassen Sie sich. Ihr Schmerz ist verständlich, aber Sie dürfen sich nicht zu solchen Verdächtigungen hinreißen lassen.«

»Ich sah ihn, als ich unten auf der Bank saß – kurz bevor Sie kamen, lief er aus dem Haus und eilte auf die Straße –«

»Das ist allerdings eine wichtige Tatsache. Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt?«

»Ich dachte nicht daran.«

»Ich weiß, wie schrecklich es für Sie sein muß, aber seien Sie jetzt tapfer und helfen Sie mir. Sie haben doch auch das größte Interesse daran, daß der Mord aufgeklärt wird.«

Marianne kam erst jetzt die grauenvolle Nachricht zum Bewußtsein, und sie schluchzte laut auf.

»Ach, das kann doch nicht sein – bitte, lassen Sie mich wenigstens zu ihm –«

»Fräulein Körber, Sie müssen sich jetzt zusammennehmen. Ich kann Sie nicht zu ihm bringen, der Anblick wäre zu furchtbar für Sie. Kommen Sie, helfen Sie mir. Wo sind die Dienstboten?«

Er hoffte, sie durch Fragen abzulenken, und hatte auch Erfolg.

Marianne riß sich zusammen.

»Er wünschte nicht, daß außer ihm jemand hier wohnte.« Zuerst konnte sie nur stockend sprechen, aber allmählich festigte sich ihre Stimme wieder. »Er hat nur einen Chauffeur, der zu gleicher Zeit auch Gärtner und Diener ist. Die Frau hält das Haus in Ordnung und macht morgens das Frühstück. Die beiden wohnen über der Garage. Sie können sie durch das Haustelephon erreichen.«

Feurig war froh, daß Marianne sich etwas beruhigte.

»Der Apparat steht wohl im Arbeitszimmer?«

Sie nickte.

Schnell ging er hinüber und hob den Hörer ab.

»Hier Janowski«, meldete sich eine Frauenstimme.

»Kriminalbeamter Feurig. Schicken Sie Ihren Mann sofort herüber.«

Er hörte, daß die Frau schnell atmete.

»Herr Feurig, er ist nicht zu Hause – aber er hat bestimmt nichts getan –«

»Dann kommen Sie selbst, so schnell Sie können. Es handelt sich nicht um Ihren Mann – Herrn Perqueda ist etwas zugestoßen.«

»Ach, du lieber Gott!«

Feurig ging bis zur Treppe, aber er brauchte nicht lange zu warten. Gleich darauf sah er, daß Frau Janowski durch die Haustür kam. Natürlich war sie aufgeregt, aber sie machte sonst einen ordentlichen, zuverlässigen Eindruck.

»Was ist denn geschehen? Hat er einen Unfall gehabt?«

»Er ist tot.«

Feurig nahm seine Signalpfeife aus der Tasche.

»Sehen Sie zu, daß Sie einen Schutzmann von der Straße holen. Wenn Sie keinen finden, gehen Sie an den Fahrdamm und blasen möglichst stark. Bleiben Sie aber stehen. Es werden dann schon Beamte kommen. Sagen Sie ihnen, daß sie ins Haus Nummer siebenundsiebzig gehen sollen. Nachher warten Sie in Ihrer Wohnung, bis ich Sie rufen lasse. Vor allem erzählen Sie aber niemand, daß Perqueda tot ist, sonst haben wir bald einen Schwarm von Leuten im Garten, die alles kaputt trampeln.«

Feurig ging zu Marianne zurück. Gleich darauf hörte er den schrillen Pfiff einer Alarmpfeife und vermutete, daß Frau Janowski in ihrer Aufregung nicht lange nach einem Polizisten gesucht hatte.

»Kann ich wirklich nicht zu ihm?« fragte Marianne leise und bittend.

»Nein. Einmal würden Sie sich zu sehr aufregen, außerdem muß bis zur Ankunft der Mordkommission alles bleiben, wie es jetzt ist.«

»Wie ist er denn ermordet worden?«

»Der Täter hat ihn von hinten erstochen.«

Sie schauderte zusammen, und wieder traten Tränen in ihre Augen.

»Fräulein Körber, vielleicht können Sie mir noch einige Fragen beantworten. Ich muß auch das Wichtigste aufschreiben. Wie standen Sie denn mit Herrn Peters? Waren Sie früher mit ihm verlobt?«

»Nein. Wir waren nur befreundet. Hätte er sich mir früher erklärt, so hätte ich mich wahrscheinlich mit ihm verlobt. Aber dann machte ich die Bekanntschaft Juan Perquedas, der mich aus den engen Verhältnissen herausbrachte.«

Feurig biß die Lippen zusammen, denn er fühlte, daß es keinen Zweck hatte, sie jetzt aufzuklären und dadurch nur zu verletzen. Ihr Schmerz war aufrichtig, und sie würde ihm als Polizeibeamten kein Wort glauben.

»Sie sagten vorhin, daß Herr Peters eifersüchtig gewesen wäre?«

»Ja, es ist gestern abend deshalb zu einem schweren Auftritt zwischen ihm und Perqueda gekommen.«

Unten wurde die Haustür aufgerissen und wieder zugeschlagen, dann ertönten eilige Schritte auf der Treppe.

Er erhob sich und ging hinaus.

Ein Polizist trat ihm in der Diele entgegen.

Feurig schlug den Rockaufschlag zurück und zeigte seine Erkennungsmarke.

»Polizist Banzer von Revier 171«, erwiderte der Beamte, noch ganz außer Atem.

»Gehen Sie sofort zur nächsten Fernsprechzelle und rufen Sie das Polizeipräsidium an. Lassen Sie sich mit der Kriminalpolizei, Abteilung M, verbinden und melden Sie, daß hier eben ein Mord verübt worden ist. Sagen Sie, daß Oberwachtmeister Feurig bereits anwesend ist. Wenn Sie das erledigt haben, kommen Sie gleich zurück.«

»Jawohl.«


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