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XI.

Als Marianne ins Wohnzimmer trat, leuchteten ihr die glühenden Farben des prachtvollen Gemäldes entgegen, das der Tür gegenüber aufgehängt war und fast bis zur Decke reichte. Es stellte Io dar, der Zeus in der Wolke naht.

Einen Augenblick blieb sie stehen. Das Bild hatte heute symbolische Bedeutung für sie, denn sie fühlte sich als Io, und der Gott, der in strahlender Schönheit aus der Höhe niederstieg, war Juan.

Das Wohnzimmer war mit dem dahinterliegenden Salon durch eine große Schiebetür verbunden. Marianne öffnete sie und drehte in beiden Räumen alle Lichter an. Es war ihr festlich zumute.

Eine Viertelstunde noch, dann würde sie mit Juan zur Bahn fahren! Wie sehr mußte er sie lieben, daß er um ihretwillen diese herrlich eingerichtete Villa verließ. Sehr bald würden sie doch wohl nicht zurückkehren. Auf ihre Frage hatte er zwar nichts Bestimmtes geantwortet, aber sie nahm an, daß mindestens ein Jahr, vielleicht zwei, vergehen würden.

Um sich die Zeit zu verkürzen, stellte sie das Radio an und ließ Tanzmusik spielen.

Leichtbeschwingt wirbelte sie über den weichen, dicken Smyrnateppich, der den Boden bedeckte, dann blickte sie in einen großen Spiegel, hielt an und trat näher. Das Licht der hohen Wandarme zu beiden Seiten fiel voll auf ihre schlanke Gestalt. Glücklich verschränkte sie die Arme hinter dem Kopf. In dem breiten, goldenen Rahmen wirkte ihr Spiegelbild fast wie ein Gemälde.

Es war eine ihrer Schwächen, daß sie gern vor den Spiegel trat und sich selbst bewunderte. Sie war stolz auf ihren geschmeidigen Körper und auf das Ebenmaß ihrer Glieder.

Von jeher hatte sie für Bühne und Film geschwärmt, aber Perqueda hatte ihre Veranlagung zum Tanz erst richtig gefördert. Ohne sein Eingreifen säße sie jetzt noch in dem langweiligen Büro und müßte maschineschreiben.

Plötzlich hörte sie ein Geräusch – es mußte aus der hinteren Ecke des Salons gekommen sein.

Es wurde ihr ein wenig unheimlich zumute, obwohl der Raum hellerleuchtet vor ihr lag. Es hatte geklungen, als ob sich eine Tür geschlossen hätte. Sie ging nach hinten, wo sich eine schmale Tür befand. Wenn man das allerdings nicht wußte, konnte man es nicht ahnen, denn sie war so geschickt ins Paneel eingelassen, daß sie einen Teil der Wanddekoration bildete. Marianne wußte, daß sie in einen schmalen Verbindungsgang zum Schlafzimmer führte. Leise ging sie darauf zu und versuchte zu öffnen, aber im selben Augenblick wurde von innen leise ein Riegel vorgeschoben.

Was sollte das bedeuten? Perqueda würde doch nicht die Tür vor ihr verschließen?

Mehrere Sekunden blieb sie stehen und lauschte. Sie hatte das Gefühl, daß auf der anderen Seite des Paneels jemand stand und den Atem anhielt. Ein leichter Schauder überlief sie, aber dann sagte sie sich, daß die Aufregung über die Abreise sie nervös machte. Als sie einen Blick auf die Armbanduhr warf, erschrak sie.

Sechs Minuten vor sieben!

Perqueda hatte doch gesagt, daß sie spätestens fünf vor sieben zum Bahnhof fahren müßten. War denn diese Madame Perault noch immer bei ihm? Sie wollte ihn daran erinnern, daß es jetzt Zeit wäre, aufzubrechen. Die Radiomusik war ihr unangenehm, und sie stellte den Apparat ab. Als sie aber hinausgehen wollte, fand sie die Tür verschlossen.

Sekundenlang stand sie wie gelähmt. Perqueda konnte das doch nicht getan haben?

Sollte er allein fortgefahren sein? – Nein, das war unmöglich!

Sie rüttelte mit aller Gewalt an der Tür, aber es kam keine Antwort, und nichts rührte sich.

»Juan – Juan!« rief sie laut.

Aber wieder blieb alles ruhig. Sie legte das Ohr an die Tür und lauschte, dann sah sie durch das Schlüsselloch, konnte aber nur die gegenüberliegende Tür erkennen, die zu Perquedas Arbeitszimmer führte und nur angelehnt zu sein schien. Was sollte das heißen?

Aufgeregt trat sie ans vordere Fenster und öffnete es. In dem großen Vorgarten herrschte tiefe Stille, nur auf der Hubertusallee fuhr eine Straßenbahn vorüber.

Die Räume lagen im ersten Stock. Im unteren Geschoß hatte früher der Hausmeister gewohnt, aber Perqueda liebte es nicht, Angestellte im Hause selbst zu haben, deshalb stand es jetzt leer.

An diesem Tag hatte sich schon soviel Ungewöhnliches ereignet, daß sie diesen plötzlichen Wechsel kaum ertragen konnte. Sie mußte zu Juan und sehen, was geschehen war. Vielleicht war er im letzten Augenblick noch zum Granada gerufen worden. Aber dann hätte er sie doch sicher verständigt. Er konnte sie doch nicht einfach einschließen!

Sie kletterte auf das Fensterbrett, aber bis zum Boden waren es über drei Meter. Vielleicht ging es an einer anderen Stelle besser. Sie lief zur Seitenwand, in deren Mitte sich ebenfalls ein Fenster befand, und riß einen Flügel auf. Aber hier war es noch ungünstiger, denn darunter lag der Eingang zum Kellergeschoß und zur Zentralheizung. Nun eilte sie in den Salon zu dem hinteren, dreiteiligen Fenster. Einen Augenblick hielt sie an und sah nach der Tür hinüber, die zum Verbindungsgang führte. Dann ging sie darauf zu und legte das Ohr ans Paneel. Jetzt war alles vollkommen ruhig. Obwohl sie längere Zeit lauschte, hörte sie nichts.

»Hallo, ist dort jemand?« rief sie und klopfte.

Als sie keine Antwort erhielt, trat sie ans Fenster und öffnete es. Hier lag der Rasen noch etwas tiefer als an der Vorderseite, denn das Gelände senkte sich ein wenig. Aber die Hauswand war mit Efeu bewachsen.

Marianne probierte, ob die Ranken hielten. Die einzelnen Triebe waren zwar nicht sehr stark, aber entschlossen schwang sie sich hinaus. Ihre Bewegung war jedoch zu hastig; das Efeu gab nach, und Marianne stürzte ab. Unten schlug sie auf und stöhnte, als sie ein heftiges Stechen im rechten Fuß fühlte. Ein paar Sekunden blieb sie liegen, aber sie erholte sich bald wieder und versuchte aufzustehen. Sie faßte an die Mauer und richtete sich allmählich auf. Als sie aber den rechten Fuß ansetzte, schmerzte er. Sie hinkte zu einer Gartenbank, die nur ein paar Schritte entfernt stand, und setzte sich.

Vorsichtig betastete sie den Fuß, dann bewegte sie ihn langsam. Er tat weh, schien aber nicht gebrochen zu sein. Durch Streichen versuchte sie, den Schmerz zu lindern. Aber plötzlich hielt sie inne, denn über ihr leuchtete ein Fenster auf. Sie schaute hinauf – es war im zweiten Stock. Zuerst wollte sie rufen, aber dann wurde sie ängstlich. Unverwandt sah sie zu dem hellen Rechteck hinauf, aber gleich darauf wurde es wieder dunkel.

Sie wartete noch einige Zeit, dann hatte sie sich so weit erholt, daß sie sich langsam weiterbewegen konnte. Sie ging über den Rasen, aber am nächsten Baum mußte sie wieder anhalten und sich ausruhen. Wieder sah sie, daß im zweiten Stock ein anderes Fenster aufleuchtete.

Sie wußte bestimmt, daß auch oben alles leerstand. Perqueda hatte sich damit begnügt, die Räume des Hauptgeschosses einzurichten.

Wenn sie erst die Vorderfront erreicht hatte, war sie in der Nähe der Straße. Wieder ging sie ein kurzes Stück weiter, aber der Schmerz im Fuß steigerte sich.

Sie biß die Zähne zusammen. Wenn sie doch nur einen Stock gehabt hätte, um sich darauf stützen zu können!

Nach einer weiteren Pause kam sie schließlich an der Vorderseite des Hauses an. Im Arbeitszimmer brannte Licht, aber die Fenster waren geschlossen. Sie war froh, daß eine Bank in der Nähe stand, und setzte sich darauf. Sie hatte nur den einen Wunsch, sich jetzt hinzulegen und zu ruhen.

Einige Zeit hielt sie die Augen geschlossen, aber dann hörte sie ein Geräusch im Haus. Jemand eilte die Treppe herunter, die zur Haustür führte.

Von ihrer Bank aus konnte sie den Weg vom Haus bis zur Gartentür übersehen.

Heftig wurde die Haustür aufgerissen, und ein Mann mit grauem Mantel und grauem Hut stürzte heraus. Marianne sah es deutlich, denn es brannte eine Lampe über dem Eingang.

Der Mann, der zu der Gartentür lief, kam ihr bekannt vor: an dem Mantel und dem Hut glaubte sie Hans Peters zu erkennen.

Starr vor Schrecken wollte sie rufen, aber ihre Stimme versagte.


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