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Das Reich und die Bundesstaaten

Deutschland verleugnet nicht die Entwicklung aus dem alten, einst in 1789 selbständige Stücke und Stückchen zertrümmerten Reiche. Es ist ein bunt zusammengesetztes Land mit seinen 4 Königreichen, 6 Großherzogtümern, 5 Herzogtümern, 7 Fürstentümern, 3 Freistaaten und 1 Reichslande. Aber heute hat ein Königreich das unzweifelhafte Übergewicht des Raumes, der Macht und des Ansehens: Preußen. In den Flächenraum von 540 483 Quadratkilometern des Deutschen Reiches teilen sich die Glieder des Bundesstaats so, daß Preußen 65, Bayern 14, Sachsen 2,8, die 4 übrigen süddeutschen Staaten 10 Prozent einnehmen, in die Bevölkerung so, daß Preußen 60 Prozent, Bayern 11 und die 4 übrigen süddeutschen Staaten 13 Prozent haben. Im Reichstage sitzen unter 397 Mitgliedern 236 Preußen, 103 Süddeutsche und 58 Mitteldeutsche.

Die Form des Reiches ist die eines konstitutionellen Bundesstaats unter der Oberleitung des Deutschen Kaisers, dessen Würde erblich in der Krone Preußens ist. Der Kaiser hat die vollziehende Gewalt, das Recht, Verträge zu schließen, Krieg zu erklären und Gesandte zu beglaubigen. Die Gesetzgebung über Streitkräfte, Finanzen, Verkehr, Heimatwesen und Rechtswesen steht beim Bundesrat, von dessen 58 durch die Oberhäupter der Einzelstaaten ernannten Mitgliedern 17 von Preußen, 6 von Bayern, je 4 von Sachsen und Württemberg, je 3 von Baden und Hessen, je 2 von Mecklenburg-Schwerin und Braunschweig, je 1 von allen übrigen Bundesstaaten ernannt werden.

In der Lage der selbständigen politischen Gebiete Deutschlands erkennen wir zuerst die Dreiteilung in Nord-, Süd- und Mitteldeutschland wieder, denn Norddeutschland wird großenteils von Preußen eingenommen, während in Süddeutschland Bayern das Übergewicht über die drei andern Mittelstaaten hat, und Mitteldeutschland das eigentliche Land der Mittel- und Kleinstaaten ist. Zugleich geht aber auch durch diese Lagerung wieder der große Gegensatz zwischen dem Südwesten, wo die größte politische und Stammesverschiedenartigkeit herrscht, und dem von der mittlern Elbe an einförmig preußischen Nordosten. Die beiden Mecklenburg, Oldenburg und die drei Hansestädte zeigen, daß auch in Deutschland die Küste selbständige Staatengebilde begünstigt. Sehr bezeichnend ist es, daß zwar norddeutsche Staaten Besitzungen in Süddeutschland, aber kein süddeutscher Besitzungen in Norddeutschland hat. Selbst in kleinern Verschiebungen, wie sie 1866 Bayern und Hessen an der Rhön und in Oberhessen erlitten haben, lag die Zurückdrängung nach Süden. Preußen ist ein norddeutscher Großstaat. Ehe es der Grund- und Eckstein des Deutschen Reiches wurde, hat es dieselbe Aufgabe noch entschiedner im Norddeutschen Bunde gelöst. Mit seiner Masse liegt es nördlich vom 51. Grad, greift aber im Osten mit Oberschlesien und im Westen mit dem südlichsten Teil der Rheinprovinz (R.-B. Trier) über den 50. Grad hinaus. Über den Thüringer Wald greift es außerdem mit einigen Exklaven hinüber. Mit dem südlichen Schlesien und den beiden südwestlichen Provinzen Rheinprovinz und Hessen-Nassau flankiert es also das mittlere Deutschland und nimmt einen so großen Teil davon ein, daß es treffend doch nur als ein nord- und mitteldeutscher Staat bezeichnet werden kann.

Preußen ist in Süddeutschland nicht nur durch die hohenzollernschen Lande vertreten; es übt vielmehr einen großen Einfluß auf die Regierung des Reichslandes Elsaß-Lothringen, das vom König von Preußen als dem Deutschen Kaiser verwaltet wird. Ferner hat Preußen die Leitung des Heerwesens und das Reich die Verwaltung des Post- und Telegraphenwesens in Baden, und das Reich übt auch einen bestimmenden Einfluß auf das Heerwesen Württembergs und Bayerns.

Volksgebiet und Staatsgebiet

Der deutsche Politiker muß immer, wenn er Gewinn und Verlust seines Volkes schätzen will, zwei Bilanzen ziehen: die des Staats und die des Volkstums. Unsre politischen Grenzen sind seit bald einem Menschenalter unverrückt geblieben und werden wahrscheinlich noch länger so bleiben. Die Grenzen unsers Volkstums dagegen schwanken von einem Tag zum andern. Die Kraft des Reiches läßt sich wenigstens an einigen allgemein angenommenen Maßstäben schätzen, wie Volkszahl, Heer und Flotte, Reichtum, Finanzen. Das ist aber noch nicht die Kraft des deutschen Volkes. Um diese zu schätzen, gibt es keine so einfachen Mittel. Dazu gehören tiefe Einblicke in die Beziehungen der Deutschen zu allen ihren Nachbarvölkern. Daher die verwirrende Vielseitigkeit unsrer nationalen Probleme, die von den Flamen im französischen Norddepartement bis zu den Deutschen an der Wolga und von den Deutschen an der dänischen und friesischen Grenze in Schleswig bis zu den Sprachinseln von Gottschee und Görz reichen. Hier gehn uns Deutsche als Einzelne durch Sprach-, selbst Namenwechsel verloren, dort schreitet das Deutsche als wirtschaftlicher oder geistiger Einfluß vorwärts, der Einzelnen aus dem fremden Volk die deutsche Sprache aufzwingt. In der Lage der Deutschen in Mitteleuropa ist es gegeben, daß sie bereit sein müssen, fremde Elemente in sich aufzunehmen, ohne daß diese fremd bleiben, und ohne daß durch ihr Fremdtum die alten Volkseigenschaften angegriffen werden. Diese Aufgabe des deutschen Volkes entspricht ganz der in derselben Lage gegebnen Aufgabe des deutschen Staats (s. o. S. 18). Aber beide Aufgaben decken sich nicht.

Die Staatsgrenzen

Von allen großen Ländern Europas ist das Deutsche Reich das am wenigsten natürlich abgesonderte und abgegrenzte. Wenn wir es mit Großbritannien, dem meerumflossenen Insellande, vergleichen, mit Italien und Spanien, den Halbinselländern, deren Rücken die Hochgebirge der Alpen und Pyrenäen decken, mit Frankreich, das wie ein breiter Isthmus zwischen Mittelmeer, Atlantischem Ozean und Nordsee liegt, so beschleicht uns ein Gefühl des Neides. Wir fühlen uns zurückgesetzt. Unsre Grenzen sind auch im Verhältnis zu der umschlossenen Fläche zu lang: 6200 Kilometer mißt die Peripherie des Deutschen Reiches. Das kommt von den vielen großen und kleinen Aus- und Einbuchtungen der Grenzlinie, besonders im Osten und Süden. Nur Österreich ist ähnlich schlecht mit Grenzen von der Natur ausgestattet, und ein tiefrer Grund der Anlehnung beider Mächte aneinander darf auch hierin gesehen werden. Nur die Grenze, die das Reich nach den siegreichen Kriegen gegen Frankreich selbst gezogen hat, kann als gut gelten. Auch der dänische Krieg hat unsre Landgrenze verkürzt und unsre Küste verlängert. Und die Küste bleibt ja immer die beste aller Grenzen.

Die ältern Grenzen Deutschlands tragen dagegen alle die Merkmale der zerfahrnen, zersplitterten, verlustreichen Entwicklung Deutschlands vor 1815. Noch im Wiener Frieden hat Preußen statt der Weichsel- die Prosnalinie und die schlechteste aller Grenzen im Nordwesten erhalten, die Deutschland in sichtbarer Entfernung von der schiffbaren Maas hält. Die beschämende Unempfindlichkeit gegen schlechte Grenzen, die Deutschland im Zustande des politischen Zerfalles zeigt, hat heute aufgehört. Aber die alten Fehler sind nicht so leicht gutzumachen. Ich erinnere an das Zurückfallen der deutschen Grenze von den Wasserscheiden im Erzgebirge, im Böhmerwald, in den Alpen, an die schweizerischen Gebiete von Schaffhausen und Basel auf dem rechten Rheinufer. Die größten Mängel der deutschen Grenze sind auch leider die unverbesserlichsten: der böhmische Keil und der polnische Bogen, beide mit Millionen slawischer Bewohner gegen Deutschland vorschwellend.

Deutschlands Grenzen sind auch im Kulturwert ungemein verschieden. Im eigentlichen Europa kann man ja niemals die Geschichte der Kultur, der Wirtschaft, der geistigen Strömungen für ein einzelnes Land, sondern nur für Italien, Frankreich, England, Deutschland, teilweise auch Spanien gemeinsam schreiben. Für jedes einzelne war es ein Glück, dieser Gemeinschaft anzugehören, die politisch, sprachlich, konfessionell getrennt ist, aber gemeinsame Ideale von Kultur, von Menschlichkeit entwickelt hat und mit einem Stolz hochhält, der über den Nationalstolz hinausgeht. Es liegt auf der Hand, daß es ein Unterschied ist, ob ich mitten in dieser Gemeinschaft lebe, wie Frankreich, oder mich nur mit einer Seite an sie anlehnen darf und so an der andern den Luftzug eines rauhern, noch nicht so gereiften, noch nicht gemilderten Volkslebens empfinde. So ist die Stellung Deutschlands und Österreichs. Die deutsch-russische Grenze ist nicht die Grenze zweier Staaten, sondern zweier Welten. Dieser Unterschied bringt sich schon im Verkehrsleben zur Geltung; er bewirkt aber auch, daß wir uns geistig im Osten vor einer kalten Wand fühlen.

Die Verbreitung der Deutschen und die Ausbreitung des Reiches

Von der deutschen überseeischen Auswanderung geht der weitaus größte Teil nach Nordamerika und besonders nach den Vereinigten Staaten von Amerika. In dem Jahrzehnt 1894/1904, das sich durch hohen wirtschaftlichen Aufschwung Deutschlands auszeichnet, gingen von 280 000 deutschen Auswanderern Daß die Auswanderungsstatistik im allgemeinen zu geringe Zahlen ergibt, ist bei der Unmöglichkeit einer strengen Kontrolle selbstverständlich. Wir werden wohl annehmen dürfen, daß in diesem Jahrzehnt gegen ? Million Deutsche ausgewandert sind. dahin 246 000, nach Brasilien 7700, nach Kanada und dem übrigen Amerika 11 500, nach Afrika 5600, nach Australien 1600, nach Asien 830. Nach Nordamerika geht hauptsächlich die süddeutsche und die ostdeutsche, nach den übrigen Ländern mehr die Auswanderung aus dem Nordwesten und den Hansestädten. Für die Auswanderung nach Rußland liegen nur Schätzungen vor, die für die Jahre 1857 bis 1878 die Zahl von 685 000 erreichen, die eine sehr große Zahl einfacher Reisender einschließen dürfte. Während sich die ältere deutsche Auswanderung, sowohl die kontinentale nach Rußland und Ungarn als die überseeische, hauptsächlich aus Süddeutschland, besonders Baden, Württemberg und der Pfalz, rekrutiert hatte, und dieses Übergewicht noch in den fünfziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts andauerte, sind seit Jahren die deutschen Ostseeländer die Hauptquelle der überseeischen Auswanderung.

Dieser Auswanderung danken wir eine Verbreitung der deutschen Sprache in allen Einwanderungsgebieten der Erde. Die Zahl der dort deutschsprechenden ist bei der Schnelligkeit nicht zu bestimmen, womit viele Deutsche ihre Muttersprache ablegen. Doch nimmt man für die Vereinigten Staaten von Amerika sechs bis sieben Millionen, für Kanada 300 000, für Südbrasilien 250 000 Deutschsprechende an. In der weiten Verbreitung der Deutschen wird immer eine Quelle deutschen Einflusses über die Erde hin zu suchen sein. Kein kontinentales Land in Europa hat eine so starke und stetige Auswanderung wie Deutschland. Von 1821 bis heute sind ungefähr sieben Millionen Deutsche nach überseeischen Ländern gezogen. Nur Großbritannien und Irland, die in demselben Zeitraum dreizehn Millionen aussandten, übertreffen darin Deutschland. Während aber Irland durch die Auswanderung entvölkert wurde, ist Deutschland mit am raschesten unter den europäischen Ländern gewachsen, denn seine Auswanderung ist im Vergleich zur Volkszahl nicht groß und seit 1893 vorübergehend im Sinken. Wenn in Irland von 100 000 Einwohnern zwölf den Wanderstab ergriffen, so gab es in Deutschland nur zwei in der gleichen Menge, die die Gefahren und Nöte der Wanderung auf sich nahmen und das alte Wort: »Bleibe im Lande« vergaßen. Noch immer kann in Deutschland eine größere Volkszunahme stattfinden. Wie anders in Frankreich, wo das Wachstum der Bevölkerung nahezu still steht und die Auswanderung doch nur ein Vierzigstel von der deutschen beträgt.

Einst ergoß Deutschland den Überfluß seiner Bevölkerung einfach wie dem natürlichen Gefäll folgend nach Osten. Was jenseits der Saale und der Elbe deutsch ist, wurde wesentlich dadurch gewonnen. Heute ist Deutschland mit einer absolut großen, an Dichtigkeit über die aller seiner Nachbarn außer Belgien und den Niederlanden hinausgewachsnen Bevölkerung zwischen Länder eingekeilt, die alle schon so bevölkert sind, daß sie keine starke Zuwanderung mehr aufnehmen können. Übrigens würde die deutsche Einwanderung heute auch aus politischen Gründen abgelehnt werden, wo sie früher, wie in Rußland, willkommen geheißen wurde. Deutschland ist also vor die Notwendigkeit gestellt, sich den freien Zugang in die Kolonialländer der gemäßigten Zone offen zu halten, wo es noch genug Länder gibt, deren Bevölkerung dünn im Vergleich zu der Deutschlands ist. Ist doch Neuseeland siebzigmal, die brasilianische Provinz Sa. Caterina dreißigmal so dünn bevölkert. Diese Forderung, die ganz unabhängig von der gegenwärtigen und jeweiligen politischen Konstellation, von kühnen Plänen und ängstlichen Erwägungen ist, sich vielmehr als eine Forderung der Natur des Volkskörpers, vergleichbar dem Hunger und Durst, hinstellt, wird immer mehr eine Hauptaufgabe der deutschen Politik werden.

Die Auswanderung und der überseeische Handel haben Deutschland auf die Bahn der Kolonisation geführt, die aber bei dem offenbaren Mangel politisch besetzbaren Bodens in der gemäßigten Zone zunächst nur der freiern Betätigung einzelner oder kleiner Gruppen, nicht den Massen zugute kommen konnte. In Togo hat sich Deutschland in Oberguinea zwischen die ältern Niederlassungen Englands und Frankreichs eingeschoben, zwischen beide auch in Kamerun. Togo liegt vor dem produktenreichen Haussaland, im fruchtbaren Voltabecken. Kamerun hat das günstigere Geschick gehabt, sich bis gegen den Tsadsee und Schari ausdehnen zu können, sodaß diese Kolonie nun bis in das Herz des zentralen Sudan hineinreicht. Deutsch-Südwestafrika nimmt den größten Teil der atlantischen Seite Südafrikas ein und hat im Nordosten eine Verlängerung bis zum Sambesi. Es scheint bestimmt zu sein, ein großes Viehzuchtgebiet zu werden, und wird sich mit der Zeit mit einer deutschen Bevölkerung auch dann besiedeln, wenn sich die großen Hoffnungen auf reiche Gold- und große Kupfererzlager nicht verwirklichen werden. Deutsch-Ostafrika bietet auf dem dreifachen Raume Deutschlands wenig guten Boden in der Nähe der Küste; seine zukunftsreichsten Gebiete liegen weit im Innern nach den großen Seen zu. Sie werden erst in Jahren erschlossen werden. Europäer in größerer Zahl werden sich nur in weniger hochgelegnen Strichen ansiedeln können. In Neuguinea, im Bismarckarchipel und auf einem Teil der Salomonsinseln haben wir Boden für tropische Plantagenwirtschaft gewonnen und im Marschallarchipel einen Stützpunkt des pazifischen Inselhandels. Seit 1899 hat das Deutsche Reich die Hauptinseln der Samoagruppe mit Ausnahme von Tutuila durch das deutsch-englisch-amerikanische Abkommen erworben, nachdem es vorher mit England und den Vereinigten Staaten von Amerika gemeinsam den Schutz über die Inselgruppe ausgeübt hatte. In China hat es in Tientsin und Hankau eignen Boden für deutsche Konsulate, Kaufhäuser und Quartiere erworben; und durch die Pachtung eines Gebiets von 500 Quadratkilometern um die Kiautschoubucht wird die Halbinsel Schantung deutschem Einfluß unterworfen, der sich vielleicht einst tiefer hinein ins Becken des Hoangho ausbreiten wird.

Aus der deutschen Auswanderung, worunter wir die körperliche Wanderung von Land zu Land und die geistige Umfassung der Welt verstehn, aus der Erstarkung des deutschen Handels, der wieder in die vorderste Reihe getreten ist (s. u. S. 329), und der Handelsflotte mußte der deutschen Staatskunst ein weltpolitischer Zug zuwachsen. Es mußte so kommen, daß endlich auch die Deutschen, als zeitlich drittes in der Reihe germanischer Völker Europas, dieselbe Bahn beschritten, die seit dreihundert Jahren Holländer und Engländer eröffnet hatten: die Bahn der kühnen Seefahrt über die ganze Erde hin, die Bahn der nachhaltigen Kolonisation begründet auf eine zahlreiche Auswanderung, die familienweis geschieht. Die geographische Lage des Landes und die Begabung des Volkes drängten darauf hin. Die Romanen hatten schon gezeigt, was sie können, die Russen hatten sich nach Osten gewandt. Die Deutschen (und Italiener) hatten sich noch zu erproben. In solchen Dingen leitet nicht die verstandesmäßige Überlegung und Berechnung, sondern eine Art nationalen Instinkts für das geschichtlich Gebotne, Notwendige.

Auch hier wie in dem Fortschreiten der Deutschen zur politischen Einheit und Machtstellung wiederholte es sich, daß geistig langsam vorbereitet wurde, was stofflich sich verwirklichen mußte. Deutschland stand auch an geistiger Umfassung der ganzen Erde seit zwei Menschenaltern allen andern Völkern Europas in einigen Beziehungen voran, in andern wurde es nur von Großbritannien übertroffen. Aus Deutschland ging die wissenschaftliche Erdkunde hervor, in Deutschland hat man für Literatur und Kunst aller Völker den Sinn offen behalten, Deutschland zeichnet seit langem die besten Karten und liest die meisten Reisebeschreibungen. Bis eine deutsche Reisebeschreibung ins Englische übertragen wird, werden zehn englische ins Deutsche übertragen und außerdem noch englische in Deutschland gedruckt. Schon vor hundert Jahren hatte Deutschland die beste geographische Zeitschrift. Die Kenntnis moderner Sprachen ist nirgends so verbreitet. Die praktischen Konsequenzen dieses Weltbürgertums der Bildung haben sich zuerst auf dem wirtschaftlichen Boden entwickelt und mußten dann notwendig auch in den politischen Fragen einen weitern Blick zur Geltung bringen.

Trotz seiner jungen Kolonien, seiner Auswanderung und seines großen überseeischen Handels bleibt aber Deutschland mit seiner Lage im Herzen des Erdteils eine wesentlich europäische Macht, während Englands Stellung auch in und zu Europa selbst nicht ohne die Berücksichtigung Indiens zu verstehn ist, und das europäische Rußland sich immer enger mit Russisch-Asien zusammenschmilzt. Wenn für Deutschlands Bevölkerungsüberfluß außereuropäische Betätigung notwendig ist, so bleibt doch für Deutschlands Zukunft eine Dorfgemarkung in Europa wichtiger als ein Sultanat in Afrika. Deutschland wird seine durch die Staatskräfte und die Lage unter den Staaten des europäischen Kontinents vorgeschriebne Aufgabe zwischen Weltmächten im Osten und Westen, die den Raum von Europa beanspruchen, zunächst in der Zusammenfassung und Sicherung der Kräfte Mitteleuropas zu erkennen haben.

Einige politische Charakterzüge der Deutschen

Nennen wir den politischen Charakter eines Volkes die Anlagen, die dem Leben des Staates seine besondern Richtungen geben, so müssen wir bei den Deutschen den Sinn für die Selbständigkeit der Einzelnen, Familien und Gemeinden vor allem betonen. Er tritt im Wohnen und Arbeiten, im geistigen und wirtschaftlichen Schaffen ebenso hervor wie in der Verfassung der Gemeinden und Staatswesen. Er fiel den Römern auf, als sie der Germanen zuerst ansichtig wurden, und wir erstaunen über die Lebenskraft, mit der er sich in einer von ausgleichenden und großräumigen Strömungen beherrschten Zeit behauptet. Er nennt sich Freiheit. Diese deutsche Freiheit ist etwas ganz andres als die französische, sie ist auch nicht genau so wie die englische, mit der sie nächstverwandt ist. Von Gleichheit will sie gar nichts wissen, und dem Staat gesteht sie nur das Notdürftigste zu. Wenn dieser Selbständigkeitssinn in Deutschland, in den Niederlanden und in der Schweiz die politische Zersplitterung mit hervorrufen half, hat er sich bekanntlich immer gern auf die alte deutsche Freiheit berufen. Derselbe Sinn trägt auch die Schuld an der religiösen Zerklüftung der Deutschen, die sich wiederum an der politischen genährt hat. Die politische Schädlichkeit des übertriebnen Selbständigkeitsgefühls zeigt sich auch in den Kolonien, die überall durch die Vorliebe der Deutschen für den Ackerbau, durch Fleiß, Ordnung und Sauberkeit ausgezeichnet sind, aber durch den Mangel an freierm politischem Blick gehemmt werden. Die Deutschen in Siebenbürgen, an der Wolga und im Kaukasus, in Südafrika, Nordamerika und Südbrasilien haben wirtschaftlich blühende Bauernschaften, zum Teil auch ein kräftiges Bürgertum entwickelt, aber sie sind entweder nicht politisch selbständig geworden oder haben ihre staatliche Selbständigkeit wieder eingebüßt. Auch die Ausbreitung der Deutschen über ihr geschlossenes Gebiet hinaus hat unter der angestammten Neigung zum Stammes-, Gemeinden-, Familien- und Sektenpartikularismus gelitten.

Der viel beklagte Mangel an Nationalsinn hat ebenfalls darin seine Wurzel. Allerdings verstärkt ihn die geographische Lage mit ihren vielfältigen Völkerberührungen, die einem insular geschlossenen Nationalbewußtsein immer entgegenwirken werden. Aber auch der echt germanische Sinn für alles Gegenständliche, trete er nun als Natur- und Wandersinn, als Forschungslust oder als Teilnahme an fremder Sprache und fremdem Volkstum auf, hat bei den Deutschen sehr häufig eine antinationale Richtung angenommen, und die Deutschen werden vielleicht immer mit der Tatsache rechnen müssen, daß sie in fremdem Volkstum ihre nationale Eigenart schneller aufgeben als andre Völker. Das deutsche Volk ist noch nicht lange genug geeinigt, um eine so sichere, abgeschlossene Vorstellung von seinem Lande zu haben wie der Engländer von seiner »meerumschlungnen Insel«, der Franzose von seinem »schönen Frankreich«. Der einzelne Deutsche hat zunächst nur ein Verhältnis zu seinem Land oder Ländchen; das braucht aber beim Altbayern nicht bis nach Franken und beim Preußen nicht über die Elbe westwärts zu reichen und braucht selbst beim Hamburger noch nicht mehr als die 400 Quadratkilometer hamburgisches Gebiet zu umfassen. Der Lokalpatriotismus in allen Abstufungen und Farben wird dem größern Patriotismus für das ganze Reich noch lange abträglich sein.

Daher wäre es auch aus politischen Gründen so wünschenswert, daß der Deutsche mit Liebe das ganze Deutschland umfasse. Gerade weil es nicht zu den Ländern gehört, die eine einzige hervorstechende Eigenschaft für sich haben, sei es die Raumgröße oder die Gunst der Lage oder ein herrliches Klima, will Deutschland gut gekannt sein. Seine Macht hängt mehr als bei Rußland, England oder Frankreich von dem Gebrauch ab, den sein Volk von dem macht, was die Natur ihm verliehen hat. Wir müssen wissen: unser Land ist nicht das größte, nicht das fruchtbarste, nicht das sonnig heiterste Europas. Aber es ist groß genug für ein Volk, das entschlossen ist, nichts davon zu verlieren; es ist reich genug, ausdauernde Arbeit zu lohnen; es ist schön genug, Liebe und treuste Anhänglichkeit zu verdienen; es ist mit Einem Worte ein Land, worin ein tüchtiges Volk große und glückliche Geschicke vollenden kann; vorausgesetzt, daß es sich und sein Land zusammenhält.

Der deutsche Sinn für Familie und Haus ist einer der wichtigsten Grundzüge des Nationalcharakters; er spricht sich im Hausbau, in der Wohnweise und in der Lage der Siedelungen äußerlich aus. Viel tiefer aber reicht sein stärkender Einfluß auf die Kolonisationsfähigkeit, und noch wichtiger wurde er als eine Lebenskraft, die die Erneuerung der Nation aus dem tiefsten Innern heraus nach schweren Schlägen immer wieder in fast wunderbarer Weise gelingen ließ. Seine Kehrseite ist das Pfahlbürgertum und Philistertum, die besonders in jenen traurigen Zeiten allgemeiner Schwächung und Verarmung mächtig geworden sind, in denen sich die Nation von allen öffentlichen Aufgaben zurückgezogen hatte, um langsam Behagen und Wohlstand wieder aufzubauen und zusammenzusparen. Daher die merkwürdige Erscheinung, daß sich der Deutsche in kleinen Gemeindewesen als ein Bürger voll Gemeinsinn erweist und sich zugleich den Aufgaben eines größern Staates verschließt, daß die Enkel der Gründer blühender Bürger- und Bauernstaaten alle staatlichen Leistungen den »Staatsdienern« überlassen. Wie Nesseln im Schutt sind in dieser Zeit Neid und Mißgunst, Kleinlichkeit und Geiz gegenüber öffentlichen Forderungen emporgewuchert. In dieses Kapitel gehört auch die Abneigung der deutschen Frau, ihre Aufgabe anderswo als im Hause und am eignen Herd zu suchen. Es ist aber nicht zu verkennen, daß in dieser Tugend des Nachinnengewandtseins der großen Hälfte der Nation auch eine politische Schwäche liegt, die man erst recht erkennt, wenn man die Mitarbeit der angelsächsischen und slawischen Frau bei nationalen Aufgaben betrachtet.

Der Haus- und Heimatssinn ist ein germanisches Erbgut. Er wurzelt in der dem Aussichherausgehen abgeneigten Anlage. Doch ist er nirgends so stark entwickelt wie beim Deutschen, bei dem noch die Liebe zur Scholle hinzukommt, die von großer geschichtlicher Bedeutung durch die ausgesprochne Neigung zum Ackerbau geworden ist. Der Deutsche ist in dem ihm zusagenden Klima der beste Ackerbaukolonist. Nirgends erkennt man das besser als in den jüngsten Gebieten der Vereinigten Staaten und Kanadas, wo er im Wettbewerb mit Engländern, Schotten, Iren und Franzosen am festesten an der Scholle hält, den größten Erfolg in der Landwirtschaft erzielt und die geringste Neigung zeigt, am Zuge zur Stadt teilzunehmen. Wie sehr diese Eigenschaften die vorhin erwähnte Einseitigkeit der deutschen Bauernkolonisation verstärken, ist überall sichtbar, wo Deutsche in größerer Zahl kolonisiert haben. Der abgeschlossene Bauer rheinfränkischen Stammes in Pennsylvanien macht heute den Eindruck des Versteinertseins, gerade wie der südafrikanische Bur.

Der emsige Fleiß bei häuslicher Arbeit, das Wohlbehagen in schützenden Genossenschaften und Zünften, die eng damit verknüpfte Pflege der Poesie der Arbeit hängen mit diesem Zuge zusammen; aber auch die Genügsamkeit, die sich eher zu Hungerlöhnen herabdrücken ließ, als daß sie die Heimat verlassen hätte, und das verhängnisvoll späte Einsetzen einer starken, kolonisationskräftigen Auswanderung, die trotz des hinaustreibenden Elends des Dreißigjährigen Krieges erst lange hinter der spanischen, französischen, englischen und holländischen Auswanderung kam und in den von frühern Kolonisten leergelassenen Lücken geduldete Plätze suchen mußte.

Solange die Deutschen bekannt sind, werden sie als ein kriegerisches Volk betrachtet, d. h. sie sind den andern Völkern durch Mut, Ausdauer und die Fähigkeit überlegen, sich im Kriege ebenso entschieden unterzuordnen, wie sie sich im Frieden selbständig behaupten möchten. Die Römer haben diese Eigenschaften zuerst an ihnen erfahren. Aber auch die Militärmächte der mittlern Zeit und zum größten Teil auch der neuern sind deutschen Ursprungs. Wenn diese Gaben ausschließlich zum Besten Deutschlands verwertet worden wären, würde Deutschland die größte Macht des Kontinents gewesen sein; statt dessen haben sich die Nachbarn der kriegerischen Fähigkeiten der Deutschen zu bedienen gewußt, und diese sich selbst in endlosen Bürgerkriegen zerfleischt. Roheit und Zerstörungslust, die Begleiter des Krieges, haben manche Schatten auf die glänzenden Leistungen der altgermanischen Krieger und der Landsknechte geworfen; aber zwecklose Grausamkeit liegt dem Deutschen fern. Das zeigt auch sein Verhältnis zur Tierwelt. In den letzten Jahrhunderten hat gerade in den deutschen Heeren die Mannszucht die höchste Ausbildung erreicht.

Von den Charakterverschiedenheiten der deutschen Stämme möchten wir nur die betonen, die sich offenkundig im Laufe der Geschichte der Deutschen herausgebildet haben. Konnten doch die Charaktereigenschaften noch weniger als die körperlichen in dieser Lage und bei einer so bewegten Geschichte unverändert bleiben. Im allgemeinen sind wohl die, die sich in der Geschichte als die eigentlich germanischen erwiesen haben, auch heute noch in Deutschland dort am reinsten zu finden, wo sich auch die körperlichen Merkmale der germanischen Rasse erhalten haben. Die Selbständigkeit des Einzelnen und der Gemeinden sind im Nordwesten und im Süden am deutlichsten ausgeprägt. Die Niedersachsen, Altbayern, Schwaben und Alemannen sind die an »Persönlichkeiten« reichsten Stämme der Deutschen. Daß sich größere Staatenbünde von republikanischer Form nur in den Niederlanden und in der Schweiz erhalten konnten, ist nicht bloß in der Anlehnung an die freie Natur des Meeres und des Hochgebirges, sondern auch in der germanischen Freiheitsliebe der Niederfranken und Alemannen begründet. Das erkennt man am besten durch den Vergleich mit der Entwicklung der benachbarten wallonischen und französischen Gebiete. Es ist dagegen kein Zufall, daß sich die am festesten monarchisch zusammengefaßten Gebiete dort ausgebildet haben, wo sich die Deutschen am meisten mit Slawen gemischt haben, in Preußen und Österreich. Wie die slawisch gemischten Ostdeutschen schon äußerlich durch eine viel größere Gleichmäßigkeit des Körper- und Gesichtbaues ausgezeichnet sind, zeigt sich auch in diesem Gebiet eine weniger starke Ausbildung des Selbständigkeitsgefühls. Es mag in den unterworfnen Slawenstämmen zum Teil erstickt worden sein, aber es ist in der slawischen Geschichte überhaupt nicht so lebendig wie in der deutschen, am wenigsten dort, wo die mongolische Rassenmischung so tief eingegriffen hat wie bei den Nordslawen. Jedenfalls hat aber die slawische Mischung auf die Deutschen nicht überall gleich gewirkt. Abgesehen davon, daß einzelne slawische Gebiete vor der Germanisation so entvölkert waren, daß sich die Deutschen fast rein darin erhalten haben, wie in Mecklenburg und im östlichen Holstein, sind auch die Slawen unter sich weit verschieden. Und so haben die leicht beweglichen Polen, deren Charakter uns an die alten Keltensitze in den Karpaten erinnert, weichere, beweglichere Mischvölker erzeugt als die härtern, zähern Tschechen.

Auch der dunkle Alemanne und Schwabe Südwestdeutschlands ist eine weichere Natur als sein fränkischer Nachbar, und der niederfränkische Holländer ist beweglicher als sein niedersächsischer Nachbar in Westfalen. Dort kann man an keltische und romanische Mischung denken, während im nordwestdeutschen Charakter unverkennbar eine Annäherung an den nordgermanischen stattfindet, sodaß ein unbefangner Beobachter, der von Basel rheinabwärts nach England reist, stufenweis eine Annäherung an Angelsächsisches und Nordisches in einer Menge von Lebensformen und Lebensäußerungen beobachtet. In der politischen Entwicklung hat aber von der Schweiz bis England und Preußen die germanische Härte und Ausdauer die keltische und slawische Weichheit und Beweglichkeit unterworfen; freilich nicht, ohne daß diese Völkereigenschaften auch auf die Unterwerfer und Herren zurückwirkten. Daher sind die keltisch, romanisch und slawisch gemischten Deutschen bajuvarischen Stammes in Österreich die weichste Abart der deutschen Natur; in ihnen ist von dieser durchgreifenden Organisations- und Herrscherkraft am wenigsten geblieben.

Die geistigen Kräfte

Unter allen großen Völkern der Erde hat das deutsche die beste Schulbildung. Von seinen Rekruten waren 1905/06 0,4 unter tausend des Lesens und Schreibens unkundig (1895/96 1,5); in Frankreich belief sich 1895/96 die entsprechende Zahl auf 55, in Österreich auf 238, in Ungarn auf 281, in Italien auf 389. Die größte Zahl von Analphabeten haben die am stärksten mit slawischen Elementen durchsetzten östlichen Teile von Deutschland aufzuweisen. In Österreich, Ungarn und Rußland ragen ebenfalls die Deutschen durch bessere Schulbildung über ihre Nachbarvölker hervor. Über den 59 000 Volksschulen des Deutschen Reiches erhebt sich eine in vielen Beziehungen musterhafte Organisation der Mittelschulen, Hochschulen und Fachschulen. Im Deutschen Reiche zählt man 21 Universitäten, die durchschnittlich von 38 000 Studierenden jährlich besucht werden. Rechnet man die Schüler der technischen Hochschulen, Berg- und Forstschulen, Kunstschulen und andrer Fachschulen hinzu, so genießen mindestens 50 000 Jünglinge in Deutschland Hochschulunterricht. Als Universitäten deutscher Sprache sind noch 3 schweizerische und 5 österreichische zu nennen. Dorpat ist jetzt größtenteils russifiziert. In Freiburg in der Schweiz herrscht die deutsche neben der französischen Vortragssprache. Der deutschen Sprache bedienen sich zur wissenschaftlichen Verständigung am meisten die Gelehrten der Niederlande, der Nordgermanen und unsrer slawischen Nachbarn. Neben dem deutschen Heere gelten die deutschen Hochschulen als Musteranstalten, deren Einrichtungen in der ganzen Welt nachgeahmt worden sind. Ihre Vereinigung der Lehr- und Lernfreiheit mit gründlicher und ausdauernder Arbeit ist indessen auf anderm Boden nie so recht gelungen. Der deutsche Buchhandel wirft jetzt jährlich gegen 29 000 Bücher und Schriften auf den Markt.

Der Wert des Bildungswesens in Deutschland liegt nicht bloß in seinen augenblicklichen Leistungen, die vielmehr in manchen Beziehungen noch gesteigert werden können und müssen. Wir dürfen nie vergessen, daß es eine Zeit gab, wo bei uns die Einheit und die Macht nur in der Bildung lag, die geistige Größe des deutschen Volkes ist seinem politischen Aufschwung vorhergegangen. Der Charakter, den wir uns als Volk nach langen Zeiten politischer Willenlosigkeit wieder erworben haben, ist in der stillen, geistigen Arbeit vieler Einzelnen herangebildet worden, die in den Schulen und besonders an den Hochschulen ihre Nahrung fand. Darin allein liegt der berechtigte Sinn der Phrase, daß der deutsche Schulmeister die siegreichen Einigungsschlachten geschlagen habe. Aber auch zur Behauptung der errungnen Stellung sind uns die geistigen Kräfte unentbehrlich. Man kann sich Völker denken, bei denen diese Notwendigkeit nicht so dringend ist. Aber der Deutsche ist durch seine Stellung in Europa gezwungen, auf Volksgenossen jenseits der Reichsgrenzen und zugleich auf andre Völker zu wirken. Es gibt nicht bloß im Deutschen Reich eine deutsche Literatur und Kunst, sie blühen auch in Österreich und in der Schweiz, und die von dorther kommenden Rückströmungen gehören seit lange zu den Lebenskräften der Nation. Der Ernst und die Gediegenheit unsrer ganzen Kulturarbeit muß für uns sprechen. Die Welt erträgt ein Volk in einer so herrschenden Stellung auf die Dauer nur, wenn dieses Volk an den gemeinsamen Aufgaben der Menschheit entsprechend seinem Machtanspruche mitarbeitet.

Glücklicherweise liegt es nicht in der Natur des Deutschen, sich mit der Ausübung einer Gewaltherrschaft zu begnügen. An geistiger Aufnahmefähigkeit übertrifft kein Volk das unsre. Es ist fast noch mehr das Volk der Übersetzer als das Volk der Denker und Dichter. In wissenschaftlicher Arbeit fast jeder Art steht es freilich an der Spitze; und nachdem die Deutschen in den Jahrhunderten ihres kleinstaatlichen und kleinbürgerlichen Verfalls wenig an den großen Entdeckungen und Erfindungen teilgenommen hatten, ist im letzten Jahrhundert eine Reihe der wichtigsten Erfindungen in den angewandten Wissenschaften in Deutschland gemacht worden. Vielleicht zeigt sich aber schon hier ein Überwiegen der fleißigen und gründlichen Arbeit über die schöpferische. Es gibt Völker von gestaltungskräftigerer Phantasie, wenn auch nicht von reicherer. Besonders in den bildenden Künsten und zum Teil auch in der Poesie scheinen Völker von keltischer Mischung den Deutschen darin überlegen zu sein. Damit hängt der gewaltige, die eigne Schöpferkraft lähmende Einfluß der französischen und der englischen Literatur auf die deutsche zusammen. Nur in der Musik sind gerade als Schöpfer neuer Weisen die Deutschen allen andern voran. Man wird um so mehr darauf achten müssen, daß die methodische Schulung nicht die Freiheit der Geister über das notwendige Maß bändigt. In der deutschen Natur liegt ein phlegmatischer Zug, den man nicht in die Stubenhockerei ausarten lassen darf, ebenso wie die Fähigkeit, sich ein- und unterzuordnen, nicht in stummen Gehorsam ausarten soll. Das geistige Leben der Nation braucht freie, selbstschaffende Persönlichkeiten. Sein Bedürfnis begegnet sich mit dem des Staates, dem nicht mit einem Bildungsideal gedient ist, das ersessenes Bücherwissen über Lebenserfahrung und Weltkenntnis stellt.

Das deutsche Volk ist unter den großen Völkern der Erde das konfessionell zerklüftetste. 62,5 Prozent der Bevölkerung des Reiches sind evangelisch, 36 Prozent katholisch. 1900 zählte man 580 000 Juden. Da der Protestantismus in Deutschland nicht bloß das Erzeugnis einer großen geistigen Bewegung, sondern auch der politischen Schwäche des alten Reiches ist, ist die Verbreitung der beiden Konfessionen eine außerordentlich bunte und bietet in vielen Zügen ein deutliches Abbild der alten politischen Zerklüftung. Der Protestantismus herrscht im innern Deutschland von Böhmen bis Dänemark und von der Weser bis zur Oder. Der Katholizismus herrscht im Donau- und Rheingebiet, im Emsland und jenseits der Oder sowie im obern Odergebiete vor. Die Gebiete, wo sich die beiden am buntesten durcheinanderdrängen, sind die Gebiete der ärgsten Zersplitterung im alten Reiche: die schwäbischen und fränkischen Lande. Unter den Bundesstaaten sind Bayern, Baden und Elsaß-Lothringen die einzigen, deren Bevölkerung in der Mehrzahl katholisch ist. In Preußen ist das Verhältnis ähnlich wie im Reich, in Württemberg und Hessen sind 30, in Oldenburg 22 Prozent Katholiken. Während beiden Konfessionen der Widerstreit ihrer Lehren ein reiches inneres Leben verleiht, das besonders den deutschen Katholizismus vor dem der romanischen Völker auszeichnet, wo er Alleinherrscher ist, schädigt das Übergreifen dieses Widerstreits auf das politische Gebiet die Wirkung der Kirchen auf die Bevölkerung. Der Katholizismus kommt als Weltkirche den nationalen Bedürfnissen nicht genug entgegen, und die protestantischen Kirchen leiden umgekehrt an ihrer beschränkenden Abhängigkeit von Staatsgewalten. Dazwischen schreitet die Entkirchlichung weiter Kreise der Nation fort. Bei den Deutschen drängt die religiöse Anlage ohnehin, wie die Geschichte zeigt, nicht so heftig zu Äußerung und Ausbreitung wie bei andern Zweigen des germanischen Stammes.

Die Wehrkraft

So wie Deutschland in Landkriegen seine Selbständigkeit verlor, nachdem es schon lange vorher seine Machtstellung zur See eingebüßt hatte, hat es dann auch durch die Kräftigung seiner Landmacht seine Selbständigkeit wiedererkämpft. Das ist in seiner Lage in Mitteleuropa und in dem vorwiegend kontinentalen Charakter der geschichtlichen Entwicklung der mittel- und osteuropäischen Staaten begründet. Daher die überragende Bedeutung des Landheeres und der die Landgrenzen schützenden Festungen auch für das heutige Deutschland. Auf Grund der allgemeinen Dienstpflicht, die für die wehrfähigen deutschen Männer vom 20. bis zum 39. Jahre dauert, stellt das Deutsche Reich ein Heer von 497 000 Mann durchschnittlicher Jahresstärke auf Nach dem Reichsgesetz vom 15. April 1905 soll die Friedenspräsenzstärke bis 1910 sogar auf gegen 506 000 Mann erhöht werden., das in 23 Armeekorps 609 Bataillone und 34 Jägerbataillone, 490 Eskadronen Reiterei, 583 Batterien Feld- und 38 Bataillone Fußartillerie, 26 Pionierbataillone, 22 Trainbataillone, dazu Eisenbahn-, Telegraphen- und Luftschifferabteilungen umschließt. Im Kriegsfall besteht das Heer und die Reserve aus 1 128 000 Mann, wozu die Landwehr ersten und zweiten Aufgebots mit 1 471 000 Mann kommt. Landsturm und Ersatzreserve würden diese Zahlen verdoppeln, sodaß im äußersten Fall mehr als ein Fünftel der männlichen Bevölkerung der Heeresorganisation angehören würde.

Große Festungen, die durch weit vorgeschobne Forts und Zwischenwerke zu befestigten Lagern gemacht worden sind, sind an Deutschlands Westgrenze Straßburg, Metz, Mainz und Köln, an der Ostgrenze Posen, Thorn und Königsberg, an der Donau Ulm und Ingolstadt, im Innern Spandau und Magdeburg. Dem Küstenschutz dienen die Befestigungen von Memel, Pillau, Weichselmünde, Swinemünde, Friedrichsort an der Ostsee, Kuxhaven, Helgoland, Wilhelmshaven, Geestemünde an der Nordsee. Minder wichtige Punkte, zum Teil nur einzelne Forts, sind Neubreisach, Bitsch und Diedenhofen im Westen, Graudenz, Feste Boyen, Glatz im Osten und Königstein im Süden. Seit 1870 ist eine große Reihe von Festungen aufgegeben worden, zum Teil Plätze von hohem geschichtlichem Ruhm, wie Landau, Rastatt, Erfurt, Stralsund, Kolberg. Einzelne Werke der Befestigungen von Koblenz und Danzig werden erhalten. Für das deutsche Befestigungssystem bezeichnend ist die Abwesenheit eines geschlossenen Defensivgürtels, die Verstärkung der nach Osten gewandten Festungen seit 1870 und die fast völlige Neuschaffung eines Küstenbefestigungssystem in demselben Zeitraum. Die nach Süden gewandten Festungen haben verhältnismäßig am wenigsten Verstärkungen erfahren.

Wir haben gesehen, wie spät Deutschland an die großen Überlieferungen der seemächtigen Hanse wieder angeknüpft hat. (Vgl. S. 170.) Die deutsche Kriegsflotte ist so alt wie das neue Reich, und auch die preußische kaum über ein halbes Jahrhundert. Als Bestand der Flotte wurden 1906 angegeben: 31 Panzerschiffe, 12 Panzerkanonenboote, 44 Kreuzer, 10 Kanonenboote, 13 Schulschiffe und 17 Schiffe zu besondern Zwecken. Der Tonnengehalt dieser 127 Schiffe und Fahrzeuge beträgt 543 500, ihre Pferdekräfte 764 000, ihre Bemannung 40 600; die 1900 und 1906 beschlossenen Neubauten werden diesen Bestand noch vermehren.

Von den Schutzgebieten des Deutschen Reiches haben Deutsch-Ostafrika und Deutsch-Südwestafrika Schutztruppen, die übrigen nur Polizeitruppen. Die Gesamtstärke dieser kleinen Formationen beträgt ungefähr 3000.

Die wirtschaftlichen Kräfte

Vergleiche die Abschnitte über die Bodenschätze Seite 35 und die Bodenkultur Seite 204 sowie über den Fluß- und Kanalverkehr Seite 125.

Deutschland bildet nach § 33 der Reichsverfassung ein Zoll- und Handelsgebiet. Die deutsche Zollgrenze fällt nicht mit der politischen Grenze zusammen, sondern faßt einige Gebiete in sich, die nicht zum Reiche gehören, während sie andrerseits einige kleine Gebiete nicht mit einschließt, die im politischen Sinne Teile des Reiches sind. Das deutsche Zollgebiet umfaßt noch Luxemburg, die tirolische Gemeinde Jungholz und die vorarlbergische Gemeinde Mittelberg.

Diese nichtdeutschen Gebiete vergrößern das deutsche Zollgebiet um 2603 Quadratkilometer und seine Bevölkerung um 219 000. Außerhalb der deutschen Zollgrenze liegen die Freihafengebiete von Hamburg, Bremerhaven, Geestemünde, ein Teil von Kuxhaven, Helgoland und ein badischer Streifen an der Grenze von Schaffhausen, zusammen 68 Quadratkilometer mit wenig über 13 000 Menschen. Das deutsche Zollgebiet ist also wesentlich größer als das Gebiet des Deutschen Reiches. Wie überzeugend spricht sich hierin auch die Kräftigung des deutschen Staatskörpers aus, der vor hundert Jahren durch Hunderte von Zollgrenzen durchsetzt und dadurch wirtschaftlich noch schlimmer als politisch »entgliedert« war. Der heutige Zustand ist langsam geworden, und in diesem Werden bereitete sich zugleich durch eine Reihe von Zollbündnissen das Reich vor.

Deutschland nimmt im Welthandel jetzt die zweite Stelle ein. Es führte 1906 an Waren und Edelmetallen aus 6243 Millionen Reichsmark und ein 8339 Millionen Reichsmark. Das ist nahezu soviel wie zwei Dritteile der englischen Ein- und Ausfuhr desselben Jahres. Mit seinen Nachbarn pflegt Deutschland den lebhaftesten Handel. Außerdem steht es mit den Vereinigten Staaten von Nordamerika in einem sehr regen Austausch, dessen Betrag 1904 an zweiter Stelle stand. Im übrigen folgten in der Einfuhr 1904 Großbritannien, Rußland, Österreich-Ungarn, Frankreich, Belgien, Niederlande und die Schweiz; in der Ausfuhr Großbritannien, Österreich-Ungarn, Niederlande, Rußland, Belgien, die Schweiz und Frankreich.

Deutschlands Ein- und Ausfuhrlisten lassen ein Land erkennen, dessen Produktion aus Ackerbau, Viehzucht und Forstwirtschaft noch immer bedeutend ist, das aber längst das Schwergewicht seiner Eigenerzeugung auf die industrielle Basis verschoben hat. Es treten uns mit den größten Summen in der Ausfuhr (1904) entgegen: Chemische Fabrikate, Eisenwaren, Baumwollwaren, Kohle, Maschinen, Wollwaren, Eisen, Zucker, Häute und Felle, Seiden- und Kurzwaren. In der Einfuhr dagegen erscheinen am stärksten Getreide, Baumwolle, Wolle und Seide, Häute und Felle, Holz, Vieh, Kolonialwaren, Obst, Eisen, Eier, Kautschuk. Deutschland führt also hauptsächlich Nahrungsmittel und Rohstoffe der Industrie ein, seine Ausfuhren sind dagegen größtenteils Erzeugnisse der Industrie, Rohstoffe und Kolonialwaren, die der Handel umsetzt.

Deutschland treibt nicht bloß Handel für seinen eignen Bedarf. Die geographische Lage macht Deutschland zu einem großen Durchfuhrland, Hamburg zum Seehafen für Böhmen, Danzig und Königsberg für Teile von Polen und Litauen, Mannheim zum Rheinhafen für die Schweiz. Lübeck hat den alten regen Verkehr mit den skandinavischen Ländern und Finnland wieder entwickelt.

Die Lage und die Leistung der deutschen Verkehrsstraßen erteilt die politische Lehre, daß Deutschlands Leben mit dem seiner Nachbarn auf das engste zusammenhängt. Die politische Grenze zwischen Deutschland und seinen beiden nordwestlichen Nachbarn verschwindet völlig vor unserm Auge, wenn wir den gewaltigen Betrag des Güter- und Menschenverkehrs zwischen der Seeküste Hollands und Belgiens und den deutschen Rheinplätzen betrachten. Auch die Weichsel und die Memel können, soweit sie auf deutschem Boden fließen, ihrer Bestimmung nur nachkommen, wenn die russische Grenze dem Verkehr mit der Ostsee geöffnet ist. Die deutsche Donau würde ohne die österreichischen Dampfer noch viel einsamer sein, und der Bodensee und der Rhein zwischen Bodensee und Schaffhausen dienen dem deutschen, österreichischen und schweizerischen Verkehr. Endlich binden Ill, Zorn und Mosel und die Kanäle nach der Saone und Marne den Rheinverkehr mit dem der Rhone und Seine und dem ganzen hochentwickelten französischen Fluß- und Kanalnetz zusammen. Auch die Grenzgebirge sind von zahlreichen Eisenbahnen durchschnitten; über das Erzgebirge weg verbinden allein sechs Linien Sachsen mit Böhmen.

Deutschland fällt also durch seine Lage zwischen Nordsee und Mittelmeer, zwischen Ost- und Westeuropa eine Aufgabe im Verkehrsleben zu, die weit über die Grenzen des Landes hinausreicht. Das deutsche Eisenbahnnetz ist von europäischer Wichtigkeit, weil Deutschland ein Durchgangsland für die wichtigsten der europäischen Staaten ist. Deutschland selbst hat (1905) 56 200 Kilometer öffentliche Eisenbahnen. Bezeichnend für die internationale Bedeutung dieser Eisenbahnen ist aber der Anschluß an dieses Netz von weitern 44 000 Kilometern Eisenbahnen, die dem Verein deutscher Eisenbahnverwaltungen angehören, hauptsächlich österreichisch-ungarische, niederländische, luxemburgische, rumänische. Deutschlands Grenze überschritten Ende 1897 2 Eisenbahnen nach Jütland, 10 nach den Niederlanden, 5 nach Belgien, 4 nach Luxemburg, 7 nach der Schweiz, 34 nach Österreich und 5 nach Rußland. Hier zeigen sich große Ungleichheiten, die zum Teil politischer Natur sind, wie die spärlichen deutsch-russischen Verbindungen und der Mangel einer die eigentlichen Vogesen durchschneidenden Bahn, während in der Natur selbst der Mangel einer bayrisch-tirolischen Verbindung westlich von der Linie München-Kufstein-Innsbruck in den Schwierigkeiten des Geländes begründet ist. Auch an Resten jener sonderbarsten Auswüchse fehlt es nicht, die die Kleinstaaterei sogar im Verkehrsleben getrieben hat, wo sie die kürzesten Verbindungen hinderte und die Eisenbahnen um mißliebige Orte herumführte. Erfreulich mutet uns aber die ungemeine Verdichtung des Eisenbahnnetzes am Oberrhein an. Wo vor 1870 nur eine feste Brücke, drei Schiffbrücken und nur ein Eisenbahnübergang waren, stehn jetzt vier feste und elf Schiffbrücken, und sechs Eisenbahnen überschreiten den Rhein zwischen Lauterburg und St. Ludwig.


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