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Die Lage der deutschen Küsten

Die deutsche Küste schaut zumeist nach Norden; indem sich aber zwischen Nord- und Ostsee die Cimbrische Halbinsel nordwärts erstreckt, empfängt Schleswig-Holstein eine nach Westen gewandte Küste an der Nordsee und eine nach Osten gerichtete an der Ostsee. Ebenso bildet sich auch im äußersten Osten der deutschen Ostseeküste durch die Nordbiegung des Ostseegestades eine westwärts schauende Küste von der Mündung der Weichsel bis zur russischen Grenze.

Unsre Küste liegt südlicher im Westen als im Osten. Das westlichste deutsche Land, das die Nordsee berührt, ist die Insel Borkum, die bei 53º 35' vor der holländischen Küste liegt. Daneben wölbt sich Ostfriesland nördlich hervor. Der Jahdebusen greift dann bis 53º 20' nach Süden, worauf das Land zwischen Weser und Elbe noch etwas weiter nordwärts vortritt. Wiederum liegt der südlichste Teil der deutschen Ostseeküste in der Lübecker Bucht, aus der Mecklenburg mit Vorpommern als ein Dreieck hervortritt, dessen Spitze Rügen bildet. Dann buchtet sich die Ostsee in das Stettiner Haff ein, und von da an steigt dann in einer einzigen schönen Wellenlinie die pommersche Küste bis zum Putziger Wiek. Neue Einbuchtungen: Danziger Bucht und Bucht von Memel und zwischen beiden das Samland als meer- und nehrungumgrenzte Halbinsel. Diesen Stufen gemäß ordnen sich unsre großen Seestädte, die immer in den durch Buchten gebildeten Einschnitten zwischen zwei Stufen liegen, sodaß die westlichern immer südlicher liegen als die östlichern: Bremen 53° 10', Wilhelmshaven 53° 31', Hamburg 53° 33', Lübeck 53° 51', Swinemünde 53° 55', Königsberg 54° 42'.

Die Helgoländer Bucht und dir Neustädter Bucht

Indem aus unsrer langsam von Südwesten nach Nordosten ansteigenden Küste die cimbrische Halbinsel hervortritt, die eine West- und eine Ostküste von 54° bis 55° 28' bildet, werden an der Nordseeküste zwei Küstenstrecken gebildet, die fast rechtwinklig in der Elbmündung aufeinandertreffen. In diesem Winkel liegen die Helgoländer Bucht, Kuxhaven, die Mündung des Kaiser-Wilhelmkanals und dahinter Hamburg: es ist der wichtigste Teil der deutschen Küste. Daher die große Bedeutung des gerade davor liegenden kleinen Helgoland. Ebenso werden auf der Seite der Ostsee zwei Küstenstrecken gebildet, die in einem stumpfen Winkel aufeinandertreffen. In diesem Winkel, in dem die Ostsee bis auf zweiundfünfzig Kilometer gegen die Elbe vordringt, liegen die Kieler und Neustädter Bucht, die Mündung des Kaiser-Wilhelmkanals, Kiel und Lübeck. Dieser Ostseewinkel sah die Blüte des deutschen Seehandels in der Zeit der Hanse, jener Nordseewinkel ist sein Brennpunkt in der Gegenwart. Damals wurde die Verbindung des Südwestwinkels der Ostsee mit dem Südostwinkel der Nordsee verkörpert in dem Bunde Lübecks und Hamburgs, so wie sich heute ihre Bedeutung in dem Kiel und Hamburg verbindenden Kanal ausspricht. Und wie die Nähe Dänemarks und Schwedens das Aufblühen der »wendischen Küste« begünstigte, so ist Lübeck auch heute hauptsächlich groß durch seine nordischen Beziehungen, und die Schnelldampfer nach Gjedser, Kopenhagen, Malmö gehen auch heute von Lübeck, Warnemünde, Stralsund und Stettin aus.

Die Nordseeküste

Soweit auch die Nordsee, gerade wo sie deutsche Lande bespült, vom offnen Ozean zurückliegt, ist doch die Nordseeküste die ozeanischste von allen unsern Küsten. An sie heran bringen starke Gezeiten das Meer und führen es stromaufwärts. Diese Küste ist daher zugleich die verkehrsreichste und durch Sturmfluten am meisten zerrissene und gefährdete. Das weite Hinterland, die sich in breiten Mündungen ergießende Ems, Weser und Elbe und die westlichere Lage machen wiederum die Strecke von der Ems bis zur Elbe zu dem wichtigsten Küstenabschnitt Deutschlands. Die beckenförmig gerundeten Einbuchtungen des Dollart und des Jahdebusens und die Trichtermündungen der Weser und der Elbe zeichnen diese Küste aus. An der Westküste Schleswigs erinnern zwar die Bucht von Büsum und die Eidermündung an jene die Familienverwandtschaft mit der Zuidersee nicht verleugnenden Einbrüche; doch fehlen der schleswig-holsteinischen Nordseeküste das Hinterland und die Ströme. Erst der Kaiser-Wilhelmkanal hat sie erschlossen, führt aber den Verkehr der untern Elbe zu. Doch hat die schleswigsche Küste den Inselreichtum und die Größe der Inseln voraus.

Geest, Marsch und Watten

Die Nordseeküste zeigt bei aller Verschiedenheit einzelner Strecken eine übereinstimmende Gliederung vom Rhein bis zur Eider. Das Meer tritt nicht unmittelbar an den alten höhern Landsaum heran, der sich als Geest oft erst zwanzig Kilometer hinter der Brandungslinie erhebt. Zwischen der Geest und dem Meer liegt die tiefere, flachere Marsch als jüngere Bildung. Die Geest schneidet aber nicht glatt ab, sondern sendet Halbinseln in die Marsch vor, und einige Geestinseln treten als Vorgebirge in die Nordsee. Davor liegen die Inseln, die, eine Kette, mit unverkennbaren Spuren alten Zusammenhangs sich von der Spitze Nordhollands bis zur Mündung der Königsau erstrecken. Zwischen diesen Inseln und dem Festlande brandet das Wattenmeer, von dem große Teile in der Ebbezeit trocken liegen, sodaß dann jene Inseln landfest werden, während in der Flut diese Landbrücken unter dem Meeresspiegel versinken. Zwischen den »Sanden« führen die »Tiefe«, gewundne Kanäle, durch das Wattenmeer, dessen Seegefahren es zu einer der stärksten Befestigungen der deutschen Küste machen. Eine Wanderung zur Ebbezeit über die Watten ruft die Erinnerung an einen Sommertag auf Gletschern der Alpen wach, so fließt, rieselt und sprudelt es auf allen Seiten, tausend Tümpel stehen im dunkeln Schlamm, den nur Algenfäden im Frühling grün anhauchen, und das Ganze ist halb fest und halb flüssig, tief durchfeuchtet und durchsalzen: eine »tote« Watte. Hat jahrhundertelange Schlammanschwemmung das Land erhöht, dann folgt Graswuchs auf Salzkräuter, und wir haben die »Graswatten«, den fetten Unterboden der berühmten Marschviehzucht. Manches, was heute im Wattenmeer liegt, war einst fest, und noch hört man dort Namen, die auf alte, jetzt selbst bei Ebbezeit vom Wasser bedeckte Verbindungen der Inseln hinweisen. Erst mit dem Marschland beginnt das Reich des Menschen. Es setzt sogleich als ein Reich von strenger Ordnung ein. Die Marsch von heute, geschützt und geregelt durch Deiche, Schleusen, Ent- und Bewässerungsgräben, ist in der Hand des Menschen. Doch braucht dieser Wachsamkeit und Entschlossenheit, um sein Werk zu erhalten. Das Marschland beginnt bei Hoyer und ist gegenüber von Sylt zwanzig Kilometer breit; die Dithmarschen sind sechzehn Kilometer breit. Die untere Elbe fließt in einer tiefen Marschbucht. Die Flußmarschen der untern Ems sind das westlichste Stück des Marschlandstreifens.

Die Ostseeküste

An der Ostsee haben wir wieder eine von Süd nach Nord ziehende schleswig-holsteinische Küste, deren Merkmal die tiefen, schmalen Föhrden von Hadersleben, Apenrade, Flensburg, Eckernförde und Kiel sind. Auch die drei Einschnitte der Lübecker Bucht (Neustadt, Travemünde, Wismar) gehören noch hierher mit ihren »Bodden«, unregelmäßig verästelten Buchten von rundlichen Umrissen, die durch Inseln, Halbinseln oder Dünenstreifen vom Meere getrennt sind. Föhrden und Bodden gehören derselben Gattung von Küsteneinschnitten an. Die Bucht von Wismar, der Saaler Bodden, der Grabower, der Stralsunder und Greifswalder Bodden, das Stettiner Haff sind Variationen dieses auch im Bau Rügens ausgesprochnen Typus, der mit großen Unterschieden der Höhe und Tiefe im Küstensaum zusammengeht. Diese Küste steigt bis zur Spitze Rügens an und senkt sich dann zur Odermündung. Breite Inseln, Festlandbruchstücke, wie Rügen, Usedom, Wollin, sind ihr vorgelagert. Auch Zingst ist fast mehr Insel als Halbinsel. Für den Geschichtskenner ist die buchtenreiche Küste zwischen Lübeck und Greifswald die wendische Küste. Man hat sie das Kristallisationsgebiet der Hanse genannt; sie ist aber mehr als das gewesen. Man kann sie die Quelle immer neuer Belebung nennen.

Von der Oder bis Kap Rixhöft steigt dann die einförmigste der deutschen Küsten langsam an, die hinterpommersche, eine Schuttküste, die von dem Wogendrang gleichmäßig abgebröckelt wird. Mit der dreißig Kilometer in die Ostsee hinausragenden Halbinsel Hela, auch Putziger Nehrung, beginnt eine neue Küstenform, die man die preußische nennen könnte. Diese schmale Halbinsel mit ihrem verbreiterten und schön abgerundeten Ende ist die Hälfte einer Nehrung, ebenso wie das dahinter liegende Putziger Wiek ein nur halb geschlossenes Haff ist. Auch dieses Stück Nehrung haben die Wellen und die Küstenströmungen außen geglättet, während sein Innenrand von den in tiefer Ruhe abgesetzten Anschwemmungen ausgebuchtet ist. Dünenketten folgen auf diesem Streifen in selten unterbrochner Folge, wie denn vier Fünftel der Küste zwischen Oder und Memel Dünenküste sind.

Jenseits der Weichselmündung folgt die Frische Nehrung, von der Ostsee her ein gelblicher, stellenweise schneeweißer Dünenstreif, von dem sich der jenseits des grünen stillen Haffs steiler abfallende Rand des preußischen Seehügellandes dunkel abhebt. Der Schiffer, der von der Ostsee kommt, sieht nur niedrige, helle Inseln, die auf dem Wasser zu schwimmen scheinen. Kommt er näher, so verbinden sie sich durch ein niederes Land, das an einigen Stellen grünlich angehaucht ist. Nicht über eine halbe Seemeile ist die Nehrung breit. Das dahinter liegende Frische Haff ist an keiner Stelle mehr als 5 Meter tief, nur der Eingang zum Pillauer Hafen ist bis 10 Meter tief ausgebaggert. Jenseits des bernsteinberühmten Samlandes – kleine Bernsteinsplitter leuchten auch aus dem Sande der Frischen Nehrung – beginnt die 97 Kilometer lange Kurische Nehrung, wiederum ein schmales Dünenland zwischen Haff und Ostsee, das 143 Quadratkilometer bedeckt. Das Kurische Haff ist zwölfmal so groß. Dieser nordöstlichste deutsche Küstenstrich ist einer der rauhesten und ödesten Striche von Deutschland, der dem auf der Ostsee Vorbeischiffenden kaum eine Spur menschlicher Wohnstätten, außer dem Leuchtturm von Nidden, zeigt.

Die deutsche Ostseeküste zeigt durchweg Neigung zu parallelen Wall- und Grabenbildungen. Sowohl die Küste selbst als auch der Abfall von der Küste zum Meer ist entsprechend gegliedert. So wie uns die Hafflandschaft die Nehrung, das Haff und dahinter die mit Schutt der Eiszeit bedeckte Küste als dreigliedrigen Streifen zeigt, begegnen wir in Hinterpommern regelmäßig der ins Meer tauchenden Düne, dahinter einem Streifen tiefgelegner Moore, Seen, Sümpfen, auch kleinern, trägen, der Küste parallel dahinträumenden Flüßchen, und hinter diesem steigt dann der diluviale Landrücken an. An der mecklenburgischen Küste begleiten vorgelagerte Wälle den Abfall des Seehügellandes; wo hier Küstenflüßchen wie Tollense, Recknitz, Peene, Trebel vor der Mündung umbiegen, fließen sie in den dadurch gebildeten, mit der Küste parallelen Senken. Ein Ansteigen des Meeres um 10 Meter würde hier ähnliche Sunde entstehen lassen, wie der zwischen dem Festland und Rügen. Solche Vorlagerungen kommen auch unter dem Meeresspiegel vor. So ist das Vinetariff vor der Nordspitze Usedoms eine inselartig vom Meeresboden aufsteigende Anhäufung von Steinblöcken, und viele andre »Steinriffe« machen den Eindruck versunkner Diluvialinseln.

Die Dünen

Am Gestade der Nordsee und Ostsee ziehen in langen Ketten Dünen jenseits des Küstenstreifens hin: eine gelblichere oder grauere Wiederholung des leuchtend weißen Brandungssaumes. Diese Dünen bestehen aus Sand, der so nahrungsarm ist, daß der ärmliche Pflanzenwuchs seiner noch nicht Herr werden konnte. Deshalb ist der Sand an vielen Stellen beweglich geblieben. Man würde nun sagen, der lockere Flugsand müßte ins weite Meer hinausgetragen werden, dessen Rand er umlagert. Statt dessen häuft er sich zu kleinen Gebirgen auf, deren Wert für unsre Küsten darin besteht, daß sie von ihnen wie von natürlichen Dämmen beschützt werden, während sie allerdings an manchen Stellen zugleich eine große Gefahr wegen der Wanderungen sind, die der Sand landeinwärts unternimmt. Wir haben auch Dünen im Binnenlande. Der Sand des Rheins häuft sich im Oberrheintal an manchen Stellen zu kleinen Dünenwällen auf. Karlsruhe liegt in einem solchen Sandgebiet. Die Gegend von Nürnberg, die Mark sind reich an echtem Flugsand. Aber nur am Meere spülen die Wellen immer neuen hinausgetragnen Sand ans Land zurück und erzeugen immer neuen Sand durch ihre nie ruhende Bewegung. Dazu kommt, daß unsre Ostseeufer allerseits derselbe sandreiche Eisschutt umlagert, aus dem auch die mächtigen Sande des norddeutschen Binnentieflands großenteils einst ausgewaschen worden sind. Von dem 256 Kilometer langen Außenstrand von der Diewenow bis zum mecklenburgischen Fischland sind 154 Kilometer Düne, ein silbergraues welliges Band über dem Grün des Meeres. Sylt ist zur Hälfte Düne, die Frische und die Kurische Nehrung sind fast ganz Dünenland, und hier kommen Sandberge von 60 Metern Höhe vor. Kleine Dünengebirge, Sandhorste, von 30 Metern Höhe liegen auch zu beiden Seiten von Stolpmünde.

Der vorwiegend auflandige Wind treibt den lockern Sand an den Dünenhängen hinauf; der leichte hellgelbe Sand fliegt, der gröbere graue rollt unter diesem Anstoß aufwärts, beide fallen dann jenseits des Kammes der Düne nieder. So wird auf Kosten der vordern Düne eine neue hinter ihr gebildet. Deshalb sehen wir bei starkem Wind die Sandhügel wie im Nebel; nur ist es ein scharf begrenzter Sandnebel, durch den man die Umrisse der Düne recht wohl wahrnimmt. Die Geschwindigkeit des Wanderns der Dünen kann überraschend groß sein. Im Frühling kann man über Schneelagern eine halbmeterhohe Sandschicht liegen sehen, und es entspricht dem, wenn aus Hinterpommern Versandungen von Strauchwehren um 25 Zentimeter in vierzehn Tagen beobachtet wurden. Auf der Kurischen Nehrung macht der Sand an ungeschützten Stellen jährlich Fortschritte von 5 bis 6 Metern. Liegt Meer hinter den Dünen, wie an den Haffen und am Putziger Wiek, da kann man die Versandung in der Tiefenabnahme deutlich fortschreiten sehen. Der Memeler Hafen und die schmale Fahrrinne im Kurischen Haff müssen beständig ausgebaggert werden, und die Spitze der Nehrung wächst ununterbrochen nordwärts fort. Der wandernde Sand macht nicht Halt vor den Werken der Menschen. Auf der Kurischen Nehrung ist die Geschichte jedes Dorfes das Ringen mit dem Sande. Es gibt Dörfer, die wegen Versandung verlassen werden mußten. Nachdem in Kunzen im Lauf des achtzehnten Jahrhunderts Häuser öfter verlegt worden waren, versandete die Schule 1797, die Kirche 1804, 1822 war die Dorfgemarkung auf den elften Teil zusammengeschwunden, und 1825 war die Verschüttung vollendet.

Erst seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts hat man in Anpflanzungen ein Mittel gefunden, den Sand festzuhalten. Die Pflanzen der Düne stehen in merkwürdigen Beziehungen zu ihrem beweglichen Boden. Nicht lange dauert die Idylle, daß die schwank herabhängenden Halme des Dünengrases vom Wind hin und her bewegt seltsam regelmäßige, einander schneidende Halbkreise in den Sand zeichnen. Rasch sind diese Gebilde verweht, wenn sich eine Brise erhebt, und nach einigen Tagen starken Winds ragt nur noch die Spitze des Halmes aus der jungen Sandhülle hervor. Darum sterben aber die echten Dünengräser, wie Elymus arenarius und Amophila arenaria, nicht ab; je höher der Sand steigt, desto höher wachsen sie. Ihre Wurzeln ragen weit in den alten Sand hinein, und ihre Halme bieten dem neuen Halt. Heute säet man die Dünengräser in große durch Strauchwerk abgegrenzte Vierecke, und in den befestigten, durch Lehm verbesserten Boden pflanzt man Föhren und Legföhren ( Pinus inops). Preußen wendet jetzt jährlich einige hunderttausend Mark für Dünenbefestigung und Pflege der Dünenwälder an der Nord- und Ostsee auf. So wie die Zerstörung von Wäldern die Dünen entfesselt und den Wert des Küstenlandes oft auf nichts erniedrigt hat, hat auch die Wiederbewaldung weite Sandgebiete zur Ruhe gebracht, wirtschaftlich wertvoller und bewohnbar gemacht. So konnte sich seit hundert Jahren die früher sinkende Zahl der Bewohner der Kurischen Nehrung wieder auf mehr als das Doppelte heben.

Die Küstenlänge

Wenn man die deutsche Küste nach ihren großen Umrissen mißt, erhält man 1270 Kilometer. Das ist genau ein Fünftel von der Länge der Küste Italiens und zwei Fünftel von der Länge der Küste Frankreichs. Deutschland hat also eine kurze Küste. Das tritt noch mehr hervor, wenn man erwägt, einem wie großen Lande diese Küste als Auslaß dienen muß. Deutschlands Flächenraum verhält sich zu dem Italiens wie 1: 0,53, und es kommen demnach auf einen Kilometer Küstenlänge in Deutschland 425, in Italien 45 Quadratkilometer Land. Wenn man alle Buchten und Inselumrisse mitmißt, erhält man für die Länge der Seegrenze Deutschlands 2440 Kilometer, das ist ungefähr die Hälfte der Länge der Landgrenze. In Deutschland gibt es Orte, die in gerader Linie von dem nächsten Seeplatz 700 Kilometer entfernt sind, in Italien mißt die größte Entfernung eines Ortes vom Meere 240 Kilometer. In diesem großen Unterschied der Entfernung der deutschen Länder vom Meere liegt ein Hauptgrund der zwiespältigen Entwicklung Nord- und Süddeutschlands. Außerdem ist Westdeutschland durch seine zur Nordsee gehenden Ströme und die Nähe der holländischen und belgischen Häfen dem offnen Meere nähergerückt als Ostdeutschland. Da aber die politischen Schwerpunkte Deutschlands bis zum neuen Reich im Süden und Osten lagen, verfiel die politische Ausnutzung der Küste und die Seegeltung Deutschlands in Nichtigkeit, und seine kleinern Nachbarn im Nordwesten und Osten beherrschten die Nordsee und die Ostsee. Die entferntesten Punkte der Ostseeküste sind fast dreimal so weit voneinander entfernt wie die entferntesten Punkte der Nordseeküste.

Die Zerstörung der Küste und der Kampf um die Küste

Jede Küste liegt dem ewig beweglichen Meere ruhend und leidend gegenüber. Nur in langen Zeiträumen erfährt sie an manchen Stellen Hebungen, die größere oder kleinere Strecken dem Wirkungsbereich der Brandung entrücken. Ohne das unterliegt sie dem Andrang der Wogen, es sei denn, daß der Mensch sie durch künstliche Werke seiner Hand schützt. Die deutschen Küsten haben den Schutz mehr als viele andre nötig. Sie sind großenteils flach und niedrig – viele Marschen liegen sogar unter dem Meeresspiegel – und aus locker zusammenhängendem Stoff aufgebaut; kein Zeugnis spricht für jüngere Hebung, wohl aber sind in manchen Teilen unsers Küstengebiets Senkungen zu vermuten. Torflager tauchen an beiden Küsten unter den Meeresspiegel. Während die Nordsee zu den stürmischsten Teilen des Ozeans gehört – und gerade in den südöstlichen Winkel drücken die gefährlichsten Stürme das Wasser mit Macht, daß es sich gegen die Deiche und Dünenwälle staut –, arbeitet an der Ostsee das Eis mit an der Bewegung der Küste. Unsre Küstenbewohner sind daher ununterbrochen tätig, ihr Land, oft selbst ihre Wohnstätten gegen den Wogendrang zu schützen, und große, kostspielige Werke sind zu diesem Zwecke geschaffen worden. Weite Strecken sind der Gefahr entrückt worden, vom Meer verschlungen zu werden, und an manchen Punkten ist sogar verlornes Land neu gewonnen worden. Ein großer Teil von Swinemünde steht auf Boden, den die Uferbauten seit dem achtzehnten Jahrhundert erst festgelegt haben. Es gibt aber noch genug Küstenstrecken, die fort und fort abbröckeln, und wo man erheblichen Landverlust in geschichtlicher Zeit deutlich auf die Karte zeichnen kann. Sehen wir nun gar in vorhistorische Zeiten zurück, so erscheint uns vor allem unsre Nordseeküste nur als ein Trümmerwerk, das von frühern Anschwemmungsbildungen noch übrig geblieben ist. Die friesischen Inseln bezeichnen den äußern Saum eines zerrissenen, versunknen alten Landes.

Es liegt im Wesen der Flachküste, daß sie an einer Stelle durch Anschwemmung wieder ersetzt, was sie an andrer verloren hatte; nur kommt dieser Gewinn natürlich nicht unmittelbar dem festen Lande zugute. Im Unterlaufe unsrer Ströme, in unsern Häfen und in den Haffen der Ostsee geht der Schlamm- und Sandabsatz ununterbrochen vor sich. Aber dadurch wächst nicht gleich das Land, sondern es entstehen neue Untiefen oft weit draußen im Meer, die in vielen Fällen aus Gründen des Verkehrs wieder beseitigt werden müssen. Die Bilanz würde an unsrer Küste ohne das Eingreifen des Menschen weitaus mehr Verlust als Gewinn zeigen. Zwar sind über die Landverluste der deutschen Nordseegebiete, besonders die plötzlichen durch Sturmfluten, übertriebne Vorstellungen im Umlauf. Allmers sagt in seinem Marschenbuch: »Man kann dreist annehmen, daß noch zur Zeit Karls des Großen das Land der Friesen das Doppelte an Umfang hielt, als ihr jetziges Gebiet.« An der Hand der Geschichte ist eine solche Annahme glücklicherweise ganz unmöglich. Man muß vielmehr sagen, daß überall die Volksüberlieferungen über Landverlust an den deutschen Küsten weit über die Wahrheit hinausgehen. Die Volksseele steht unter dem Eindruck einzelner Katastrophen, deren Wirkung sie verallgemeinert. Diese Katastrophen sind auch sicherlich in frühern Jahrhunderten größer und verderblicher gewesen als heutzutage. Aber dennoch stehen wir an, die Bildung der Zuidersee als einen der Größe dieses Meerbusens entsprechenden plötzlichen Landverlust aufzufassen. Ebensowenig will uns der Dollart als das reine Produkt von Sturmfluten aus der geschichtlichen Zeit erscheinen. Vielmehr sind viele von den Bildungen, die die Überlieferung in die geschichtliche Zeit versetzt, auf Zeiten zurückzuführen, wo diese Gelände noch unbewohnt waren. Damit soll nicht gesagt sein, daß die Sage ganz grundlos sei, die die Züge der Cimbern und Teutonen auf die Verheerung ihrer Heimat durch Sturmfluten zurückführt; aber der gelehrte Versuch, gerade diese Sage naturwissenschaftlich zu stützen, ist ebensowenig gelungen, wie die Karten von Helgoland wahr sind, die dem alten Helgoland eine dreimal größere Ausdehnung geben als dem heutigen. Diese Karten, die auf den schleswigischen Kartographen Meier in Husum (siebzehntes Jahrhundert) zurückgehen, sind nichts als gezeichnete Sagen. Aus der Zeit genauer Überlieferungen sind im siebzehnten Jahrhundert drei mächtige Sturmfluten (1634, 1648 und 1685) verzeichnet. 1634 sollen 15 000 Menschen und 50 000 Stück Vieh ertrunken sein. Die Weihnachtsflut von 1717 vernichtete allein in den Oldenburger Marschen 2471 Menschen und über 4000 Stück Vieh, an der ganzen Nordseeküste über 15 000 Menschen. 1825 stiegen die Fluten höher als 1717, aber die Dämme waren erhöht und verstärkt, der Verlust an Menschenleben konnte nicht mehr in die Tausende gehen, betrug aber in Nordfriesland noch 80. Die größten Fluten des neunzehnten Jahrhunderts, die von 1825 und 1845, konnten noch weniger Schaden anrichten, denn die Schutzwehren waren nahezu unüberwindlich geworden. Aber noch am 29. Dezember 1880 hat eine verheerende Sturmflut im Unterweserlande schwere Schädigungen an Gesundheit und Eigentum bewirkt.

Zum Schutz gegen diese Gefahren sind große Dämme (Deiche) aufgeführt worden, an denen man Jahrhunderte bauen mußte, bis die erforderliche Höhe von fünf bis sechs Metern über dem Spiegel des Meeres oder der großen Ströme und die Breite von mindestens drei Metern an der Oberfläche erreicht war. Mit den Dämmen müssen Entwässerungs- und Bewässerungskanäle verbunden sein, denn sie haben nicht nur das Meer abzuhalten, sondern auch neues fruchtbares Land zu schaffen und zu erhalten. So entstehen großartige, kunstvolle Deichnetze, die einst von den zu Deichverbänden vereinigten Beteiligten ohne alle Staatshilfe geschaffen wurden. Diese großartige Selbsthilfe hat in den Marschen von der Schelde bis zur Eider den Freiheits- und Selbständigkeitssinn aufrechterhalten, der ohnehin in der Nähe der großen Natur hier wie in dem Hochgebirge kräftiger gedeiht. Kein Stück deutschen Bodens ist mit seinen Bewohnern so verwachsen wie der Marschlandsaum der Nordseeküste. Man spricht von der Anhänglichkeit des Alpensohnes an sein Land; aber dieses Land war vor ihm da, er hat es in Besitz genommen und im ganzen wenig an ihm geändert. Wie anders der Küstenbewohner in seinen Marschen! »Jeder Fleck ist hier historisch, auf jedem nachweisbar, wie das ganze Land zusammen mit seinen Bewohnern Halt und Kultur gewonnen hat. Nirgends anders sind die Bewohner so ganz und wahrhaftig Söhne des Vaterlandes, das sie sich schufen, und durch das sie wurden, was sie sind« (Kutzen). Fragt man, wie dieser grüne Saum, der das ältere eigentliche Binnenland vom Meere trennt, entstanden ist, so muß die Antwort drei große Tätigkeiten nebeneinander nennen, die hier zusammengewirkt haben: die Ströme, das Meer und der Mensch. Die Ströme haben den feinen und fruchtbaren Schlamm aus den Gegenden ihres höhern Laufes herabgebracht, die Fluten des Meeres haben ihn gesichtet, aufgeschlossen und mit fruchtbaren, organischen Stoffen bereichert zurückgegeben, der Mensch hat Dämme um dieses Schwemmland gezogen, es dadurch gegen Sturmfluten geschützt, kanalisiert und bebaut.

Der Gang der Zerstörung ist an der Ostseeküste viel langsamer, und der Rückgang ist gleichmäßiger verteilt. Aus den lehmigen, blockreichen Diluvialküsten gräbt die Brandung Höhlen und Nischen aus, deren Decken einstürzen. Der Frost arbeitet vor, indem er den Zusammenhang des ungleichen Bodens lockert. So mag es zu erklären sein, wenn Wände aus Geschiebemergel in Haushöhe und vierzig bis fünfzig Schritt Länge oft plötzlich abstürzen, ohne unmittelbar von den Fluten berührt zu sein. Dünenwälle zeigen in frischen Steilabstürzen, deren Farbe von der Durchfeuchtung dunkler ist, die Narben der Wunden, die ihnen der Wintersturm geschlagen hat. An den wenigen Stellen, wo Fels ansteht, kommen Steinfälle vor, und zwar nicht unbeträchtliche, wie die Geschichte des langsam zurückweichenden Arkona lehrt, das in den letzten hundert Jahren dreihundert bis vierhundert Meter verloren haben soll.

An den lehmigen Küsten Hinterpommerns ist schon manche Dorfflur in die Ostsee gestürzt. Zuverlässige Zeugen berichten, wie bei Hoff der Kirchhof angegriffen war, sodaß Sargbretter und Knochen aus der Uferwand herausstanden und die Kirche verlegt werden mußte. Bäume, die sich dem Meere zuneigen, weil ihre Wurzeln unterspült sind, Rasenstücke, die frei in die Luft ragen, Risse in den Wiesen und Äckern, die künftige Abbrüche anzeigen, sind häufige Erscheinungen. Man hat an solchen Stellen die Schnelligkeit des Fortschreitens des Meeres messen können und hat bis zu einem Meter im Jahre gefunden. Einzelne Stürme greifen besonders an der sandigen Küste ganz anders ein, und so soll der Strand von Heringsdorf im Februar 1874 zehn Meter verloren haben. Die Nordspitze Usedoms ist zur Insel gemacht, die schmale Halbinsel Usedoms bei Damerow und die Spitze von Darß bei Ahrenshoop durchbrochen worden.


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