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Volkszahl, Volksdichte und Wachstum

Die Zählung der Bevölkerung des Deutschen Reiches von 1905 wies 60 605 183 Menschen nach, das ist mehr als ein Siebentel der Volkszahl unsers Erdteils, von dessen Fläche Deutschland ein Zwanzigstel einnimmt. Daraus erkennt man sogleich die dichte Bevölkerung unsers Landes, und zwar ist es unter den Ländern seiner Größenstufe das dichtest bevölkerte. Großbritannien, Italien, Belgien, die Niederlande stehen ihm voran, während die Volksdichte des europäischen Rußlands (außer Polen und Finnland) nur ein Fünftel von der Deutschlands beträgt.

Deutschland hat am Rhein und in Mitteldeutschland zwei ausgedehnte Gebiete dichter Bevölkerung, daneben größere Inseln dichter Bevölkerung an der Saar, der mittlern Weser, an den Mündungen der Elbe, Weser und Trave. Natürlich bildet auch jede Großstadt mit ihren Umgebungen eine derartige Insel. Diese Areale dichter Bevölkerung übertreffen an Ausdehnung die Frankreichs, Österreichs oder der südeuropäischen Länder. Der große Gegensatz zwischen dem Gebirgsland und dem Tieflande Deutschlands kommt in der Volksdichte in der Weise zum Ausdruck, daß eine Linie von Wesel lippeaufwärts über Minden nach Hildesheim, Magdeburg, Bautzen, Görlitz, Breslau und Oppeln die Bewohner Deutschlands in zwei große Gruppen nach der Dichte teilt. Nördlich davon herrschen mit den wenigen Ausnahmen der Mündungen der großen Ströme Bevölkerungen von mäßiger bis mittlerer Dichtigkeit, südlich davon wechseln dicht und dünn bewohnte Gebiete in großer Zahl miteinander ab. Leicht erkennt man hier den mächtig anhäufenden Einfluß der Hauptströme und ganz besonders des Rheins ebenso wie die der Kohlen- und Eisenlager am Nordrand der Mittelgebirgszone und das fruchtbare Gebiet des Zuckerrübenbaues. Zwischen dem Harz und der Donau liegen in vielen großen und kleinen Gebieten nebeneinander die Gegensätze von unter 25 Menschen und mehr als 250 auf einem Quadratkilometer, nördlich davon schwanken die Unterschiede nur von weniger als 25 bis 75 und sind mit langsamen Übergängen über große Gebiete verteilt. Aber auch im norddeutschen Tiefland veranlaßt der Baltische Höhenrücken eine starke Auflockerung der Bewohnung, die in Schleswig-Holstein das merkwürdige Bild einer Dreibänderung nach der Volksdichte zwischen Ostküste, Mitte und Westküste gewährt. Wenn selbst die Niederlausitz und der Fläming einen Streifen dünnerer Bevölkerung in das Tiefland hineinlegen, so ist das nicht unmittelbar Folge der Höhe, sondern kommt von der Sandüberschüttung her, die allerdings mittelbar auch mit der Erhebung dieser Landrücken zusammenhängt. Südlich von der Donau überwiegen wieder dünne Bevölkerungen, sodaß die mitteldeutschen Verdichtungen um so deutlicher hervortreten.

Ein bezeichnendes Merkmal Deutschlands ist die Erhaltung sehr dünnbevölkerter Gebiete neben dichtbevölkerten. Sie ist zunächst in der Bodengestalt begründet, deren Hügel und Berge vielfach dem Walde günstiger sind als dem Acker. Wir finden es natürlich, daß im Hochgebirge im allgemeinen keine dauernden Siedlungen über 1000 Meter liegen. Das ganze Innere des Gebirges wird dadurch zu einer Stätte der Einsamkeit, des Naturfriedens. Es überrascht uns aber, wenn wir in Oberbayern weit vom Hochgebirge entfernt in den Vorbergen Waldstrecken finden, in denen wir Meilen gehen, ohne ein Haus oder eine Hütte zu finden. Der Weg von Reith im Winkel nach Seehaus und Ruhpolding führt neun Stunden lang durch Hochwald mit wenigen Lichtungen. Der Gutsbezirk Oberförsterei Karlswalde im Kreis Sagan in Niederschlesien besteht auf etwa 200 Quadratkilometern aus einer Oberförsterei, acht Förstereien, einem Pechofen und einem Arbeiterhaus, zusammen mit 83 Einwohnern. Und der große Forst bei Hagenau, schon dem Mittelalter als »heiliger Forst« bekannt, umfaßte in der Zeit seiner größten Ausdehnung 21 000 Hektare. Da unzählige menschenleere Waldparzellen über den deutschen Boden zerstreut sind, ist selbst großen Städten die »freie« Natur noch nahe. Städte, die wie München und Karlsruhe an herrlichen Wald gleichsam angebaut sind, findet man westlich von Deutschland nicht mehr, sie fehlen auch schon dem Nordwesten unsers Landes.

Auffallend ist die Volksdichte in einigen deutschen Mittelgebirgen. Schwarzwald, Erzgebirge, Fichtelgebirge, Thüringer Wald und Riesengebirge finden unter den Gebirgen Europas wenige ihresgleichen an Volksdichte. Das Erzgebirge gehört mit mehr als zweihundert, der Thüringer Wald mit mehr als hundert Bewohnern auf einem Quadratkilometer zu den bevölkertsten Gebieten Mitteleuropas. Erz- und Holzreichtum erzeugten hier Hausgewerbe, die die Bevölkerung über die Fruchtbarkeit des Bodens hinaus wachsen ließen. Wo der Bergbau aufhörte, hat man dann, wie im Annaberger Bezirk, die fernliegenden Industrien der Spitzenklöppelei, der Posamenten, der Perl-(Gorl-) Näherei ergriffen, um auf dem Boden ausharren zu können.

Aus der alten, schon zu Rudolf von Habsburgs Zeiten bekannten Holzfällerei und -flößerei des Schwarzwalds ist die Schwarzwälder Holzschnitzerei und aus dieser die Uhrenindustrie hervorgegangen, und auf dem Holzreichtum ruht die Spiel- und Kleinwarenindustrie des Thüringer Waldes. Köhlerei, Glasbrennerei, Teer- und Pottaschebereitung halfen den Waldreichtum ausnützen. Aber ein ungewöhnliches Maß von Genügsamkeit mußte dazukommen, um auf dem rauhen Erzgebirge gegen 25 000 Menschen noch in einer Höhe von mehr als 800 Metern überhaupt Lebensbedingungen zu gewähren. In so hoher nördlicher Breite und in der Höhenlage von 600 Metern steht Annaberg mit 16 811 Einwohnern einzig da. Bei Gottesgab reift nur ein warmer Sommer ganz den Hafer, das einzige Getreide dieser Gegend, die dennoch 4000 Bewohner in einer Höhe von mehr als 900 Metern aufweist!

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Auf dem Boden des heutigen Deutschen Reichs wohnten 1816 25, 1870 41, 1895 52 und 1905 60,6 Millionen Menschen. Die Zunahme ist noch immer am größten in den ohnehin schon großen Städten und den ohnehin schon dichtbevölkerten Industriegebieten. An der Spitze stehen Berlin, dessen Bevölkerung sich seit zwanzig Jahren verdoppelt hat, Hamburg, Bremen, Sachsen, Westfalen, Rheinland. Eine mittlere Zunahme zeigen Gebiete mit einer ausgleichenden Mischung von Ackerbau und Gewerbe, wogegen unter dem Durchschnitt alle süddeutschen Länder und die dünnbevölkerten Ostprovinzen Preußens mit starker Auswanderung bleiben. Rückgang der Bevölkerung zeigen in den größern Gebieten Deutschlands nur die beiden Mecklenburg; doch gibt es in Deutschland keine Fläche von hundert Quadratmeilen, die nicht an einer oder mehreren Stellen Abnahme zeigte. Größern Geburtenüberschuß als Deutschland zeigen unter allen großen Ländern Europas nur England, Schottland und Norwegen. Er ist in Deutschland fast dreimal so groß als in Frankreich. Aber ganz langsam schwankt doch die Bewegung der Bevölkerung auch in Deutschland der Stufe der altgewordnen Kultur zu, wo die Menschen sich schwächer vermehren und länger leben.

Der überseeischen Auswanderung, die nur einen Teil des Überflusses fortführt, steht eine immer lebhafter werdende innere Wanderung zur Seite, in der eine westliche Richtung entschieden vorwiegt. Allein aus den polnischen Bezirken gehn jährlich gegen 100 000 Menschen nach West- und Mitteldeutschland. Die Bevölkerung drängt sich aber besonders nach den großen Städten zusammen und am meisten nach den volkreichsten, in denen die Vororte wieder am raschesten wachsen. Umgekehrt verliert das flache Land an Bevölkerung in wechselnder Entfernung um die Stadt. Deutschland hatte 1905 33 Städte mit mehr als 100 000 Einwohnern, England 39, Frankreich 15, Österreich-Ungarn 8. Deutschland ist gleich England städtereicher im Verhältnis zu seiner Volkszahl als seine Nachbarländer. Viele Städte haben sich in zwei oder drei Jahrzehnten verdoppelt. Dresden beherbergte 1815 1/25 und 1895 1/10 der Bevölkerung von Sachsen, Berlin hatte 1684 10 000 Einwohner. 1895 1 677 000 und 1905 2 040 222. Viele, die vor zwanzig Jahren den Mangel einer großen deutschen Hauptstadt im nationalen Interesse beklagten, sehen ängstlich der Entwicklung einer Großstadt von drei Millionen entgegen, die zwar nicht die Rolle von Paris spielen, doch aber eine besondre, in der deutschen Entwicklung bisher nicht erhörte Erscheinung von unberechenbaren Folgen sein wird. In Gesamtdeutschland nahm die städtische Bevölkerung 1822 27 Prozent der ganzen Bevölkerung in Anspruch, 1900 53,5 Prozent. Dabei sind ländliche Bezirke und kleinere Städte und Marktflecken allenthalben zurückgegangen. In Baden wuchsen in der ersten Hälfte der achtziger Jahre alle größern Städte und die gewerbreichen Bezirke, während fast alle Bezirke ohne gewerbliche Bedeutung und sechzehn Städte unter 3000 Einwohnern in derselben Zeit zurückgegangen sind.


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