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Zweites Kapitel.
Das Rechen-Exempel eines Vaters

Professor Ernst folgte dem Kommissar und seinem Begleiter auf dem Fuße.

Er nahm sich nicht einmal Zeit, den Pass des Hofmeisters auf sein Zimmer zurückzutragen, auch den Seinigen und dem Doktor warf er nur einen kurzen, lächelnden Abschiedsgruß zu und ging mit derselben Ruhe aus dem Hause wie an jedem anderen gewöhnlichen Tage.

Als er auf die Straße trat, sah er die beiden Herren nicht mehr vor sich hergehen.

Es war, als hätte sie der maßlose Schneefall, der nun schon zwei Tage und Nächte dauerte, vor seinen Augen begraben.

Dagegen sollte Professor Ernst jemand anderen zu Gesichte bekommen, der ihm jedenfalls wichtiger als die beiden Herren war.

Denn als er um die nächste Straßenecke bog, trat ein Mann, in deinen Mantel gehüllt und den Hut tief über der Stirne, aus einem Haustor auf ihn zu und sagte leise und rasch:

»Nun, Herr Professor? Man war in Ihrer Wohnung? Man hat sich versichern wollen, dass Sie keiner bedenklichen Person Unterstand geben?«

»Ja«, erwiderte der Professor, durch die Stimme, die er kannte, schnell und beruhigt.

»Ihre Familie hat doch Fassung genug behalten, um keinen Argwohn zu erregen?«

»Es ist alles gut abgelaufen.«

»Das freut mich. Übrigens wollt' ich Ihnen nur sagen, dass die Durchsuchung Ihrer Wohnung nicht aus besonderem Verdachte veranlasst worden, sondern dass in Folge eines Befehls des Gouverneurs überhaupt alle Wohnungen der Stadt durchsucht werden müssen.«

»Das ist mir lieb zu hören. Hierüber allein bin ich etwas unruhig gewesen.«

»Ich muss nun fort – doch – eines wüsst' ich gerne noch: Wie hat sich Frau von Jeneveldt benommen?«

»Ganz vortrefflich, sie hat die Rolle der Brigitte wohl gespielt.«

»Und ihr Sohn? Hat sich der Kommissar in das Zimmer des Kranken führen lassen?«

»Die Bemerkung des eben gegenwärtigen Doktors, dass die Krankheit ansteckend sei, hat ihn bedenklich gemacht und zurückgehalten!«

»Gut, gut; wir sehen uns bald wieder – Hm – wissen Sie schon?«

»Was?«

»Die Nachrichten aus Preußen …«

»Nun?«

Der Mann im Mantel gab nicht mehr zum Besten, was er eben vertraulich mitteilen wollte, er sagte nur noch:

»Adieu! Adieu! Dort kommt jemand, der uns nicht mit einander verkehren sehen darf – wir sehen uns bald wieder, dann mehr!«

Und nach diesen Worten war er bald um die nächste Straßenecke verschwunden.

Professor Ernst ging nun allein und ruhig wie zuvor seines Weges und dachte lächelnd:

»Es war doch ein kühner und glücklicher Streich von dem wackeren Erbacher, dass er diesen Spürmatz, diesen Hetzfeld da mit in sein Komplott verwickelt hat, er ist nun gezwungen, wider Willen uns die besten Dienste zu tun und unter tausend Sorgen und Nöten an dem Hause Jeneveldt gut zu machen, was er an demselben verbrochen hat! …«

Während dieses auf der Straße vorfiel, ging es in der Wohnung des Professors, wenn auch nicht lärmend, doch recht bewegt zu.

Denn es hatten sich die Professorin, der Doktor und Aline in einem Zimmer um Brigitte, die in einem Lehnstuhle saß, versammelt und sprachen nun auf die verschiedenste Weise aus, was ihnen eben auf dem Herzen lag.

Brigitte – oder wie wir nun bereits wissen – Frau von Jeneveldt, sah jetzt etwas angegriffen aus in Folge des Schreckens, den sie eben so wacker zu bekämpfen gewusst; aber ihr Geist war auch jetzt noch mächtiger als ihr Leib, denn sie lächelte im Ganzen vergnügt zu ihrer Umgebung empor und sagte auf all' die Äußerungen der Teilnahme, des Trostes und der Ermunterung endlich:

»O, mein Herz ist bei alldem von Grund aus froh. Was wäre eine Mutter, wenn sie nicht in Zeiten der Gefahr zu beweisen im Stande wäre, dass ihr das Wohl ihrer Kinder über alles gehe? Ich will es als kein Unglück, ich will es als eine besondere Gunst des Himmels ansehen, dass mir vergönnt worden ist, für mein Kind Gefahren zu ertragen. Wie viel seliger bin ich hier als niedere Magd für das Wohl meines Sohnes tätig, als wenn ich fern von ihm in Samt und Seide durch stolze Gemächer schritte, die Pflege des Kranken in anderen Händen wissend. Nein, nein! Ich will mich beneidet und nicht bedauert wissen, dass die äußerste Gefahr für meinen Sohn vorüber ist!«

»Sie ist vorüber«, erwiderte der Doktor, »Otto wird, wenn seine kräftige Natur und unsere Sorgfalt wie bisher zusammenhelfen, binnen drei Wochen außer Bette sein, ich versichere dies wiederholt, gnädige Frau!«

»So lasst uns jetzt wieder gestärkt und vergnügt ans Tagewerk gehen«, sagte Frau von Jeneveldt, sich rüstig aus dem Lehnstuhle erhebend: »Brigitte ist dem Krankenheute noch eine sorgsame Pflege und den Gesunden im Hause einen guten Mittagstisch schuldig. Alinchen, mein Goldmädchen, bitte ich mir wie immer zur Hilfe aus!«

Aline errötete vor Freude und Bereitwilligkeit, und beide gingen nach der Küche, während der Doktor noch einmal nach dem Kranken sah, der wieder schlief; hierauf verordnete er genau, was bis zu seinem Wiederkommen für den Kranken zu geschehen hätte, und entfernte sich dann …

Am folgenden Abend ging ein Mann, bis an die Augen in einen Mantel gehüllt, die Treppe zur Wohnung des Professors hinauf.

Er klopfte leise an die Vortür des Hausgangs, und als ihm geöffnet wurde, fragte er, ohne sein Gesicht weiter zu enthüllen, ob der Herr Professor zu Hause sei.

Man erwiderte mit Ja, und er bemerkte, dass er ihn zu sprechen wünsche.

Da er seinen Namen nicht nennen wollte, so meldete man eben einen Fremden und bat ihn dann, auf die Einladung des Professors hin, in das Zimmer zu treten.

Der Mann im Mantel hatte bereits die Zimmertüre im Rücken, war vom Professor erkannt und warm begrüßt worden, saß endlich neben diesem auf dem Sofa, ohne dass er den Mantel ablegte und seine Stimme mehr als zu einem leisen, dumpfen Tone anstrengte.

»Was führt Sie so unerwartet zu mir?« fragte der Professor lebhaft und nicht ohne Unruhe – »Ist etwas geschehen, was uns nicht lieb sein könnte?«

»Hetzfeld hat vom Gouverneur den Auftrag erhalten«, erwiderte der Mann im Mantel, »sich in genaue Kenntnis von allem zu setzen, was im Schlosse Jeneveldt vorgeht. Man weiß nun zwar, dass der alte Herr wie sein eigener ruheloser Schatten allein dort lebt und bei der Schwierigkeit alles Verkehres in diesen schrecklichen Wintertagen schwerlich irgend Verbindungen unterhalten kann, allein man möchte dem ehrlichen Manne auch seine innersten Gedanken ablocken, um daraus sein Verhalten in nächster Zeit zu entnehmen.«

»Nun, da es Hetzfeld ist, den man sendet, so dürfen wir beruhigt sein«, sagte der Professor nach einer Pause ernsten Nachdenkens – »Wann wird er reisen, und was hat er Ihnen über die Art und Weise, wie er zu Werke gehen wolle, mitgeteilt?«

»Er reist vor Tagesanbruch. Über seine Absichten hat er mit weiter nichts gesagt, als dass er mich versicherte, dem alten Manne werde kein Haar gekrümmt werden, ja er wolle seine Sendung so vollziehen, dass man dem Schlosse Jeneveldt nicht sobald wieder amtliche Aufmerksamkeit schenken werde.«

Es entstand eine Pause tiefen Schweigens, dann fuhr der Mann im Mantel mit etwas veränderter Stimme fort:

»Hetzfeld wird auch einen Besuch im Hause Erbachers machen. Er wird nach dem Sohne fragen und nach seinem Verkehre mit dem verstorbenen Otto Jeneveldt; die guten Alten werden wahrscheinlich sehr erschrecken, aber doch die Freundschaft der jungen Männer nicht leugnen. Die Folge wird sein, dass die Alten sich freuen werden, ihren Sohn nicht daheim zu wissen, und dass sie wünschen werden, er möge seine Lustreise, die seit September dauer, auch bis Ende Winter noch fleißig fortsetzten.«

»Ist dieser Plan eine Erfindung Heztfelds?«

»Nein; da man ihm aber aufgetragen, über alle Verbindungen Otto Jeneveldts Erkundigung einzuziehen, so beschloss er wenigstens, mit dem Unangenehmen das Nützliche zu verbinden und indirekt Erbachers Eltern mit der Abwesenheit ihres Sohnes zu versöhnen.

Es entstand nun wieder eine Pause des Schweigens, die aber wie vorhin keineswegs Mangel an Stoff, sondern vielmehr eine Fülle von inneren Bewegungen zum Grunde hatte.

Dass sagte Professor Ernst:

»Dass heute Vormittag mein Hauspersonal durchgemustert worden ist, werden Sie wissen; vielleicht hat Ihnen Hetzfeld auch bereits gesagt, dass alles gut abgelaufen ist.«

»Ja«, erwiderte der Mann im Mantel und setzte dann hinzu: »Der Kranke wird sich einst, wenn alle glücklich bestanden ist, nicht wenig wundern, zwischen welchen Abgründen von Gefahr sein Krankenlager aufgeschlagen war. Aber wie geht es ihm? Ach, seine Mutter! Seine Mutter! Ich weiß kaum, nach wessen Befinden ich eher fragen soll!«

»Beide sind wieder um ein gutes Stück rüstiger«, erwiderte der Professor – »Frau von Jeneveldt hat sich mit einer Freudigkeit der magdlichen Pflege ihres Sohnes unterzogen, dass man sie kaum mehr bedauern darf trotz des oft hervorbrechenden Schmerzes über all' die Leiden des Sohnes. Otto schläft nun wenigstens schon Stunden lang ohne Fieber und phantasiert merkwürdiger Weise täglich – von der schönen Professorenfamilie, welche er aus dem Fenster seiner zweiten Gefängniszelle kennen gelernt hat – es muss ein wundersamer Eindruck in seinem Gemüte zurückgeblieben sein, den nun seine Fieber und Träume immer aufs Neue ausbeuten.«

Dem Manne im Mantel rückte sich jetzt das Tuch bis an den Hals vom Gesichte; er stand auf und ging zwei Male, lief in Gedanken durch das Zimmer.

Sein Auge leuchtete seltsam, und seine männlich schönen Züge schimmerten fast in Marmorblässe.

Eben wollte er sich wieder neben dem Professor niederlassen und mächtig bewegt dessen Hand erfassen, als der Professor auf einige Augenblicke abgerufen wurde.

Aline klopfte nämlich leise an die Türe und rief nur schüchtern leise draußen:

»Vater, Vater, nur auf einige Worte möchtest Du herüber kommen.«

Der Professor ging hinaus, und der junge Mann im Mantel setzte sich mit Hast an den Schreibtisch und schrieb mit fliegender Hand einige Zeichen nieder, die wahrscheinlich das enthielten, was er eben als mündliches Geständnis auf den Lippen gehabt hatte.

Als er damit zu Ende war, ließ er die Zeile offen, wie er sie auf das Blatt geschrieben hatte, auf dem Tische liegen, erhob sich, ging durch das Zimmer und setzte sich dann, wieder bis über das Kinn in den Mantel gehüllt, in eine Ecke des Sofas.

Der Professor kam zurück und hörte seinen wunderlichen Gast die Bitte aussprechen, die Zeilen, die auf dem Tische lägen, zu lesen.

Ernst las sie stehend, überlas sie dann noch einmal – vertiefte sich immer mehr in den Inhalt der geschriebenen Worte, ließ sich hierauf sogar nachdenklich am Schreibtisch also nieder, dass er schweigend den Kopf in beide Hände legte und seine Augen unbeweglich auf die Zeilen des Blattes heftete.

Als er endlich mit einer raschen Bewegung sich erhob, um eine Bemerkung über den Inhalt des Blattes zu machen, stand der junge Mann bereits vor ihm, umarmte ihn rasch und lautlos, nahm sich auch keine Zeit, ihm zum Lebewohl die Hand zu drücken, sondern ging ebenso lautlos zum Zimmer hinaus und war verschwunden, bevor der Professor sich recht erholt und besonnen hatte …

Dieselben Zeilen des Blattes waren am folgenden Morgen eben wieder der Gegenstand eines tiefen Nachdenkens des Professors, als die Türe zu seiner Studierstube hastig aufgetan wurde und Aline mit glühenden Wangen hereintrat.

»Vater, Vater – geschwinde!« rief sie eigentümlich erschrocken und freudig zugleich.

»Nun, was gibt es denn?« fragte Ernst noch halb in Gedanken, aber mit Blick auf sein schönes Töchterlein, der wohl bezeugte, dass ihre Erscheinung nichts weniger als ganz außer Zusammenhang mit dem Gegenstande seines Nachdenkens stand.

»Der Kranke ist erwacht«, fuhr Aline, etwas stockend und noch höher errötend, fort.

»Nun?«

»Und hat gehört, dass Brigitte auf den Zehen durch das Zimmer ging und hier und dort allerlei in Ordnung bringe …«

»Gut, gut …«

»Und da fragt er auf einmal – aber komm' doch, komm' Vater, hör nur, was er für Gespräche mit Brigitte führt – die Mutter ist auch drüben; es geht und alle an, was der Kranke mit Brigitte für Reden führt!«

Es war nun ein gar anmutiges Bild, wie Aline mit reizendem Ungestüm den ernsten, gemessenen Papa an der Hand erfasste und ihn ohne weitere Umstände aus der Studierstube mit sich fortzog.

Es handelte sich in der Tat um nichts Geringeres als um ein Examen, welches der Kranke mit Brigitte begonnen hatte, um über die schöne Professorsfamilie so viel Bestimmtes als möglich zu erfahren. Denn als Brigitte auf seine Frage, wo sie zu Hause sei, einen Ort in der Nähe der Festung genannt hatte, wünschte er mit großer Neugierde zu wissen, ob sie schon einmal in der dortigen Stadt gedient hätte, und als sie dieses bejahte, ließ er sich die Familien nennen, in deren Dienst sie gestanden habe. Brigitte nannte unter diesen nicht ohne Absicht – die Professorsfamilie, welche den Kranken so oft in seinen Träumen beschäftigt hatte.

Dies Geständnis schien den Kranken mächtig zu ergreifen, und sofort begann er mit Hast nach den Verhältnissen der Familie im Allgemeinen, dass im Besonderen – und endlich gar nach den einzelne Namen und Charakteren der Eltern und Kinder zu fragen.

Brigitte gab treffend und liebenswürdig wohlbedachte Antworten.

Als der Professor mit Aline sachte in das Krankenzimmer schlich, war von der Letzteren eben ganz besonders und ausführlich die Rede.

Brigitte schilderte sie wahr und liebevoll als ein unvergleichlich holdes Kind und unterließ nicht, indem sie sich während ihrer Schilderung mancherlei im Zimmer zu schaffen machte, neckische Blicke auf Aline zu werfen, die denn auch, da ihr ein solches Lob ganz unerwartet kam, verwirrt und errötend die Flucht ergriff.

Die Folge dieser Unterredung war zunächst, dass der Professor auf seine Studierstube seine früheren Gedanken lebhafter und nun mit einer Art seltsamer Rührung fortsetzte.

Als ihm gegen elf Uhr desselben Morgens Aline wie gewöhnlich eine Schale Suppe brachte, fand sie, dass seine Augen etwas gerötet waren und dass sein ganzes Wesen nicht jene unverwüstliche Ruhe wie gewöhnlich zeigte.

Es schien, als ob ihn der fragende, besorgte Blick des Kindes etwas in Verwirrung setzte, infolgedessen er ein Heft seiner mathematischen Schriften vom Tische streifte, so dass es auf dem Boden hierhin und dorthin auseinander stäubte.

Aline ließ sich sofort auf die Knie nieder und sammelte wehklagend »die konfusen Rechnungen, denen jetzt niemand mehr den Kopf werde zurechtsetzen können.«

Ihr Vater ließ sie einige Augenblicke gewähren – dann aber, als sie ihm bis an sein Knie herangerückt war, ergriff sie mit beiden Händen zitternd bei dem schönen, dunkelblonden Köpfchen, rückte es ihr so nach aufwärts, dass seine gerührten, mächtigen Blicke bequem auf ihren großen, tief leuchtenden braunen Augen ruhen konnten, und sagte nach einer Weile mit einer Stimme, die sein Kind nie so mild und wohlklingend gehört hatte:

»Diese Rechnungen kenne ich und werde sie in Ordnung zu bringen wissen, mein Kind; aber ob sich die neue Aufgabe, die mir seit gestern geworden ist, glücklich berechnen und lösen lasse, das wüsste ich gerne, denn die Aufgabe hat angefangen, mir wert und lieb zu sein …«


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