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Drittes Kapitel.
Abschied von den Lieben – Abschied vom Leben

August und die Hälfte September waren unter wechselnden inneren und äußeren Erlebnissen vorüber; auf dem Kriegsschauplatze waren große Schläge gefallen: bei Smolensk hatte Napoleon am 17. August die Russen besiegt, an der Moskwa, wo am 7. September derselbe gleichfalls das Feld behauptete, lagen dreißig Tausend Leichen; mit der Einnahme Moskaus sollte der größten Macht, die dem Eroberer noch widerstand, der Gnadenstoß gegeben werden; die Welt sah mit Entsetzen und Bangen diesem letzten Schritt des Schlachtenmeisters zu, und keine Wahrscheinlichkeit schien vorhanden, dass ihm sein letzter, entscheidender Schlag nicht auch gelingen werde.

Im Schlosse Jeneveldts saß man eines Tages wieder vollzählig beisammen und besprach die Lage der Dinge mit beklemmtem Herzen; über Ottos Schicksal war auch jetzt noch nichts entschieden, sein Los war ungewisser als zuvor.

Da trat Friedrich wieder zu den still Versammelten.

Sein Blick war sanft, und sein gewohnter Ernst hatte eine Milde angenommen, wie sie nie an ihm gesehen worden war.

»Ich werde einige Tage verreisen«, sagte er, als der frühere Gegenstand des Gespräches zu Ende war und man einen neuen noch nicht aufgenommen hatte.

»Ich bin gewohnt, jeden Sommer einmal eine Wanderung ins Gebirge zu machen; sie stärkt mir immer Geist und Herz zugleich. Heuer habe ich diese Reise aus Gründen verschoben und will nun die letzten Tage des September noch benützen, das Versäumte nachzuholen.«

Auf die Frage, wie lange er ausbleiben wolle, gab er eine Erwiderung, die ebenfalls geeignet war, die Schlossbewohner zu beruhigen.

»Und wann wollen Sie abreisen, Fritz?« fragte Frau von Jeneveldt mit einem mütterlichen Blicke.

»Hoch heute, da es scheint, wir werden bald statt des Herbstes den Winter vor der Türe haben.«

»Heute!« rief Frau von Jeneveldt mit abergläubischer Sorge: »Reisen Sie heute nicht, Fritz, reisen Sie morgen! Wissen Sie denn, dass Freitag ist? Freitag soll niemand reisen, der nicht muss!«

»Es wird nicht gut anders zu machen sein«, erwiderte Friedrich lächelnd, »meine Sachen sind gepackt, meine Mutter hat mein Osterlamm gebacken, wie sie es immer nennt, wenn ich auf einige Zeit verreise, obwohl es kein Ägypten ist, das ich verlasse, – auch zweifle ich, dass ich morgen so gutes Wetter haben werde als heute – und es ist doch so viel wert, bei heller Sonne seinen Ausmarsch anzutreten!«

»Nun so gehen Sie, gehen Sie, wunderlicher Mensch«, sagte Frau von Jeneveldt, »da sind Sie wieder Wochen mit diesem Gedanken umgegangen und jetzt – jetzt erst – gleichsam den Reisestock in der Hand, kommen Sie uns Ihre Absicht mitzuteilen!«

Auch Frau von Vollwarth ließ es nicht an Vorwürfen fehlen, Herr von Jeneveldt aber, der bisher geschwiegen hatte, stand jetzt auf und sagte:

»Da hätte ich fast etwas Wichtiges vergessen – ich muss auf mein Zimmer – Fritz, wenn Sie von den Damen Abschied genommen haben, kommen Sie auf einige Sekunden zu mir!«

Er ging fort, und bald darauf nahm Friedrich mit demselben milden Ernste und mit verklärtem Frieden im Gesichte Abschied von den Damen, neigte sich zärtlich wie ein Sohn zur Hand der Frau von Jeneveldt nieder, küsste sie, drückte dann Frau von Vollwanth und Mathilde warm ihre Hände und ging durch den großen Saal nach dem Kabinett des Herrn von Jeneveldt.

Beide sprachen eine Weile geheimnisvoll miteinander – dann traten sie heraus – Herr von Jeneveldt fiel dem jungen Manne plötzlich mit stummer Bewegung an den Hals, trat wieder zurück und brachte nur bebend die Worte hervor:

»Das sag' ich Dir aber – wenn Du mir zu weit gehst, Fritz – komme mir nie mehr vor Augen – nie mehr! Muss mein Sohn zum Opfer fallen, so rette wenigstens Dich – brich uns das Herz nicht! Einer von Euch muss uns leben bleiben; kann es mein Sohn nicht sein, so kehre Du uns wieder!«

Er wand sich nach diesen Worten los, eilte in sein Kabinett zurück und schloss es hinter sich ab.

Friedrich ging einige Schritte etwas wankend weiter; doch fand er schnell seine Fassung wieder, blickte noch einmal nach den Räumen des Saales – nach dem Hänfling im Käfig – nach Ottos Gemach zurück – dann ging er nachdem Schlosshof hinunter.

Als er an das kleine Hoftor kam, welches nach der Allee zum Dorfe führt – stand Mathilde da und stützte sich bleich und mit verweinten Augen an eine Mauerkante.

»Ei, mein Fräulein«, sagte Friedrich mit freundlicher Ruhe, die ihn die größte Überwindung kostete: »Habe ich die Freude, Sie noch einmal zu sehen?«

Mathilde konnte nicht gleich antworten, aber ein kleines Bouquet Blumen hielt sie ihm entgegen, worauf sie sagte:

»Es sind noch einige holde Zeugen, welche den vergangenen Sommer gesehen haben – nehmen Sie sie mit auf Ihre Wanderung und denken Sie des Bodens, wo sie gewachsen sind – und denken Sie der hellen und trüben Tage, welche Sie mit uns gemeinsam gelebt und genossen haben.«

»Ich nehme sie an, mein Fräulein«, erwiderte Friedrich, seine Blicke unverwandt auf die Blumen heftend, »wenn auch mein Angedenken länger leben wird als die Kinder eines Sommers, so wird mich doch die Glut ihrer Farben lehren, wie frisch und lebendig meine Erinnerung an die schönen Stunden unseres Beisammenseins bleiben soll.«

Mathilde brach in stilles Schluchzen aus, und indem sie mit der Linken ihre Augen bedeckte und die Rechte zum Abschied hinreichte, sagte sie nach einer Weile nur:

»Leben Sie wohl, Erbacher – und reisen sie glücklich – und möge Ihnen die Absicht Ihrer Reise wohl gelingen!«

»Ich hoffe«, sagte Friedrich, kaum seiner Fassung mächtig, »ich hoffe wohl und munter in Kurzem zurück zu sein … Aber – was muss ich sehen – eine so harmlose Reise und Sie weinen, Fräulein?«

»Es ist eine Schwäche von mir«, erwiderte Mathilde nach einer Pause, ihre Tränen trocknend, »dass ich niemand kann Abschied nehmen sehen, ohne einem tiefen Weh zu verfallen …

Denn wer geht und kann sagen, er kehre wieder? Und wer kehrt wieder, um alles zu finden, wie er es verlassen hat? … O, es eilt und verändert sich alle – und während der Trennung einer kurzen Reise bemüht sich das Schicksal oft, einen Riss in die festgefügte Ordnung zu führen!«

»Wir wollen heiterer denken und fest auf glückliches Wiedersehen bauen«, erwiderte Friedrich: »Das ist ja, wie Frau von Jeneveldt sagt, das beste Mittel, zu machen, dass alles so kommt, wie wir es wünschen!«

Er reichte Mathilde die Hand.

»Also herzlich Lebewohl, mein Fräulein …«

»Leben Sie wohl …«

»Und denken Sei freudiger meiner, als Sie scheiden!«

»Ich könnte es vielleicht, wären Sie aufrichtiger gewesen …«

»Wie?«

»Ihre Reise ist das nicht, was Sie vorgegeben haben …«

»Was sagen Sie?«

»Leben Sie wohl! Leben Sie wohl!« rief Mathilde schnell und riss sich unter einem Strom von Tränen los …

Während dieses Auftritts hatte sich Frau von Vollwarth auf das Zimmer ihrer Tochter begeben, um en Muster für eine Arbeit, die sie sich für Friedrichs Rückkehr eben ausgesonnen, zu holen.

Sie fand das Muster auf dem Tische vor dem Sofa liegen, nahm es und wollte eben zur Frau von Jeneveldt zurückkehren, als ihr das noch offen liegende Tagebuch ihrer Tochter auffiel.

Durch gewisse Besorgnisse etwas gespannt und neugierig geworden – nahm sie das Buch auf – blätterte – las – erstarrte und erblasste wie eine Leiche – las – entdeckte in klaren Worten das ganze Geheimnis zwischen Friedriech und Mathilde – und sank sprachlos, fast ohnmächtig in eine Ecke des Sofas nieder …

Doch ist es nun höchste Zeit, zu unserem unglücklichen Gefangene, Otto von Jeneveldt, zu eilen, damit wir endlich auch von ihm erfahren, was er eigentlich erlebt und erlitten hat!


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