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Viertes Kapitel.
Nach dem Orte der Bestimmung

Nachdem Otto Jeneveldt aus seinem väterlichen Schlosse fortgeführt und durch seinen Vater ein vergeblicher Versuch gemacht worden war, ihn in der Nähe des Schlosses zu sprechen, ging der Zug nach dem traurigen Orte seiner Bestimmung eigentlich ohne Störung und Unterbrechung von Statten.

Im ersten Dorfe, das man vom Schlosse aus erreichte, wurde Otto zu seinem Staunen gewahr, welches übertriebene Gewicht man auf seine Verhaftung lege, indem zu dem vorhandene Trupp Kürassiere noch einige Mann Bedeckung hinzugenommen wurden, so dass die Zahl derselben auf etwa fünfzig stieg.

Mit wehmütigem Lächeln dachte Otto in der Stille seines Herzens: Französisch! Schauspielerpomp! Gloire, gloire! Selbst auf Kosten eines waffenlosen jungen Menschen!

Indessen waren solche Gedanken der einzige Widerstand, welchen Otto leistete und leisten konnte.

Er hatte beschlossen, sein Schicksal mit jener Ruhe und Würde zu tragen, welche stets geeignet sind, auch dem rohesten Feinde Achtung einzuflößen; er konnte sich auch nicht überzeugen, dass eine wirkliche Gefahr für sein Leben aus den gefundenen Papieren entspringen könne.

Freilich, auch ohne eine solche Gefahr musste er seine Lage eine erschütternde nennen. Aus welchem Kreise von Menschen, aus welchen reizenden Verhältnissen seines Lebens wurde er gerissen!

Doch hatte er auch hierfür seine Fassung gewonnen, seinen Beschluss gefasst.

Er hätte es für eine Entweihung seiner Leiden gehalten, sie dem rohen Auge des Feindes bloßzulegen, auch wollte er durchaus vermeiden, dass man die Zeichen seines Grames als Selbstanklage verstehe und seiner Schuld zur Last lege.

Lebt und tröstet euch untereinander, ihr Lieben daheim, war der oft mit stille gehobener Brust gedachte Gedanke, ich will bestrebt sein, fest und aufrecht zu bleiben bis zu unserem glücklichen Wiedersehen! Und sollte es diesen Fremden in Deutschland, dieser roh-gewaltigen Willlkür gefallen – sollte sie in der Tat zu einem Äußersten sich dahin reißen lassen – gut, so möge es geschehen; noch ist nicht aller Tage Abend gekommen!

Die äußerste Ruhe Ottos übte auch bald auf seine Umgebung eine sichtbare Wirkung aus.

Man schien bereits nach einigen Stunden den Gedanken, als ob Otto auf seine Flucht sinnen könne, aufzugeben und entließ im ersten Flecken die Hälfte der Mannschaft, die den Zug begleitete.

Dieses Vertrauen zu dem Verhafteten stieg, als Otto bei einer Wendung des Weges dem Offiziere bemerkte, es sei eine falsche Richtung, welche der Kutscher fahren wolle, nicht links, sondern rechts führe die Straße nach der Stadt, wohin man kommen wolle.

Man überzeugte sich, dass er recht bedeutet habe, und nach etwa einer Stunde Weges wurden von der ganzen Bedeckung nur noch vier Mann beibehalten, welche nicht mehr zu Pferde, sondern in einem geschlossenen Wagen folgten.

Im nächsten Orte, wo einige Augenblicke Halt gemacht wurde, schied auch der »Fremde« aus Ottos Wagen, und der Offizier setzte sich statt seiner in denselben, nicht ohne zwei geladene Pistolen neben sich zu legen.

Hier war es auch, wo sich Otto vielleicht ohne Schwierigkeit dem Feinde durch die Flucht hätte entziehen können, indem während des Umspannens beinahe eine volle Stunde verfloss, und des seltsamen Aufzuges wegen eine Menge Neugieriger zusammen lief, die bei dem schon vielfach in den Gemütern herrschenden Ingrimm gegen die Brutalität französischer Gewalt leicht zu Hilfe gerufen und zu einem Wagestück begeistert werden konnte.

Otto ließ sich aber durch die augenblickliche Versuchung, seine Freiheit wieder zu gewinnen, nicht fortreißen, indem er wohl bedachte, dass er durch einen solchen Fluchtversuch nur noch andere in ein trauriges Verhängnis ziehen, sich selbst aber immer noch sehr zweifelhaft befreien würde. Denn selbst beim glücklichsten Gewinne seiner Freiheit war der Umstand zu bedenken, dass er dann rettungslos für schuldig und sein Elternhaus den ungemessensten Belästigungen ausgesetzt werden würde.

Er blieb daher mit Ruhe seinen ersten Entschließungen getreu, half unter Weges, wenn man durch Flecken oder Städte fuhr, selbst die Fenster seines Wagens schließen, und wurde irgendwo Halt gemacht, so sprach er französische, um dem Wunsche seines Begleiters, die Reise von nun an im strengsten Inkognito zurückzulegen, bereitwillig entgegenzukommen.

Der Offizier selber nannte an keinem Tore seinen Namen und wies die Fragenden mit Ungestüm ab. Es gab Otto immer einen Stich ins Herz, wenn es an den Schlafbäumen nur barsch so hin: »Französische Ober-Offiziere mit kaiserlicher Depesche« hieß und die Schlagbäume aufwärts flogen und die Hüte der Torsteher sanken. Auf diese Weise wurden achtzehn Meilen ohne Aufenthalt zurückgelegt, und um fünf Uhr des nächsten Morgens hielt der Wagen vor dem Tore der großen deutschen Festung.

Auf das Verlangen des Offiziers wurden die Torschlüssel vom Kommandanten abgeholt, es wurde geöffnet, und der Wagen mit dem Gefangenen hielt nach kurzer Fahrt vor der Wohnung des französischen Gouverneurs.

Diesem wurde Bericht erstattet über den glücklichen Ausgang der Expedition, hierauf entließ der Offizier auch die letzten vier Kürassiere und fuhr allein mit Otto auf die Zitadelle.

So sehr war der Offizier nun überzeugt, dass Letzterer keinen Fluchtversuch mehr machen würde, dass er mit dem Gefangene zu Fuß zu dem außer dem Tore der Zitadelle wohnenden Kommandanten ging; dort übergab er ihn gegen Empfangsschein.

Otto wurde nun einstweilen in ein Zimmer des Kommandantenhauses gebracht und unter die Aufsicht des Adjutanten des Platzes gestellt.

Der Offizier, welcher ihm in diesem Zimmer Platz machen musste, ließ die darin befindlichen Möbel sofort entfernen, und es war zuletzt nur noch ein Bett vorhanden. Otto hatte in einer Zeit von mehr als dreißig Stunden kein Auge zugemacht und beinahe nichts gegessen; er war daher in hohem Grade erschöpft und konnte sich kaum auf seinen Füßen halten. Er bat den Offizier, ihm wenigsten das Bett noch einige Stunden im Zimmer zu lassen, um ein wenig ruhen zu können. Der Offizier bewilligte es scheinbar mit großer Höflichkeit und entfernte sich. Kaum aber hatte Otto von der Erlaubnis Gebrauch gemacht und sich ausruhend hingestreckt, als eine Wache ins Zimmer trat und mit vorgehaltenem Bajonett ihn wieder aufzustehen zwang.

Auf Ottos Frage, wie er für Geld zu essen und zu trinken bekommen könnte, wusste die Wache keine Auskunft.

Erst der Gefangenenwärter, welcher nach Mittags erschien und eine Schüssel kalten Gemüses auftischte, dessen Anblick Otto wieder alle Esslust vertrieb, gab nach einigem Drängen Auskunft, dass um Geld und gute Worte wohl so manches zu erhalten sei, was ein Gefangener begehren dürfe. Otte bat, ihm denn sogleich ein Glas Wein und ein Stück Brot zur Stärkung bringen zu lassen, was denn auch erfolgte.

Unterdessen war das für ihn bestimmte Gefängnis zurecht gemacht worden, und als das Dunkel des Abends hereinbrach, begleiteten ihn der Kommandant und der Platz-Adjutant dahin und wünschten ihm gute Nacht.

Ersterer sagte noch, bevor er ging:

»Die Hausordnung in der Zitadelle ist zwar streng, aber liberal. Sie können alle Bequemlichkeiten haben, die Sie wünschen. Nur muss ich Sie erinnern, dass es nur auf Ihre Kosten geschehen kann.«

Und wirklich habt ihm das französische Gouvernement die ganze Folgezeit seiner Gefangenschaft hindurch nicht einen Bissen Brot zum Essen und nicht einen Strohhalm zum Lager gegeben, außer er zahlte es mit ungeheuren Preisen.

Otto hatte sich nach der Entfernung des Kommandanten und seines Begleiters nicht viel Zeit genommen, die Gefängniszelle, in welcher er vielleicht viele und gefährliche Tage hinbringen sollte, genauer zu betrachten.

Seine ganze Sehnsucht ging nach Ruhe und Schlaf, und um diese zu genießen, prüfte und suchte er nun ohne Verweilen sein Lager.

Ein langer, traumloser, höchst erquicklicher Schlaf umfing ihn bis zum nächsten hohen Morgen.

Aber so angenehm ihm nun war, sich durchaus gestärkt zu fühlen, so peinvoll war ihm doch der Anblick seiner neuen Welt am Morgen beim Erwachen.

Denn er sah, dass er sich in einem backofenförmigen Gewölbe befand, das nur auf zwei Seiten mit senkrechten Mauern geschlossen war. An Licht war keine Mangel, indem dieser Behälter mit einem großen Fenster versehen war, das die Aussicht auf den geräumigen, an den Seiten mit Bäumen bepflanzten Waffenplatz darbot. Zwischen den zwei Zoll starken eiserenen Stäben, die ihn abhielten, das Fenster als Türe zu gebrauchen, konnte er die Wälle und sogar die Wimpel der im nahen Flusse liegenden Schiffe sehen und zählen. Nur ein Umstand war sehr betrübend: die Sonne hatte noch nie einen ihrer Strahlen durch dies Fenster geworfen, weil es nach der Nordseite des Gefängnisgebäudes hin gelegen war.

Nachdem nun Otto die äußeren Umgebungen seines neuen Aufenthaltes sorgfältig gemustert hatte, warf er auch einen prüfenden Blick auf die innere Baulichkeit desselben.

Es war, wie erwähnt, ein Gewölbe, acht bis neun Fuß hoch, worin Otto der Länge nach zwölf bis dreizehn, der Breite aber nach über sechs Schritte aufrecht schreiten konnte, ohne wider das Gewölbe mit der Stirn zu stoßen. Einen wunderlichen Eindruck machte auf Otto die Bemerkung, dass sich nirgends eine Türe zeigte, durch welche er am vorigen Abend in den allwärts abgeschlossenen Raum konnte gekommen sein, bis er entdeckte, das es durch eine im Fußboden angebrachte Falltüre musste geschehen sein.

So teilte ich, sagte er nicht ohne Lächeln vor sich hin, die Götter- und Geisterweise in der Oper und stieg, freilich ohne Kolofoniumfeuer, aus dem Boden empor.

Im Verlaufe seiner Beobachtungen entdeckte er in einem Winkel auch eine klirrende Vorrichtung zur Fesselung jener Bewohner, welche in diesem Raume etwa Lust zeigen sollten, mehr Unruhe zu verursachen, als zu gestatten war.

Die Mauern und Decken zeigten sich mit Namen und Denksprüchen, mit Rechnungen und Kalendernotizen so voll geschrieben, dass Otto unwillkürlich und lächelnd dachte: Wo sollen meine Bemerkungen und Gedanken hier ein Plätzchen finden?

Besorgnis erregte dem jungen Gefangenen der unsaubere, nicht mit Brettern getäfelte, sondern mit Gras ausgegossene Fußboden, dessen natürliche Kälte mit der Zeit sehr nachteilig wirken musste.

Doch, was half das alles?

So viel war gewiss: es ließ sich hier vor der Hand nichts rücken und nichts ändern. Otto begnügte sich also mit der Wohnung im Ganzen und insbesondere mit dem kleinen Tische, zwei Rohrstühlen und dem ärmlichen Bette, bis er sich durch Geld und etwas mehr Vertrauen bei den Wächtern die Lage der Umgebung Stück für Stück würde verbessern können.

Er zahlte fürs erste monatlich drei Taler Courant Miete, was ihn wenigstens eines Dankes für geleistete Dienste enthob …

Zwei Dinge waren es nun vor allem, welche Ottos Gemüt auf schmerzliche Weise berührten.

Er konnte fürs erste nicht durchsetzen, dass man in die Art seiner Bedienung eine menschenfreundliche Ordnung bringe, fürs zweite musste er bald empfinden lernen, dass es für einen strebsamen Menschen leichter ist, alle gewohnten Bequemlichkeiten des Lebens zu vermissen, als der Gelegenheit, sich rüstig zu beschäftigen, beraubt zu sein.

Otto hatte mit dem Gefangenenwärter ein Abkommen getroffen, dass ihm sein Frühstück um sechs, längstens um sieben Uhr früh gereicht werde. Er sollte indessen schon am ersten Morgen erfahren, dass Pünktlichkeit nicht zu den schätzenswerten Eigenschaften des Hause gehörte; denn das Frühstück, zwei Tassen sehr mittelmäßigen Kaffees, erschien erst um zehn Uhr morgens; und dabei erfuhr Otto erst mit klaren Worten die eigentliche Tragweite seiner Gefangenschaft.

Er war auf hohen Befehl des französischen Gouverneurs als ein Staatsgefangene von äußerster Wichtigkeit überliefert worden, der au grand secret verwahrt werden müsse und für den die Herren mit ihren Köpfen haften sollten.

Der Gefangenenwärter konnte also nicht zu ihm kommen, wann er wollte, weil der Kommandant oder sein Adjutant die Schlüssel zu seinem Kerker in der Tasche führte. Im Beisein eines von diesen Herren erhielt nun Otto immer sein Frühstück, Mittag- und Abendbrot, durfte mit den Leuten, die es brachten, nicht reden, sondern musste, wenn er etwas zu bestellen hatte, sich mit einem Ersuchen direkt an den Offizier wenden.

Nur dreimal des Tages wurden die schrecklich knarrenden Schlösser der Türe, in ihn verwahrten, bald früher, bald später geöffnet, wenn es eben dem betreffenden Offizier gelegen war.

Es traf sich in der Folge auch zuweilen, dass Otto mit einer Mahlzeit übergangen wurde, wenn man dies lästige Geschäft über einer Lustpartie vergaß; nicht zu gedenken der häufigen Fälle, dass er die Suppe ohne Löffel, das Fleisch ohne Brot und Salz zu essen bekam oder einen halben Tag dursten musste, wenn das leichtsinnige Gesinde seines Tischwirtes im rechten Augenblicke des Trankes vergaß. Denn es wäre da ganz unpassend und wohl auch sträflich erschienen, dem Kommandanten eine Nachmeldung zu tun und ihm doppelte Wege zu machen.

Zu der Lebensordnung eines Gefangene au grand secret gehörte auch, dass ihm alle Schreibmaterialien und Bücher versagt waren; auch musste er mit der allgemeinen Beleuchtung des Tage sich zufrieden geben, da ihm, außer eine Viertelstunde lang zum Abendessen, kein brennendes Licht gestattet war. So abgeschlossen von aller menschlichen Gesellschaft, von allem Austausch der Gedanken und allen Mitteln einer bestimmten äußeren Tätigkeit, wäre Ottos Zustand ein fast unerträglicher gewesen, wenn er nicht in der Fülle seines Geistes- und Empfindungslebens sowie in der großen Mannigfaltigkeit seiner positiven Kenntnisse eine lebhafte Beschäftigung gefunden hätte, die ihn eben sowohl zerstreute und erheiterte als aufs Tiefste erschütterte und mitunter zu ganz wunderbaren Resultaten führte.

Denn wie das Feuer, eingeteilt in einen engen Raum und konzentrisch hingeleitet auf einen festen Punkt umso intensiver wirkt, so kann es auch nicht fehlen, dass die scharfgefasste und leidenschaftlich auf ein bestimmtes Ziel gelenkte Geistestätigkeit in ungestörter Abgeschlossenheit bis zu Dingen vordringt, welche sonst dem Geistesauge nicht so leicht entdeckbar sind.

Dazu kam auch noch die mitunter heitere Bemühung, der Wüste von Umgebung nach und nach doch manchen Gegenstand äußerer Beschäftigung abzuringen, was denn nicht verfehlte, dem armen Gefangenen die Zeit, die sonst unerträgliche Gefährtin, ziemlich erträglich verbreiben zu helfen.


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