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Achtes Kapitel.
Verteidigung – zum Tode. Die Ideale. Kriegszeichen. Von Zelle zu Zelle

In solcher Todesruhe hatte Otto endlich wieder einige Wochen dahin gelebt, als einst in einer späten Nachmittagsstunde der Inquirent zu ihm in die Zelle trat und ihm eine Reihe Frageartikel vorlegte, die er schriftlich beantworten sollte.

Otto sah hieraus, dass sein Endurteil noch nicht gesprochen sei und dass man ihm doch auch Gelegenheit verschaffen wolle, eine Art Verteidigung zu führen.

Der Inquirent gab dem Gefangenen in Gegenwart des Kommandanten drei Bogen Papier mit Feder und Tinte und bemerkte dazu, dass die Punkte bis nächsten Morgen beantwortet sein müssten, indem die Estafette nicht später damit an den Fürsten von Eckmühl abgehen dürfte.

Es wurde dem Gefangenen zum Behufe seiner dringenden Arbeit für den folgenden Abend Licht gestattet.

Aus dem ganzen feierlichen Benehmen des Untersuchungsrichters konnte Otto schließen, dass dieser selbst der Meinung sei, sein Leben hänge vom Erfolge dieser Verteidigung ab.

Der feierliche Besuch des Richters und des Kommandanten war kaum zu Ende, als Otto sich mit großem Ernste an seine letzte Verteidigung machte.

Alle seine geistigen Kräfte sollten aufgeboten werden, um den Entscheidungskampf um Leben und Freiheit siegreich zu bestehen – er dachte an Vater und Mutter, an die Braut und an alles, was sein Leben wünschenswert und reizend machen konnte; und so wieder gehoben und warm geworden für das Dasein, las er die Anklagepunkte durch und ging an den Entwurf seiner Erwiderung.

Schon lag diese auf dem einen der drei Bogen Papier fast vollendet vor ihm, als ihn der hereinbrechende Abend zu seinem Schrecken gemahnte, dass er vergessen habe, sich der Erlaubnis gemäß für den Abend Licht zu bestellen. Bis zur Zeit des nächsten Besuches in den Zellen verging wenigstens noch eine Stunde, und diese kostbare Stunde musste für das Werk der Verteidigung als verloren angesehen werden. dieser Zeitverlust erhitzte Ottos Empfindungen in sehr bedauerlicher Weise; die Gedanken, welche sich bei stetiger Arbeit ruhig zu Papiere hätten bringen lassen, jagte sich nun wie versprengtes Wild in seinem Kopfe hin und wieder und ließen ihn später, als er Licht bekam, diejenige Form der Gelassenheit nicht mehr finden, welche durchaus notwendig war, um bei seinem letzten willkürlichen Richter den gewünschten entscheidenden Eindruck zu machen.

Statt also bei der objektiver, wenn auch warmen Darstellung der Umstände und bei den zu widerlegenden Anklagepunkten zu verharren, ließ sich Otto nebenbei von seiner heißen Empfindung, Unrecht gelitten zu haben, hinreißen und glaubte, nachdem seine Unschuld klar genug dargetan sei, dürfe er wohl auch einen Stachel der Anklage jenen in den Busen drücken, die sein Leiden herbeigeführt hatten.

Vielleicht hätte er bei der Abschrift seiner Verteidigung diese Hitze etwas gemäßigt und diese Ausfälle ganz beseitigt, allein zu einer Reinschrift seiner Verteidigung sollten seine Kräfte überhaupt nicht mehr ausreichen.

Otte hatte den Entwurf seiner Schrift kaum vollendet und wollte nach kurzer Rast an die Prüfung desselben gehen, als er ohnmächtig vom Stuhle sank und während der vorgerückten Nacht keine Feder mehr zu führen im Stande war.

Morgens fand man ihn fast ganz entkräftet und unfähig, etwas Weiteres zu seiner Verteidigung zu tun, auf seinem Lager.

Der Inquirent las den Entwurf aus Ottos Feder durch und fragte betroffen:

»Hätten Sie das auch ins Reine geschrieben, was hier im Entwurfe steht?«

Otto, ohne mehr genau zu wissen, was er niedergeschrieben hatte, erwiderte mit: »Ja!«

Der Richter fragte weiter:

»Werden Sie dies Dokument, wenn ich's schnell und genau kopieren lasse, als Ihr Werk unterzeichnen?«

Otto drehte sich halb bewusstlos gegen die Wand, nickte mit dem Kopfe und sagte ebenso entschieden: »Ja«, dann, mit der Hand winkend, fügte er hinzu:

»Ich bitte nun um Ruhe – bitt' um Ruhe!«

Um elf Uhr desselben Morgens unterzeichnete er seine ihm nochmals vorgelesene Verteidigung wirklich und freute sich dann wie ein dahin träumender Kranker über die Stille und Ruhe, welche während der folgenden Tage durch nichts von Bedeutung unterbrochen wurde.

Was Ottos Leben hätte retten sollen, das war es gerade, was für seinen Tod entschied.

Otto erfuhr nur so viel über den Eindruck, welchen seine Verteidigung bei dem Fürsten von Eckmühl gemacht, dass derselbe mit Entrüstung ausgerufen habe, diese Kühnheit verdiene keine Gnade!

Also war es gewiss: Otto Jeneveldt musste sterben; den Tag, die Stunde seines Todes konnte jede neue Morgensonne bringen.

Doch sollte es geschehen, dass die Sonne noch oftmal auf- und unterging, ohne dass der letzte Richterspruch dem Verlorenen verkündigt wurde.

Otto hatte seine kurzen Hoffnungen auf Leben und Rettung nun wieder gänzlich aufgegeben und lebte geistig nur noch in einem wehmütigen Verkehre mit dem, was vergangen war.

Eines Tages (der hohe Sommer war bereits gekommen) lehnte Otto an der Mauerkante seines Fensters und sah gedankenvoll ins Freie.

Er dachte eben an den Freund daheim und an die süßen Tage der Freundschaft, welche beide einst mit einander verlebt hatten. Ottos Auge leuchtete in seltenem Verklärungsfeuer, jedoch um seine Lippen spielte ein Lächeln stiller Trauer.

»Du trauter Freund«, sprach er in seiner bewegten Seele, »Du einziger, Du auserlesener Gefährte und Kampfgenosse meines Lebens, was helfen uns die schönen und erhebenden Ideen von tätiger Freundschaft, von Opferlust der Freundesliebe jetzt: ich bin gefangen, ich bin in Banden des Todes; jeder neue Tag schlägt ein Glied von der Kette meiner Gefangenschaft, und die Hand des Todes fasst umso näher an mein Herz; da musst Du ferne bleiben, in ohnmächtiger Trauer mein Schicksal gewähren lassen, Dir ist nicht mehr gestattet als dem ersten besten Bekannten – vielleicht ein Wort des Kummers mehr, eine Träne des Schmerzes mehr – und Deine tätige Freundschaft muss sich damit genügen lassen. Ja, ja, wir haben es oft gedacht und ausgesprochen: die Welt befestigt sich täglich sicherer gegen die Ideale des Herzens, keine Freundeshand durchbricht mehr die zehnfach bewachten Türen eines Kerkers. Drum, Du teurer, teurer Freund in der Ferne, dass ich Deiner gezwungenen Untätigkeit, dass ich Deinem tatlosen Schmerze nur noch dies eine Wort zurufen könnte: Hilfe ist unmöglich, versuche sie nicht, ich selber wünsche, dass Du Dein Leben nicht nutzlosen Gefahren aussetzest!«

Ein Ungewitter hatte sich seit einigen Stunden am Firmament gesammelt, es brach in diesem Augenblicke los und wütete in fast unerhörter Weise.

Der zum Orkan verstärkte Sturm aus Westen trieb so scharfe Regenströme mit etwas Hagel gegen Ottos Gefängnisgitter, dass die ganze Spinnenwebenhülle zerstört und selbst das Glas der Fensterflügel zertrümmert wurde.

Nach Entfernung des Ungewitters stand Otto wieder an dem Fenster seiner Zelle und sagte lächelnd vor sich hin:

»Solche Stürme im Völker- und Menschenleben – diese freilich würden auch Ketten und Wände durchbrechen, wie der Wettersturm hier die Gewebe einer Spinne; allein sie würde ein Gefangener wie ich gerade jetzt ohne Nutzen erwarten. Schweigsam, wie dort die Linde im Sonnenscheine schauert, liegt die Welt in Fiebern und lächelt einem Welteroberer, der hingeht, nicht um sie zu befreien, sondern um sie dem Moloch seines Ehrgeizes in den Rachen zu werfen!«

Eine Sehnsucht, zu erfahren, was sich auf dem Kriegsschauplatz ereignen möge, erwachte mächtig in Ottos Herzen, er fügte darum nach einer Weile hinzu:

»Ach, ich bin schon aus dem Leben abgeschieden, sonst wüsst' ich wohl, was jedes Kind im Vaterlande weiß; ich wüsste, was auf dem großen Theater des Krieges jetzt geschieht. Ist's möglich, dass der Eroberer wirklich alles gewinnt? Oder ist's auch möglich, dass er im letzten Augenblicke noch alles verlieren sollte? Was ereignet sich jetzt, wie fallen die Würfel des Krieges? …«

Der Sommer ging dahin, die Blätter der Linde im Hofraum der Zitadelle wurden gelb, der Herbst war endlich da, und das verschleierte Firmament drückte auf die Erde; die traurigen Nebel, welche das Auge verdüstern und das Herz auch des Glücklichsten zur Wehmut stimmen, zogen wie ruhelose Geister mit aufgelöstem Haare hin und wieder.

Otto brachte nun oft halbe Tage in stillem Dahinträumen auf seinem Lager zu, stündlich des Todes gewärtig.

Als sich daher eines Morgens vor seinem Fenster und in den Gängen des Gefängnisflügels ein ungewöhnliches Leben vernehmen ließ, stand Otto rasch von seinem Lager auf, kleidete sich auf das Beste und trat, als die geschehen war, mit wehmütigem Lächeln an das Fenster, um noch einen Scheideblick auf die Welt zu werfen und gefasst die Vorbereitungen zu sehen, welche zu seinem Tode getroffen würden.

Über den Hof der Zitadelle wurden einige Kanonen geführt, neu angekommen und von Eilmärschen erschöpfte Truppen zogen hier und dort in ziemlich loser Ordnung auf, die Wache vor Ottos Fenster wurde eben abgelöst und – was bisher nie der Fall gewesen war – wurde verdoppelt.

In diesem Augenblick rasselten auch Schlüssel in den Schlössern, die Falltüre zu Ottos Gefängnisse erhob sich, und der Kommandant in Begleitung eines Adjutanten und des Gefängniswärters trat ein.

Otto ging ihnen entgegen und sagte ruhig: »Was verschafft mir einen so unerwarteten Besuch, meine Herren?«

Der Kommandant erwiderte:

»Sie werden diese Zelle verlassen, mein Herr, da die Besatzung verstärkt wird und man diesen Flügel zu Wohnungen für Offiziere verwenden muss.«

Eine solche Mitteilung hatte Otto nicht erwartet.

Unwillkürlich flog ihm der Gedanke durch den Kopf, dass eine bedeutungsvolle – ungünstige Nachricht vom Kriegsschauplatz eingetroffen sei, die äußerste Vorsichtsmaßregeln notwendig mache; doch ließ er diesen Gedanken nicht erraten, sondern machte sich bereit, den Herren nach seiner neuen Gefängniszelle zu folgen.

Nicht ohne Schmerz bemerkte Otto beim Hinabsteigen über eine Treppe, dass er weit, weit entkräfteter sei, als er vermeint hatte, denn er musste sich auf den Gefängniswärter stützen, um den Weg bis zu dem verschlossenen Wagen zurückzulegen, der ihn aufnahm und nach seiner neuen Zelle führte.

Diese befand sich in einem Stadtgefängnisse außerhalb der Zitadelle, hinter dem Dom am Walle.

So schnell auch die Fahrt durch die Stadt betrieben wurde, so entgingen doch Otto gewisse seltsame Symptome nicht, welche aufgeregten Kriegszeiten eigen zu sein pflegen.

Denn er sah durch das Wagenfenster überall neugierige Menschengruppen sich sammeln und wieder zerstreuen und vernahm einige Male die seltsam durcheinander gemischten Worte: Moskau – allgemeiner Brand – schnell einbrechender Winter – und so weiter.

Der Gedanke, dass ein ungeheures Ereignis vorgefallen sei, erhielt dadurch zwar ungewöhnliche Nahrung, allein Otto war doch weit entfernt, aus solcherlei flüchtigen Zeichen und Vermutungen sogleich neue Hoffnungen für sein Leben zu schöpfen; vielmehr dachte er nicht ohne naheliegende Gründe, dass im Falle eines Unglücks der französischen Armee in Russland die Lage der politischen Gefangenen in Deutschland augenblicklich gerade dadurch eine höchst gefährliche werden müsse, denn man werde schon der Einschüchterung des neu anstehenden öffentlichen Geistes wegen nicht zögern, die Opfer, welche man bisher geschont hatte, jetzt ohne Umstände fallen zu lassen.

In dieser Ansicht wurde Otto bestärkt bei dem Anblick des Gefängnishauses, in welchem er sein weiteres Schicksal erwarten sollte.


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