Wilhelm Raabe
Höxter und Corvey (1)
Wilhelm Raabe

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XV

Auf das »Ja« des Predigers hatte der Bruder Henricus die Achseln gezuckt, aber er war zur Seite getreten und hatte ihm weiter kein Hindernis in den Weg gelegt. Der Student sagte:

»Nicht einmal ein Citatum aus dem Flacco fällt einem ein.«

Am Bette der Großmutter saß Simeath und blickte angstvoll zu dem finstern Mann im schwarzen Chorrock auf:

»Großmutter ist eingeschlafen!«

Ehrn Helmrich Vollbort beugte sich über das Stroh und das kümmerliche Kleiderbündel darauf; dann nahm er die Lampe des Meisters Samuel vom Tische und ließ den Schein auf das Bett fallen:

»Erhebe dich, Weib. Willst du in dieser elenden Stadt die einzige sein, die da schläft in dieser Nacht?«

Wahrlich, das war so! die Kröppel-Leah schlief. Ihr Atem ging schwer und keichend, doch sie schlief! Da hielt der Bruder Heinrich von Herstelle die übrigen nicht mehr; – sie drangen in das Gemach, so viel ihrer es halten wollte. Lambert Tewes schlug den Arm um die zitternde Simeath:

»Fürchte dich nicht; Juda hat seit der Makkabäer Zeit keinen bessern Kavalier gehabt als mich. Das Stift ist zu Bett; treiben sie es noch weiter, so können auch noch andere Leute als der luther'sche und päpstliche Küster Sturm in Höxter läuten. Machen sie es allzu bunt, so steht der Besen immer in der Ecke; und wir kehren und fegen mit den Juden auch Höxter wie Corvey doch noch in die Weser!«

Das war ein freches Wort; aber es war Wahrheit dahinter. Es wurde gelacht im Haufen, und eine haarige Faust hob einen ansehnlichen Knotenstock gegen die Decke:

»Immer mit dem Zaunpfahl, Bruder Lambert! Gib du das Feldgeschrei, du Sackermenter. Es sind genug vorhanden, die endlich Ruhe in der Wirtschaft haben wollen. Höxter und Corvey in die Weser, und – Vivat der heilige Veit am Corveytor! Nimm du das Kommando, Lambert!«

Vernunft?!.......

Sie machten ein großes Geschrei und schüttelten das schlafende alte Judenweib an der Schulter. Sie hob noch einmal den Arm, als wolle sie das Gesicht gegen einen Schlag schützen; aber dann fiel der Kopf schwer zurück und auch der Arm wieder herab, der Leib streckte sich, und der, welcher sie an der Schulter gerüttelt hatte, trat betroffen zurück und rief:

»Zum Donner, die weckt keiner mehr in Höxter und Corvey!«

Da stieß das Kind einen Jammerruf aus und warf sich über die Großmutter, doch die Großmutter konnte auch auf die arme Simeath nicht mehr achten.

»Sie hat nun freilich die Stadt verlassen, und es war nicht nötig, daß wir mit Stangen und Schießgewehr kamen, sie zu holen«, sagte der Bruder Henricus gegen Herrn Helmrich Vollbort gewendet. »Es sind nur Minuten, da fragte sie mich, ob ich den Frieden gefunden habe.«

Der Pfarrherr von Sankt Kilian antwortete nichts; aber der Bürgermeister murmelte:

»Selbst Herr Christoph von Galen müßte sie jetzo liegen lassen, wie sie liegt. Herr Pastore, lasset uns zu den Bürgern sprechen und morgen auf dem Rathause ein weiteres bereden. Ihr Leute, wer von euch will diese Leiche vor die Mauer schaffen?«

Da ging ein Murren durch die rohe Gesellschaft in der Schlafkammer des Sergeanten vom Regiment Fougerais, und es kam die verdrossene Entgegnung:

»Dazu ruft die Gildemeister auf oder ladet sie Euch selber auf den Buckel.«

Es wurde Raum im Gemach und Platz auf der Treppe; vergeblich hatte sich schon seit einiger Zeit der Bruder Heinrich von Herstelle nach seinem Studenten umgesehen. Im richtigen Augenblicke erschien dieser wieder auf der Schwelle, des Meisters Samuel zitterndes Weib, die Siphra, vor sich her schiebend:

»Jetzt laßt das Heulen, Mutter. Die Kinder schaffe ich Euch auch, und wenn's den Trost vollkommen macht, den Alten gleichfalls. Da, hebt das arme Mädchen auf und sprecht ihr zu. Euer Haus liegt nieder, also nehmt hier Quartier und richtet Euch ein; es wird Euch niemand mehr stören. Höxter geht zuletzt doch auch zu Bett, also haltet Eure Totenwacht.«

Vernunft!... Wenn einer in dieser Nacht in Höxter an der Weser Vernunft gesprochen hatte, so war das der Tod gewesen.

Die gute Munizipalstadt Huxar benutzte in dieser Nacht nicht mehr ihre Judenschaft, um einen politischen Widerhaken in das Fleisch des Stiftes Corvey und des Bistums Münster zu schlagen. Wir wären vollkommen zu Ende, wenn wir nicht aus vielfacher Erfahrung wüßten, daß der hochgünstige Leser deutschen Geblütes sich so leicht nicht zufriedengibt.

Im großen Refektorium der berühmten Benediktiner-Abtei Corvey sah's um diese frühe Morgenzeit wunderlich aus. Nachdem der Vater Adelhardus von Bruch von seinem Bogenfenster aus den Feuerschein über Höxter zur Genüge beobachtet und glossiert hatte, täuschte er das Vertrauen des Subpriors Herrn Florentius von dem Felde nicht. Behaglich schaudernd hatte er an seine geistlichen Brüder in der rauhen Winternacht gedacht, und bei der Heimkehr hatte des Stiftes Armada wirklich ihr Warmbier in den dampfenden Krügen auf den langen Eichentafeln aufgetischt gefunden; dazu die Öfen in Glühhitz und den Cellarius item und bereit, jegliches Lob von Prior und Propst bescheidentlich, aber seines Wertes bewußt, entgegenzunehmen.

Nun lag die Abtei zum zweiten Male in den Federn; aber der Vater Adelhardus hatte sich noch größer erzeigt: er war nicht mit den andern zu Bett gestiegen; einsam und allein hatte er inmitten der Halle, grade unter der großen Kupferlampe, standgehalten und auf seinen Sohn Heinrich gewartet.

»In ihrer Selbstsucht sind sie hingegangen, nach genossenem Guten; mich aber soll er finden, so er labente lingua, mit lechzender Zunge, anlangt!« Und der Bruder Henricus hatte seinen geistlichen Vater auf seinem Posten gefunden, nachdem er mit seiner Schar den Pförtner zum zweiten Male herausgeschellt hatte; und jetzo wollten wir, wir hätten des weißen Papieres noch so viel vor uns als zu Anfang dieser echten und rechten Geschichte; denn mit dem Bruder Henricus kam nun doch der Bruder Studio gen Corvey, und sie schüttelten einander die Hände über dem Tisch, der Pater Kellermeister und Meister Lambert Tewes.

Erst um fünf Uhr dann hatte der Cellarius geseufzt:

»Molliter, molliter! sachte, o sachte, mein Kind!« und die Warnung war vonnöten gewesen; denn es war eben der Studente, der ihn zu Bette brachte; – und an des Kellermeisters Tür küßten sie einander, und der Vater Adelhard schluchzte:

»Nach Wittenberg willt du, mein Junge? Junge, was willt du in Wittenberg? – bleibe bei mir – eine Bi – bli – ooo – thek haben wir auch – ich will sie dir morgen zeigen; – bleibe du in Corvey, mein braves Kind, – ich zeige dir auch den Keller.«

»Na, alter Bursch, dieses wollen wir beschlafen. Seht Ihr aber, Pater Henrice, so haben uns die Götter nach ihrem Ratschluß, dem Ihr schnöde ins Angesicht sprangt, doch diesen Hafen zubereitet!«

Der Bruder Heinrich von Herstelle aber hatte das Haupt geschüttelt, als er vor seiner Zellentür sein hussitisch Schwert gegen die Wand lehnte:

»Es ist nur eine gewesen, die den Hafen in dieser Nacht in Höxter oder in Corvey erreichet hat.«

Der gute alte Mönch trug noch immer den Handschuh Justs von Burlebecke an seiner linken Hand; jetzt zog er ihn ab und schlang ihn in den Griff der Hussitenwaffe; er nahm das alte Angedenken nicht mit in seine Zelle. Dem Studenten wies er ein Bett an, und zehn Minuten später sägte, sang und raspelte Lambert wie im Wettkampf mit ganz Corvey, Horen und Metten zu gleicher Zeit. Da raschelte es im Abteihofe in einem Reisighaufen; fürsichtig schob sich ein scharfbeschnäbeltes, rotkämmig Haupt hervor, der eine Hahn, den der Gallier übriggelassen, das heißt, der dem Küchenmesser sich entzogen hatte, wagte sich halb verhungert zum ersten Mal aus seinem Versteck, schwang sich auf die Höhe des Reisigs und krähete: da horchte der Vater Adelhardus im tiefen Schlafe auf – und es war ein neuer Tag geworden, grade so grau und winterlich stürmisch wie der letztvergangene. – – –

In Höxter hielt das hebräische Völklein der toten Leah die Leichenwacht, und die Weiber sangen den Trauergesang und sprachen der Simeath Trost zu. Der Meister Samuel aber hatte noch ein anderes zu schaffen. Er war mit Hammer, Säge und Axt beschäftigt, die Tür des Hauses der Kröppel-Leah wieder einzurichten. Der Herd war bereits notdürftig in Ordnung gebracht, und es flackerte auch schon ein Feuerchen darauf und sang das Wasser in einem Kesselchen. Durch die Fenster zog freilich noch immer der Wind; wenn jemand im 17. Jahrhundert schwer zu beschaffen war, so war das der Glaser. –

Ehrn Helmrich Vollbort saß eingeschlossen in seinem Studierstüblein, welches nach dem Garten zu gelegen war und seine Scheiben noch unversehrt hatte. Wahrlich ein Mann, so saß der Pfarrherr von Sankt Kilian inmitten seines Rüstzeugs und spitzte scharfe Keile zum Eintreiben in die Paragraphen und Fugen des drohenden Gnaden- und Segen-Rezesses Christoph Bernhards von Galen, Bischofs zu Münster und Administrators von Corvey, der eben mit dem französischen Louis Krieg gegen Holland führte und gern das Seinige tat und riet, so beiläufig Kolmar französisch zu machen. – Der Bürgermeister von Höxter aber hub eben an, die Gassen seiner Stadt nach dem französischen Abmarsch zu kehren; – er, Herr Thönis Merz, hatte des guten Exempels halben selber einen Besen genommen und den zweiten Herrn Wigand Säuberlich höflich in die Hand genötiget.

Nach Mittag inspizierte der Corvey'sche Gubernator und Bischöflich Münsterische Hauptmann, Herr Meyer, wieder einmal die Wacht am Brucktor und warf spähende, argwöhnische Blicke über den Fluß nach dem verdächtigen, nebeligen jenseitigen Ufer; er trauete dem Oberstwachtmeister Noht immer noch nicht, und dieser heimtückische Nebel war ihm äußerst unbehaglich. Der alte Fluß rauschte und grollte wie gestern über die zertrümmerte Brücke fort; doch ein neuer Fährmann war bestellt worden und zwängte seinen Weg, keuchend wie gestern Hans Vogedes, den Wassern ab.

Der Fährkahn schwamm auf der Weser, und in ihm stand, mit einer Scholarenzehrung des Stifts Corvey in der Tasche und seinen Horaz unter dem Arm, der Student Lambert Tewes und schwang den Hut dem Bruder Henricus zu, der dem tollen Lateiner wohlwollend nachwinkte. Der Student ging doch nach Wittenberg, obgleich er den Keller des Vaters Adelhard kennengelernt hatte.

Nun trat eben der Hauptmann zu dem Bruder Heinrich von Herstelle, ihn zu begrüßen; und der Bruder wendete sich zu ihm und sagte:

»Über Sie ist noch geredet im Konvent, Herr Gubernator. Man wird Sie bei erster passender Gelegenheit Seiner fürstlichen Gnaden von Münster zur Promotion vorschlagen, zum Avancement.«

Da lächelte der Hauptmann gerührt und meinte:

»Ein Gnadengehalt, vielleicht mit dem Titul Major, wäre mir wohl das annehmlichste. Ich bin und bleibe ein halber Mensch seit der verfluchten Trommelgeschichte.«

Der alte, tapfere Mönch zuckte die Achseln und blickte wieder seinem Freunde, Herrn Lambert, nach.

Zu dem sagte eben, als der Kahn drüben ans Ufer stieß, der Fährmann:

»Du willst also doch nochmalen in das gelehrte Wesen hinein, Tewes? Tu's nicht; laß dir raten, bleib in Höxter. Wir stehen alle zu dir und machen dich seinerzeit zum Burgemeister, du passest uns ganz und gar auf den Leib.«

Da lachte der Student und zitierte noch einmal den Flaccus, doch jetzt nicht in schlechten Reimen, sondern in seltsam poetischer Prosa und selbst verwundert ob des edlen Tonfalls:

»Unsinn trieb ich lange genug und tappte im Irrsal; ging um die Kirche herum, ein Verächter der Götter und Menschen. Doch nun wend' ich das Segel und rückwärts steur' ich bedenklich.«

»Na, noch ist's Zeit«, brummte der Fährmann, »besinne dich, Lambert. Es ist nichts Kleines, Burgemeister von Höxter!«

»Für heute lassen wir den alten Merz in Ruhe auf seinem kurulischen Lehnstuhl, Jochen«, rief der Student, dem Schiffer die Hand drückend. »Dem Herrn Onkel und der Frau Tante möchte ich freilich schon das Vergnügen und die Überraschung gönnen. Weißt du was?... Ich komme wieder!«

Damit sprang er ans Ufer und ging raschen Schrittes auf Lüchtringen zu.

Ich komme wieder! das wird oft und leicht gesagt. Dieser Helmstedter Studiosus der Rechtsgelahrtheit ist zwei Jahre nach der Krönung des ersten Königs in Preußen als Professor der Beredsamkeit zu Halle gestorben, und sein Horatius soll sich in den vierziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts in der Bibliothek des ersten Professors der Ästhetik, Alexander Gottlieb Baumgarten, wiedergefunden haben.


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