Wilhelm Raabe
Höxter und Corvey (1)
Wilhelm Raabe

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II

»Um einen Mönch und ein altes Weib tu' ich keinen Zug am Seil«, brummte Hans Vogedes, der Fährmann, und rekelte sich auf seiner Bank von der linken auf die rechte Seite; und die Bürgerwacht unter dem Torbogen lachte in choro und stimmte ihm ganz und gar bei.

Es war eine wunderliche Wachtmannschaft, in deren Zusammensetzung sich die ganze Verwirrung des Gemeinwesens aussprach. Zwei Münsterisch-Corvey'sche Infanteristen schulterten da ihre Musketen; ein Schuster, ein Zimmermann und zwei Schneider aus dem überwiegenden lutherischen Teile der Stadtbevölkerung vom Rat aufgeboten, hatten sich sonderlich gewappnet mit Helm und Harnisch aus der Liguisten- und Schwedenzeit und lehnten martialisch an ihren Spießen und Stangen. Den Oberkommandanten des Ganzen aber, Korporal Bertold Polhenne, hatte die katholische Bürgerschaft aus ihrer Mitte unter Beistand des Stiftes und der Minoritenbrüder in der Stadt gestellt: die Ordnung, die er hielt, und die Autorität, deren er sich anmaßen durfte, waren denn auch danach.

Niedergetreten vom schweren Stiefelabsatz des Herrn von Turenne, mit Kontributionen bis zum letzten ausgesogen vom Herrn von Fougerais; von der welschen Besatzung in den Häusern und auf den Gassen bis zum äußersten in alles Elend und alle Wut hineingequält – widerspenstige Untertanen Seiner Bischöflichen Gnaden von Münster, hungrige Bürger der guten »Munizipalstadt Höxar« – kurz, armes, notdürftiges, geplagtes, verwirrtes deutsches Volkswesen, wie es aus dem Trümmerschutt des Religionskrieges aufwuchs gleich den Wurzelsprossen um einen gefällten Baum – es sah eben böse aus in Höxter nach dem Abmarsch der hohen französischen Alliierten! – – –

Drüben am rechten Ufer der Weser stand der Mönch bewegungslos auf seinen Stock gelehnt, und Kröppel-Leah saß auf dem Bündel mit dem Nachlaß des Schwestersohnes. Sie warteten ruhig ab, daß das Schicksal ihnen den dritten Mann sende, um den Hans Vogedes vielleicht wohl fahren mochte; und dieser dritte Mann erschien jetzt wirklich. Er kam durch das niedere Feld und die Allerwiese vom Dorfe Boffzen her, – auch ein alter Mensch, hochgewachsen, dürr, im schwarzen Rock und Untergewand, weitbeinig und energisch-eilig – Ehrn Helmrich Vollbort, der Pfarrherr der lutherischen Kilianikirche zu Höxter. Es schien ihm gut zu dünken, bald nach Hause zu kommen; denn die Witterung wurde nicht freundlicher, und die Dämmerung nahm immer mehr zu. Ob der Pastor auch noch andere Gründe für seine Hast hatte, werden wir ja wohl erfahren; fürs erste, als er die stattliche Gestalt des Benediktiners an der Fährstelle zu Gesichte bekam, mäßigte er seinen Schritt; jedoch nur für die kürzeste Weile, denn sofort trat er um so kräftiger auf und heran und grüßte kurz und schweigend.

Höflich erwiderte der Bruder Henricus den Gruß; die Judenfrau erhob sich mühsam von ihrem Sitze und knickste. Es war eine seltsame Gruppe, die unter dem stürmischen, dunkeln Himmel, vor den gelben, grollenden, wild hinstürzenden Wassern auf das Höxter'sche Fährschiff zu warten hatte; der Mönch von Corvey aber war der erste, dem das Schweigen peinlich wurde und der also auch zuerst den Mund auftat. Wahrhaftig, es ist zweihundert Jahre her, aber auch der Bruder Heinrich von Herstelle begann mit einer Bemerkung über das Wetter, und sie hatte die selbige Wirkung wie heutzutage.

»Es ist freilich ein rauher Tag«, erwiderte Ehrn Helmrich Vollbort, der Pfarrherr zu Sankt Kilian, nach der Stadt hinüber und auf die zertrümmerte Brücke sehend. »Ein Tag oder Abend, wie er wohl für Ort und Zeit paßt.«

»Sie haben das richtige Wort gesprochen, Herr Pastore«, sagte der Mönch. »Obgleich ich vom Hause abwesend war, so nehme ich gern jede Anmerkung, die hier und heute tempora et mores in ein Gleichnis bringt, vollgeltend hin.«

Die jüdische Greisin, die sich wieder auf ihr Bündel niedergekauert hatte, bedeckte das Gesicht mit der rechten Hand und seufzte schwer und nickte verstohlen gleichfalls.

»Sie befanden sich nicht beim französischen Abmarsch im Stift, mein Pater?« fragte der Pfarrherr.

»Ich trug einen Brief zum Herrn Herzog Rudolfus Augustus – nämlich ich traf ihn mit Heeresmacht zu Wickensen auf seinem Amtshause – ich traf ihn mit Heeresmacht dort im Walde, im Solling.«

»Ei!« murmelte der Prediger von Sankt Kilian hoch aufhorchend. »Die Herren zu Corvey waren sich dessen vermutend? Hat der welsche Holofer –«

Er brach ab und schloß – seinerseits mit einem schweren Seufzer: »Es ist gleich; wir bleiben, wie wir sind, in der Not. Der Wille des Herrn geschehe, jetzt und immerdar.«

»Amen!« sagte der Bruder Henricus. –

Das Fährschiff ließ noch immer auf sich warten; aber das Gespräch auf dem rechten Weserufer war in Gang gekommen. Der Mönch fragte höflich, und der lutherische geistliche Hirt antwortete ebenso höflich, wenngleich viel finsterer oder sozusagen verdrossener. Sie erfuhren beide mancherlei voneinander, was ihnen wissenswert sein mußte. Was den Bruder Henricus im besondern anbetraf, so erfuhr der nunmehr ganz genau, in welcher Weise diesmal die Höxter'sche Brücke stromab geschwommen sei und wie drüben, wieder einmal, das Haus wandlos und dachlos stehe, jedem Regen- und Sturmstoß preisgegeben. Die jüdische Greisin murmelte eintönig ihre Gebete vor sich hin, der schmutzige Fluß rauschte mürrisch, und am Brucktor von Huxar rüstete Hans Vogedes sich endlich zur Fahrt. Die sonderbare Wachtgesellschaft unter dem Tor hatte sich um einen sonderbaren Menschen vermehrt, und dieser war's auch, der den faulen Schiffer an sein Amt trieb.

Er war die Straße herabgekommen, die Hände in den Taschen, den Hut schief auf den verwilderten Lockenkopf gedrückt, in abgetragenes gelehrtes Schwarz gekleidet, eine kurze gestopfte, doch nicht brennende Tonpfeife im Munde, sein einziges Eigentum in dieser lustigen Welt, Quinti Horatii Flacci poemata, in einem abgegriffen Schweinslederbande im Sack und – seine eigene Version des römischen Poeten zwischen den Zähnen:

»Nun herrschet mit lockeren Flammen im Herzen
Die Thrakerin Chloe zu Lachen und Scherzen,
Nun singt Sie, nun schlägt sie die Laute mir fein;
Zu doppeln ihr Leben setz' meines ich ein.«

Da wir mehr mit dem jungen Mann zu tun haben werden, so wollen wir sofort sagen, wie er hieß, wer er war und wie es mit ihm stand.

Mit Namen hieß er Lambertus Tewes, er war der Schwestersohn Ehrn Helmrich Vollborts, des Predigers zu Sankt Kilian, und seines Zeichens war er leider ein vor acht Tagen von der berühmten Universität, der Julia Carolina zu Helmstedt, relegierter Studiosus der Jurisprudenz. Sein Alter belief sich auf neunzehn Jahre und vielleicht ein halbes drüber; sonsten war er heute wahrscheinlich der einzige Mensch vergnügten, wohlwollenden und unbesorgten Gemütes in der Stadt Höxter an der Weser, und der sich auch dergestalt natürlich gab. Zu der schmauchenden Wachtmannschaft trat er heran, um sich Feuer auf seinen Tobak geben zu lassen; zu versäumen hatte er sonst nichts und sah es gern, wenn man ihm irgendwo, wie zum Exempel hier, augenblicklich Platz auf der Bank machte.

»Rück zu, Schulkamerad, wenn du nichts Besseres vorhast«, rief einer von der lutherischen Wacht, der mit dem Studenten vordem dem Höxter'schen Scholarchen durch die Hände gelaufen war. »Willst du aber über die Weser, so wird dich Hans Vogedes sogleich mitnehmen, und sogar umsonst, das heißt für ein Stück Latein aus deinem Tröster, während er das Schiff löst. Nicht wahr, der Handel gilt?«

»Nicht wahr? Ei so!« lachte der verwilderte Helmstedter Bursch. »Du fielst der alten Mutter Philosophia freilich eher aus der vielgeflickten Schürze, ehe sie dich in den römischen und griechischen Topf schütteln konnte! Nun, du hättest den Höxteranischen gelehrten Sauerkohl auch nicht fetter gemacht.«

»Meister Polhenne, er fängt an, die Gemütlichkeit zu stören, sowie er kommt. Man kennt deine Redensarten, du Träbernfresser.«

»Ruhe auf der Wacht. Meister Lambert, haltet den Mund; und Ihr, Schuster Kappes, das Maul! Sonsten aber stimme ich auch für ein Stück aus dem alten Heiden«, brummte der Korporal Polhenne.

»Gefällt Euch der alte Heide so gut, Korporal?«

»Hier am Ort ist niemand, der es da Euch gleichtut. Das Latein kommt immer mehr ab in der Welt. Jesus, wenn ich an meine Jugendzeit denke, und wie sie da es uns von den Kanzeln an die Köpfe warfen!«

»O nata mecum consule Manlio«, summte der Student, aber brach sogleich ab, um seine Perlen nicht vor die Säue zu werfen, klopfte den Korporal auf die Schulter und rief: »Lasset nur das Latein, Polhenne –

›Corvinus vermahnt uns
Bedachtvoll und klug,
Das Faß aufzuwenden,
Zu heben den Krug.
Wie Sokrates redet,
Doch trinkt auch wie er!
So klingt schon beim Alten,
Beim Cato die Lehr'.‹

Sagt, Jungen, was gibt es denn zu trinken am Ufer des gelben Tibers – will sagen, der gelben Weser? Was hat euch der falsche Punier, der grimme Unhold Hannibal, für euern und meinen Durst übriggelassen?«

»Wenn Ihr den Fougerais meint, Magister, – da! da läuft es!« schrie wie ein Mann wütend die Wacht am Brucktor zu Huxar, auf den Weserstrom deutend.

»Dieses Faß wird Euch so leicht nicht auslaufen, Herr Doktor!« brummte einer der Münster'schen Musketierer über die Schulter; der Studente aber schüttelte sich:

»Brr!... Er ist zuletzt abmarschiert, seinem Meister Turennius nach; – ultimo scabies, die Krätze auf den letzten! Bei den unsterblichen Göttern, ihr Herren, da mag selbst dem Gutherzigsten der Germanen sein kimmerischer Tag allzu grau werden, um den Horaz zu zitieren. Gebt mir Feuer auf meine Pfeife.«

Das geschah, und in dem nämlichen Augenblick kam von drüben her über den Fluß ein heiserer Ruf, und ein schwarzer Mann winkte durch die Abenddämmerung mit seinem weißen Sacktuch. Herr Lambert Tewes, der sich zweier Augen von Falkenart rühmte, sagte:

»Ich hab' ihn zu Hause gesucht, um noch einmal kläglich vor ihm zu tun. Doch chère tante, ehe sie mir die Haustür vor der Nase zuschlug und verriegelte, tat mir kund, der Herr Oheim sei nicht zu Hause, sei über die Weser zum Herrn Amtsbruder in Boffzen. Ecce vir excellentissismus – avunculus divinus ac singularis – und siehe ein Mönch und ein alt Weib in den Handel! Hinüber, Fährmann, und holt mir den Herrn Oheim, ich brauche ihn notwendiger, als ihr euch vorstellen möget, ihr Herren und guten Freunde.«

»Ich hab' es dir schon lange gesagt, daß du dich endlich aufmachest, Hans«, fiel einer der Spießträger bei. »Es ist unser Herr Pastore, der zuletzt ungeduldig geworden ist.«

Das wirkte. Der Fährmann stand auf, reckte sich, gähnte, stieg in sein Schiff und griff nach dem Seil. Seinen Platz auf der Bank nahm, wie gesagt, der Student ein.

Schwer arbeitete sich der Schiffer mit seinem Kahn gegen die mächtig drängenden, winterlich geschwollenen Fluten an, hinüber zum andern Ufer. Die Wacht sah ihm mit behaglich-träger Anteilnehmung nach, und Herr Lambert Tewes, den Rauch aus seiner kurzen Tonpfeife blasend, summte:

»Mit Gleichmut nimm, was frommt, was dräut,
Die Welt fleußt gleich dem Strome her,
Der sanft in seinem Bette heut
Abgleitet zum Etruskermeer;
Doch morgen in Empörung schwillt,
Aus seinen Ufern überquillt,
Gesteine schiebt,
Den Wald zerstiebt,
Die Herde schluckt in seinen Bauch,
Den Hirten und die Hütte auch;
Wenn Jupiter der Menschheit grollt
Und schwarz Gewölk vom Pol her rollt.«


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