Wilhelm Raabe
Höxter und Corvey (1)
Wilhelm Raabe

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V

Wir sind allesamt in dieser argen Welt gleich Kindern, denen das Schreiben gelehrt und vom Meister die Hand geführt wird. Nun gingen wir nur allzugern sofort dem Bruder Henricus nach; allein schon hat man uns auf die Schulter geklopft und nach einer andern Richtung hingedeutet.

Wie die beiden andern, die mit ihr den wilden Strom überschifft hatten, war die Kröppel-Leah nach Hause gegangen. Und wenn der Pfarrherr von Sankt Kilian hinter der vor dem Neffen verriegelten Tür sein Weib am warmen Ofen, wenn der Mönch von Corvey seine Zelle fand, so fand die Greisin ihr Heim in Ordnung, – wie die Zeitläufte es erlaubten. Fünfzig Mann von einem pikardischen Musketierregiment hatten in ihrem Hause gelegen und es sich darin während ihrer Abwesenheit behaglich gemacht! Die Haustür war halb aus den Angeln gerissen, der größte Teil der Fensterscheiben auch hier zertrümmert. Sämtliches Gerät war in Stücke zerschlagen worden. Die Wände waren vom Rauch geschwärzt und sonst besudelt und mit Namen und wüsten Zeichnungen versaut: die fremden Gäste hatten nicht alle schreiben können, aber sie hatten sämtlich zu zeichnen verstanden; – und wie!...

Die fünfzig französischen Kriegsmänner hatten das Judenhaus für sich allein gehabt; aber noch am Tage ihres Abzugs mit dem Herrn von Fougerais oder vielmehr am Abend dieses Tages hatte sich jemand eingefunden, der eine Weile starr, mit gefalteten Händen und unterdrücktem Schluchzen ob der Wüstenei dastand, bis er in ein lautes Weinen ausbrach; und dieser jemand war ein kleines Mädchen von vierzehn Jahren, der Greisin letzte Enklin, gewesen. Wo das Kind sich während der letzten wilden Wochen verborgen gehalten hatte, war dem Stift und der Stadt gleichgültig; wenn auch uns nicht. Jetzt war es wieder da und weinte auf den Trümmern des Hauses seiner Großmutter grade so laut und bitterlich wie weiland der Prophet Jeremias auf den Trümmern der großen Stadt Jerusalem.

Doch das Kind hatte sich gefaßt. Es war eben auch ein Sprößling jenes tapfersten aller Völker, das sich auf jedem Brandschutt seines Glückes schier noch hartnäckiger als das deutsche Volk mit seinen Wurzelfasern wieder anzuheften wußte. Vor allen Dingen hatte das Kind aus dem Hause der Glaubensgenossen, in welchem es von der Barmherzigkeit aufgenommen worden war, ein Lämpchen geholt und mit diesem in der Hand seine schwere Arbeit angefangen. Das kleine Judenmädchen hatte das Haus gereinigt!

Mit seinem Lämpchen in der armen, winzigen, zitternden Hand suchte es das verwüstete Haus ab, vom Keller bis zum Boden, und häufig stöhnte es und rief den Gott seines Volkes an, wenn es wieder ein schlau und sicher angelegtes Versteck von der in diesen Angelegenheiten noch schlauern, auch auf dergleichen ausstudierten Soldateska des Herrn Marschalls von Turenne aufgefunden und ausgestöbert fand. Und das Kind war ganz allein in seiner Not gewesen. Niemand hatte sich darum gekümmert in Höxter, wenn der Schimmer der kleinen Lampe bald hier, bald dort an einer der leeren, schwarzen Fensteröffnungen vorüberflimmerte. Der Volks- und Glaubensgenosse Meister Samuel hatte die Lampe hergeliehen; sein Weib Siphra hatte einen Handkorb mit einem schwarzen Brot, einem schlechten Messer ohne Griff, einen irdenen Krug und einen mit Draht umflochtenen Kochtopf dazugetan:

»Wir würden dir die Taschen mit Gold und Silber füllen und dir eine Herde von Zicklein und Böcklein voraufgehen und dir einen Wagen voll Mehl und Honig und Öl und Gewürz nachfahren lassen, wenn wir's könnten; aber wir können's nicht, Simeath!« hatte man in Meister Samuels Hause gesagt.

»Da hast du noch einen Besen; es ist wohl der schlechteste, aber wir brauchen alle übrigen selber«, hatte die Frau Siphra hinzugefügt, und so war das Kind mit herzlichem Dank und überströmenden Dankestränen gegangen und hatte es dem König Louis, dem Bischof von Münster, dem Herrn von Turenne, dem Herrn von Fougerais, dem Stift und der Stadt zum Trotz möglich gemacht, sich einzurichten, bis die Großmutter heimkehrte.

Nach dem Hofe zu gelegen befand sich im obern Stockwerk des Hauses ein enges, dunkles Gemach, in welchem Monsieur le Sergeant mit seiner Zuhälterin, einer dicken Champenoise aus Troyes, sein Quartier aufgeschlagen gehabt hatte und das demnach nicht ganz so ruiniert worden war als die übrigen Räume. In dieser Kammer stand noch das Bett aufrecht, sowie auch ein Tisch, dem nicht mehr als ein Bein abgeschlagen worden war. Zwei oder drei noch sitzgerechte Schemel waren auch dem scherzhaften Mutwillen des abziehenden Heeres entgangen. Schlimm genug sah es freilich auch hier auf dem Estrich, in den Winkeln und an den Wänden aus, und das Bettzeug warf Simeath sofort mit Schaudern in den Hof hinunter. Jedoch da war der Besen und die fleißige, harte kleine Hand! Um Mitternacht war das Stübchen gekehrt, der Tisch festgestellt und vom nächsten verlassenen Kavallerieposten in der Gasse ein zurückgelassenes Bund Stroh in die Bettstelle der Mamsell Génévion heraufgeschleppt: eine Viertelstunde nach Mitternacht lag Simeath in diesem Stroh und schlief der Heimkunft der Großmutter entgegen.

Wie das Kind erwachte – vielleicht aus einem glücklichen Traum! – wie es aufrecht saß und sich, verstört zum Bewußtsein kommend, in der Scheußlichkeit ringsumher umsah; – wie es den Tag bis zur abermaligen Dämmerung des Abends hinbrachte, wollen wir auch nicht beschreiben. Wir sahen die Großmutter mit ihrem Bündel, von dem Spotte und den bösen Blicken der Wachtmannschaft an der Weserfähre verfolgt, humpelnd ihren Weg nach ihrer Behausung zu nehmen. Wir malen uns in der Phantasie aus, wie sie vor dem Hause stand, und nach den zerbrochenen Scheiben hinaufstarrte, wie sie dann über die zertrümmerte Schwelle durch die türlose Pforte trat, und wie ihre Enkelin aufschreiend und mit ausgebreiteten Armen ihr entgegenlief und umherdeutete:

»Sieh! sieh!... Alles hin! nichts heil, – alles voll Ekel und Graus; – alles wüste, alles von den schlechten, wilden Menschen zugrunde gerichtet!«

Nachher hat die Greisin das Haupt gesenkt und einen Spruch in der Sprache Ihrer Väter gesagt. Nachher hat das kleine Mädchen die alte Mutter die Treppe hinaufgeleitet und sie in das gereinigte Stübchen geführt. Nachher ist es wieder ganz Nacht geworden; die kleine Lampe aus dem Hause des Meisters Samuel und der guten Frau Siphra brennt auf dem Tische, der von Simeath so künstlich zum Stehen gebracht wurde: Großmutter und Enkelin sitzen an diesem Tische einander gegenüber. Das Bündel mit der Erbschaft aus Gronau im Fürstentum Hildesheim liegt unter dem Tische.

»Mein gut Kind, wie oft hat der Feind oder das böse Volk in der Stadt dieses Haus umgestürzt, seit ich Atem ziehe? Wer so weit herkommt aus der Zeit wie ich; wer den tollen Christian und den Tilly, den Herrn von Gleen, die Herzogin von Hessen, den Feldmarschall Holzappel, den Wrangel und so viele kleinere wilde Heeresführer vorüberreiten oder über sich wegtreten ließ, der macht sich wenig mehr aus dem Herrn von Turenne und dem Herrn von Fougerais! Ich sehe nur wieder, was ich schon ein Dutzend Male sah. Es ist eine Zeit, in welcher der Mensch das Schlimmste als das Gewöhnlichste hinnimmt. Weine nicht, mein liebes Herzchen, du bist jung und magst noch in eine reinlichere, bessere Zeit hineinleben!«

So hatte die Kröppel-Leah getröstet, und währenddem hatte der Pastor zu Sankt Kilian in der bekannten Weise seinem Neffen eine recht gute Nacht gewünscht; währenddem hatte der Student seinen Tröster im Jammer, den Horatius, dem Bruder Henricus zum Kauf oder für ein Abendessen und Nachtquartier hingehalten; währenddem – war von der Erbschaft der alten Jüdin an einem Orte, den wir jetzt erst betreten, die Rede.

Am Corveytor in einer Schenke, die im Schilde als Zeichen einen Mann führte, der den Kopf unterm Arm trug, in der Kneipe zum heiligen Vitus wurde von dem Bündel der Kröppel-Leah gesprochen. –

Der Student, Herr Lambert Tewes, war dreimal in das gebrochene Mauerwerk früheren städtischen Wohlbehagens hineingetappt und hatte sich nach den Ruderibus der Herdstellen hingetastet:

»Brr!« hatte er jedesmal geächzt, und zum vierten Mal wiederholte er den Versuch, sich ein Nachtlager unter den Ruinen des Dreißigjährigen Krieges in Höxter zu suchen, nicht.

»Basolamano, Messieurs, meine hochgünstigen Herren!« sagte er höflich beim Eintritt in die Kneipe zu Sankt Veit am Corveytor; ein heller Jubel und lautstimmiges Hallo begrüßten ihn dagegen.

Bis auf den Stadtkorporal Polhenne waren sie allesamt wieder vorhanden und noch einige ihres Gelichters dazu. Eine saubere Gesellschaft, meistenteils auch bereits halb angetrunken und zu jeglichem Schabernack und Unfug bereit! Da war auch der Schulkamerad Wigand Säuberlich, mit dem die Höxteranischen Scholarchen ihren gelehrten Kohl nicht hatten schmelzen können; und dieser, nämlich der Säuberlich, war's auch hier, der den Studenten zuerst wieder am Knopf faßte, ihm mit einem schäumenden Bierkrug unter den Bart trat und schrie:

»Da haben wir ihn! Kerl, wo hast du gesteckt? Seit einer Stunde sehnen wir uns nach dir wie eine alte Jungfer nach dem Hochzeiter. Juchhe, jetzt ist der Ofen geheizt und der Braten fertig! Tragt auf, gute Gesellen; Messer und Gabel heraus! Du gehst doch mit uns, Lambert?«

»Wohin, Signor Strillone?«

»Keine fremden Zungen jetzo, Alter! Wir verbitten uns das. Du gehst mit uns, wohin wir dich führen werden.«

»Schlecht Wetter draußen« –

»Aber gut genug, um eine lustige Nacht daraus zu machen in Höxar! Sämtliche gegenwärtige, ehrbare und fröhliche Kumpanei, Mann für Mann, geht mit.«

»Aber zuerst will ich doch wissen, was es gibt, Gevattern!«

»Hunger und Wut, Herr Doktor!« schrie's aus dem Haufen. »Alles, was die Franzosen uns gelassen haben.«

»Und einen elenden Durst dazu!«

»Ja, trinken könnt Ihr, aber es ist das letzte vom Faß, und kein allerletztes gibt es offenkundig in Höxter! Grade deshalb wollen wir die Kellerschlüssel holen. Die Luth'rischen fallen auf die Katholiken und umgekehrt. Daß wir deinem Onkel auch in der Vergadderung einen Besuch machen, wirst du sicherlich nicht übelnehmen, Lambert.«

»Scabies capiat – der Teufel hole meinen Herrn Onkel!« rief der Student; doch jetzt nahm ihn Hans Vogedes am Arm und flüsterte ihm zu, um, wie er meinte, sein letztes Schwanken und Überlegen triumphvoll zu besiegen.

»Und nachher oder darzwischen fallen wir auch den Juden auf die Köpfe! Was? He? Was sagt Ihr?«

Der Student sah den Verführer einen langen Augenblick an, und dann sagte er:

»Ihr seid eben aus Merxhausen, Fährmann!« Als worauf beinahe schon jetzt der allgemeine Judenprügel hier in der Kneipe zum heiligen Veit losgegangen wäre. Um aber die Erwiderung des Studenten und die Erbosung des Biedermannes Hans Vogedes vollkommen zu würdigen, bedarf es einer kurzen Erläuterung des Wortes.

Als nämlich der böse Feind, der Versucher, unsern Herrn Jesus Christus auf die Zinne des Tempels in Jerusalem führte, sprach er zu ihm – nach einer Tradition, die sich an der Weser erhalten hat –: »Wenn du niederfällst und mich anbetest, soll dir dieses alles gehören bis – bis auf Merxhausen und Sievershausen dort im Solling; – die beiden Dörfer behalte Ich mir vor.« –

»Aus Sievershausen bist du nicht, Tewes«, sagte Hans der Schiffer mit erhobener Faust, »aber deiner Ehrbarkeit wegen haben sie dich auch in Helmstedt nicht mit Fußtritten aus dem Tor gejagt. Du aufgeblasener Windsack, du Holzbock willst hier und in jetziger Stunde einem braven Kerl aufmucken? Wahre deinen lateinischen Schädel, du Bettelstudent.«

Von oben bis unten betrachtete Meister Lambert sich den wütenden Strolch von neuem; dann trat er gleichgültig einen Schritt weiter an den Tisch, ergriff den ersten besten Krug, hob ihn an den Mund, ließ den Inhalt bedächtig die Gurgel herniederlaufen, seufzte, stieß das leere Gefäß mit einem Krach auf die Platte nieder und deklamierte mit vollem Pathos:

»Wie Lamm und Wolf befehden sich
Von Anfang an, so hass' ich dich.
Denk du an den Ibererstrick
Und an die Striemen im Genick,
Item am Bein der Schellenring,
Monsieur, war ein beschwerlich Ding!

Ist das der Weg, auf dem du mich mit dir nehmen willst, o Menas?«

»Kreuz und alle Donner!« schrie der Fährmann, mit dem Schaum vor dem Munde auf den Studenten losstürzend; aber Wigand Säuberlich warf sich ihm vor und fing seinen Arm auf:

»Halt, halt! Es steht im Buch!«

»Steht das so im Buche? Steht das so in seinem Buche?« schrie die übrige Compagneia. »Heraus damit, er soll's beweisen, der Lambert, daß das so über den Hans gedruckt ist!«

»Es steht in meinem Buch, ihr Herren!« lachte der Helmstedter, »haltet ihn mir nur noch einen kurzen Augenblick vom Leibe; ich trete den Beweis der Wahrheit an, und nachher gebt jedem ein Rapier; – auf die Faust lass' ich mich nicht ein mit ihm!«

Er hatte seinen Horatius hervorgezogen und las, und jetzo mit dem allerhöchsten Pathos:

»Lupis et agnis quanta sortito obtigit
    Tecum mihi discordia est,
Ibericis peruste funibus latus
    Et crura dura compede!«

»Sackerment!« stöhnte die ganze hochlöbliche Gesellschaft und kratzte sich hinter den Ohren. »Gib dich zufrieden, Hans Vogedes; dagegen kommst du nicht auf! das ist die Zunge, in der sie Urtel und Recht sprechen. Das verfluchte welsche Galgenlateinisch könnte einem den ganzen Spaß von vornherein verleiden. Man sieht dabei ordentlich den grünen Tisch mit seinem Behängsel von Graubärten und geifernden Rat-, Richter- und Advokaten-Schnauzen vor sich! Na, wer geht nun noch mit ins Pläsier?«

Sie gingen dem »Galgenlateinisch« zum Trotz alle bis auf den Studenten; dieser aber hielt noch eine kleine Rede.

»Bin ich deshalb der erlauchten Mutter Julia, der göttlichen Karoline, durchgebrannt? Um einem armen Judenweib und seinem Packen schiele Blicke nachzuwerfen?! Apage, apage – weiche von mir, das heißt, ihr Herren, was kümmert's mich! Macht, was ihr wollt; aber mich laßt damit ungeschoren. Ich werde das Haus hier hüten und die Bank für euch warm halten.«

Es ging noch ein Murren durch den schlimmen Kreis, doch Lambert ließ sich das wenig anfechten. Er rückte behaglich am obern Teil des Tisches neben dem Ofen in die Reihe der noch Sitzenden, indem er das eine Bein über die Bank schwang.

»Bruderherz, bedenke dich noch einmal«, sprach ihm Wigand Säuberlich zu.

»Bruderherz, das tu' ich auch; aber sieh mal, Herzbruder, wer sollte denn die Historie eurer glorreichen Heldentaten auf die Nachwelt bringen, wenn einer eurer Knüppel mir im Durcheinander das Gehirn ausschlüge?«

»Also ohne dich! Marsch, ihr Brüder! En avant, wie der Herr Kommandante, der Hund, der Fougerais, zum Abschied schrie. Es ist eben eine Zeit, in der jeder seinen eigenen Willen haben muß. Unsere Väter haben es uns nicht anders gelehrt!«

»Bei den unsterblichen Göttern, so ist's!« schrie der Student; als aber die Rotte hinausgestürmt war, sprang er von der Bank auf, und auf den Tisch und jauchzte:

»Höxter und Corvey!«

So rufen sie dorten auf der Kegelbahn, wenn alle neune fallen. –


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