Wilhelm Raabe
Höxter und Corvey (1)
Wilhelm Raabe

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IV

»Die Vetternschaft und zärtliche Verwandtschaft hätten wir demnach also vergeblich begrüßet!« sagte der in die Wildnis ausgetriebene Bürger und ungeratene Sohn der erlauchten und erleuchteten Mutter Julia Carolina. »Sie haben mir immer meinen Weichmut vorgeworfen; aber hier habe ich es doch wahrlich nicht an Hartnäckigkeit fehlen lassen. Da hab' ich doch getan und versucht, was meine seligen Eltern nur verlangen konnten. Ein anderer wär' längst grob geworden und hätte der lieben Frau Tante und dem Herrn Onkel den Stuhl vor die Tür geschoben; nur solch ein gutherziger Gesell wie ich läßt sich dreimal aus ihr herauswerfen, ohne auf die ihm von früher Jugend her eingebläuelte Pietas den Teufel herabzubeschwören. Alle Höllengeister, erlöset mich von dem weichen Gemüte!«

Er kratzte sich bedenklich am Krauskopf, obgleich er vor zehn Minuten noch jeden Weltweisen, der dergleichen tun würde, arg in gebundener Rede gelästert hatte. Dann griff er von neuem hinterwärts in den Sack, traf aber auch diesmal auf wenig mehr drin als auf den Günstling des Maecenas, den Liebhaber Glycerens, den Freund des Quincilius Varus – auf den alten sonnigen Schäker, den Flaccus. So stand er in der beginnenden deutschen Winternacht, als plötzlich der weiße Benediktinermönch, der Bruder Henricus, abermals an ihm vorbeiging. Der Frater hatte noch einen Besuch bei dem Minoritenprediger, den der Fürstbischof Bernhard von Galen der katholischen Kirche in Höxter als Hirten vorgesetzt, abgestattet, hatte ihn jedoch nicht zu Hause angetroffen und war, vom Küster zu Sankt Peter beschieden, ihm nach dem Hause des Bürgermeisters Thönis Merz nachgegangen. Er hatte seinen Minoriten richtig gefunden und sein Wort mit ihm ausgetauscht, und nun war er auf dem Wege zum Corveytor.

»Salve Domine!« sagte der Student recht freundlich; und der Mönch schreckte auf, wie es schien, aus recht unbehaglichem Gedankenspiel. Er grüßte aber auch freundlich mit einer Verneigung und wollte damit ruhig an dem jungen Gelehrten vorüber; aber so glatt ging dieses doch nicht. Herr Lambert Tewes ging sofort mit ihm und führte die Unterhaltung weiter.

»Sie gehen nach Hause, ehrwürdiger Herr Pater?«

»Ich gehe nach einer langen, mühsamen Wanderung durch die arge Welt heim in meine Zelle.«

»Und Sie wissen also wohl gar nicht, wie gut Sie es haben, mein Pater?«

Trotz seiner Verstimmung mußte der Alte doch lächeln, und, seinen Schritt mäßigend, fragte er:

»Sie gehen bei diesem übeln Wetter noch nicht heim, gelahrter Herr Studiosus?«

»Wie gerne!« seufzte der Student; »aber haben Sie auch einmal, Herr Pater, einen Onkel und eine Tante gehabt? O heiliger Kilianus, in welche Hände ist dein Haus übergegangen! Ich hatte so sicher da auf eine Abendmahlzeit und einen Strohsack unter dem Schutze deines Marterzeugs gezählt! Ehrwürdiger Herr, sehet hier: als sie mich von Helmstedt wegtrieben, ließ ich ihnen meine Schulden und nahm ihnen diesen Göttersohn in Schweinsleder aus ihrer Bibliotheca mit. Den werde ich nun bei dieser lieblichen Witterung die Nacht über in einer dieser Höxterischen Ruinen an einem eingefallenen Herde als Kopfkissen nehmen müssen. Was meinen Sie aber, mein Pater, wenn Sie ihn mir abhandelten um ein billiges? Wenn Phöbus nicht längst diesem niederträchtigen Erdenwinkel den Rücken gewendet hätte, würde ich ihn Ihnen gern zur genauen Besichtigung ad oculos rücken. Es ist eine treffliche Edition – Amstelodami, ex officina Henrici et Theodori Boom – mit einem Frontispicium vom berühmten Maler und Kupferstecher Romeyn de Hooghe; – he?!«

»Ich war ein Reitersmann in meiner Jungheit und habe schon und leider als Junker Heinrich von Herstelle meines Informators Latein an den Büschen hängen lassen«, erwiderte der Mönch. »Ich danke Euch herzlich, mein lieber junger Freund, und befehle Euch dem Schutze des Allerhöchsten. Sonsten haben wir auch zu Corvey eine mächtige, fürtreffliche Bücherei, und sie würden mich weidlich auslachen, wenn ich von der Reise dergleichen ihnen mitbrächte und zutrüge.«

»Eulen nach Athen«, murmelte der Student. »Ich will's aus Höflichkeit glauben; also – vergnügliche gute Nacht, mein Pater.«

Der Mönch verneigte sich abermals und ging; der Helmstädtische Studiosus blieb und rief, als der Bruder Henricus ihm aus Gehörweite entfernt zu sein schien.

»Also wiederum abgeblitzt! Da lohnt es sich in Wahrheit, seinen Muskedonner oder seine Schnapphahnflinte zu laden! Pulver und Blei! Palsambleu! mille millions tonnerres! Kein Fluch in teutscher Zunge kann da ausreichen, um einem Menschenkind Luft zu machen. Da nimmt der Pfaff meinen warmen Sitz am Corvey'schen Stiftsküchenfeuer in seiner Kutte mit hin; aber das ist die Zeit, so ist die Zeit! So sind sie alle – gleichviel ob katholisch oder luth'risch aufgewichst! o du heiliger Simson von der Kollegienkirche! o ihr Fleischtöpfe der alma mater Julia! o du lange Burschenbank im Ducksteinkeller!... Und solch einem Böotier hab' ich meinen Lauriger für ein Nachtessen angeboten?! Schäme dich, Lambertus, und geh in dich. Bei den Unsterblichen, es bleibt also bei einem Nachtquartier in den Ruderibus des Herrn Feldzeugmeisters von Wrangel. Gesegnet sei sein Angedenken! gesegnet sei sein Durchmarsch nach dem Allgäu zum Bregenzer Sturm! Gesegnet seien seine Kartaunen und Bombarden von Anno Sechsundvierzig! Da kriegte man doch wahrlich Lust, selbst den Tilly und den Generalfeldmarschall von Gleen und das Jahr Vierunddreißig mit seinem ›Salzkotter Quartier!‹ hochleben zu lassen. Was finge nun heute unsereiner an ohne die Ruinen vom Höxter'schen Blutbad?!« –

Ei ja, aber wer hatte sonst in dieser Nacht ein ruhig, warm Quartier, ein sicheres und behagliches Kopfkissen und Deckbett in Huxar an der Weser? Eigentlich niemand. Es kam keiner zu einem gesunden Schlaf außer den gesunden Kindern. Es war eben in der Woche nach der Sündflut, und wie die übriggebliebene Familie Noäh sehr bald in Gezänk und Hohn gegeneinander ihrem Unbehagen in der verwüsteten Welt Raum gab, so lag die Höxter'sche Bürgerschaft jetzt schon im Hader untereinander und sich im Haar.

Sie hatten sich – beide, Katholiken wie Lutheraner, – manches von der fremdländischen Besatzung gefallen lassen müssen, von dem Herrn von Turenne und dem Herrn von Fougerais. Nun waren die Franzosen abgezogen, aber das Gift in den Herzen und Köpfen war geblieben. Ein jeglicher suchte nach jemand, an dem er seine Galle, gestraft oder ungestraft – freilich am liebsten in letzterer Weise – loswerden konnte, und beim rechten Lichte besehen, war niemand vorhanden, der sich hätte anmaßen dürfen, den Wächter über die kochenden Leidenschaften zu spielen und den Deckel überzustülpen. Sie waren alle Partei! Und der, welcher die stärkste Hand hätte haben können, nämlich Herr Christoph Bernhard, der Bischof zu Münster, führte Krieg mit den Herren Generalstaaten, pfiff auf das Deutsche Reich, versah sich nichts Gutes von dem Herzog Rudolfus Augustus auf dem Amthause Wickensen und wußte zu allem übrigen, daß seine »gute Munizipalstadt«; – nämlich die Stadt Höxter, der Mehrzahl ihrer Eingesessenen nach, gleichfalls nach Wickensen ausschaute, jedoch aus einem ganz andern Grunde als er, der Bischof.

»Laufe schnell mal einer nach dem Bürgermeister!« heißt es sonst wohl in einem gutgeordneten Gemeinwesen; aber auch das war leidergottes hier und diesmal von wenig Nutzen. Auch der Bürgermeister von Höxter, Herr Thönis Merz, war Partei. Man hatte von katholischer Seite, um ihn und seine »arme gute Stadt« unter die Botmäßigkeit des Stiftes und des Herrn Fürstbischofs zu bringen, ihm und ihr mit Schikanen und sogar auch Handgreiflichkeiten arg zugesetzt. Seine Berichte und Klageschriften an den Schutzherrn zu Wickensen schrieen laut genug darob.

Wie lange war es her zum Exempel, daß man ihn, den hochedlen Bürgermeister, samt seinem ehrbaren Rat auf die Sperlingsjagd geschickt hatte? War das keine Schikane, daß man von Corvey aus der guten und glorreichen Stadt Huxar wie der geringsten Bauernschaft der Umgegend auferlegte, ihr Quantum Sperlingsköpfe im Stiftshofe abzuliefern, vorzuzählen und aufzuschütten?!

Per vulnera Christi hatte die Stadt zum Herzog Rudolfus Augustus um Hülfe geheult, und der Bruder Henricus konnte darüber aussagen, wie die Herzoglichen Gnaden über den Fall dachten.

Ja, ja, wie sich der Bischof und der Herzog über die Weser mit Briefen und von Braunschweigischer Seite vor kurzem auch mit einigen Kompanien Fußvolks und stattlichen Reiterzügen unter die Nase rückten und jahrelang hin und her zogen, das steht auf manchem Blatte zu lesen, das gelb und muffig aus jener Zeit zu uns herabgekommen ist.

»Die gute, uralte Stadt Höxar, welche umb ihrer Gerechtsamen und ihrer heiligen Religion halber Leib, Gut und Blut verloren, wird nunmehro als das geringste Dorf gehalten. Ihre Schlüssel sind ihr benommen, in ihrem guten Rechte, sich selber einen Scharfrichter zu halten, ist sie turbiret. Selbst das Judengeleit, so die Stadt doch vor und nach Anno 1624 gehabt, ist ihr auch wieder weggenommen, daß anitzo ein Hauffen Juden alle in bürgerlichen Häusern allda wohnen, ihren Wucher treiben und dennoch der Stadt nichts geben!«

So schrie die lutherische Bürgerschaft. –

»Wir werden Euch lehren, so anzäpfliche Worte ohngescheut auszusprengen!« grollte der katholische Teil der Bevölkerung; und von Corvey aus ließen sich die Bischöflichen Gnaden vernehmen:

»Mit sonderbarer Milde und Clementz haben wir bis dato Euch ungerathene, widerspenstige Leute zu Huxar tractiret. Unser landesfürstliches Recht haben wir gewahret: wie reimet sich dann, was Ihr zur Bemantelung des Braunschweigischen feindlichen Einfalls hervorbringet?«

»Sind nicht schon Bürgermeistern Johann Wildenhorern deswegen, daß er vor 16 Jahren bey weyland Herrn Abts Arnolden Zeiten in damaligen seinem Bürgermeister-Ampte für der Stadt Jura gestrebet, allererst vor drei Jahren, wie itztermeldeten Herrn Abts Fürstliche Gnaden schon todt gewesen, Früchte weggenommen?« klang's vom Rathause.

»Und wer war Schuld daran«, klang's zurück, »daß unserm Fürstlich Münsterischen Hauptmann Meyer, welcher mit zwanzig Mann bei Euch lag, das Trommelspiel, womit derselbe durch seinen Tambour die gewöhnliche Reveli, Scharwacht und Zapfenstreich schlagen lassen, gewaltthätig weggenommen und zu der Braunschweigischen Munition unterm Rathaus hingebracht wurde?«

»Seid Ihr nicht in dieser anhängigen Sache gleichsam Judex, pars et Advocatus!« schrie die Stadt.

»Mit nichten! Von Gottes Gnaden sind Wir, Christoph Bernhard, Bischof zu Münster, Administrator zu Corvey, Eures heillosen, rebellischen Municipii eingesetzeter und gesalbter Landesherr!« schallte es zurück.

»Hm, Euer Liebden«, kam's vom jenseitigen Ufer der Weser schriftlich herüber, »ohne Euer Liebden in Ihrer unstreitigen Gerechtsame und Landes-Fürstlicher Hoheit zu nahe zu treten, so haben wir doch als Erb-Schutz-Herr wegen unseres Fürstlichen Hauses Interesse dahin zu sehen, daß die arme Stadt in solchem desperaten Zustande nicht gleichsam vor unsern Augen zu Grunde gehen muge.« Signatum: »Rudolff Augustus.« »An den Herrn Bischoffen von Münster.«

In der gehörigen Zeit nach diesem freundnachbarlichen Schreiben war – eben der Herr von Turenne in Höxter eingerückt. Eine verständlichere Antwort auf den herzoglichen Brief hatte Herr Christoph Bernhard von Galen nicht zu geben gewußt, daß aber der gute Nachbar auf dem Amtshause Wickensen sie sofort verstanden hatte, wird uns deutlich werden, wenn der alte Reiter Heinrich von Herstelle zu Corvey Kunde davon gibt, was er im Solling sah.

Was die Judenschaft anbetraf, über deren in Wegfall gekommenes »Geleitsrecht« die Bürgerschaft von Höxter gleichfalls so sehr erbost war, so hielt sie sich verständigerweise so still als möglich, ohne daß es ihr, wie wir zu allem übrigen sogleich sehen werden, viel half. – –

Und nun hatte der Herr von Fougerais am Tage vor der Heimkehr des Bruders Henricus, nach Wesel abmarschierend, die gute Stadt des Fürstbischofs von Münster verlassen und – nicht ohne seine Gründe, vorher die Brücke, die auf das rechte Weserufer überführte, abgebrochen. Christoph Bernhard mit seiner Macht stand weit in der Ferne gegen Holland: für eine Zeit waren Höxter und Corvey sich selber anheimgegeben, und wild und wüst wie in den Häusern und Gassen sah es in den Gemütern aus.

Der Helmstedter konsiliierte Studente, der, seinem Worte wenigstens nach, eben im Begriff war, ein Nachtquartier in irgendeiner Ruine frühern Wohlstandes zu suchen, konnte da vielleicht unter Umständen den ruhigsten und behaglichsten Platz in ganz Huxar finden. Es war jetzt ganz Nacht, und viel zu dunkel, um den Horatius hervorzuholen, und, mit dem Zeigefinger zwischen die Blätter greifend, sich ein Vaticinium aus ihm herauszulangen, wie man früher desgleichen sich aus dem Virgilius holte. Herr Lambert ging deshalb einfach, wie jedes andere Menschenkind, wie das Schicksal ihn führte, und bis jetzt hatte dasselbe ihn, wo nicht immer behaglich, so doch stets recht vergnüglich durch die arge Welt geleitet.


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