Wilhelm Raabe
Die Akten des Vogelsangs
Wilhelm Raabe

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Völlig Nacht war es wohl noch nicht; aber volle Abenddämmerung freilich.

»Bitte, gehen Sie jetzt hinüber; ich komme mit der Lampe nach«, sagte die Frau Fechtmeisterin, und zögernd, bangend erhob ich mich, betäubt, mühsam nach Atem ringend, stand ich und suchte vergeblich nach irgend etwas in mir, was mir den wunderlich schweren, schreckensvollen Weg zu der Tür da drüben leichter und lichter machen konnte. Es gibt so Augenblicke, Zeiten, Umstände im Menschenleben, wo man es vollkommen vergessen hat, daß sich in der Welt im Grunde nachher »alles von selber macht«.

Wie ist eben jetzt, da ich dieses bei offenem Fenster und Frühlingssonnenschein an einem geschäftslosen Feiertagsmorgen zu den Akten des Vogelsangs bringe, dem alten Gemeinplatz wieder sein volles Recht geworden! –

Der Frühlingsanfang fällt immer in den Monat März, aber in diesem Jahr sind auch die hohen Ostern hineingefallen. Ich schreibe am Morgen des ersten Ostertages, und über das Nachbardach sieht mir noch immer, unverbaut, die höchste Kuppe des Osterbergs auf den Schreibtisch. In der Frühlingssonne liegt der liebe Hügel schon, auf dem wir unsere glücklichsten und ahnungsvollsten Jugendträume träumten und die Sterne fallen sahen, – noch einige Wochen, und das junge Buchengrün wird von dem Osterberge herüberleuchten: wie sich auch das immer wieder von selber macht!

Aber was hilft es dem Menschen in seinem einzelnen Bedrängnis, daß Himmel und Erde jung bleiben und sein Geschlecht auch? Gegenwärtig blendet mich über meinem Protokoll der Glanz von Himmel und Erde, und ich muß dagegen mit der Linken die Augen verdecken, wenn die Rechte die Feder weiterführen soll. »Kind, erst nach der Kirche!« hat meine Frau glücklicherweise vorwurfsvoll zu meiner musikalischen Ältesten gesagt: ich würde sonst mich auch wohl noch selber gegen den Flügel und die junge Frühlingslust in Tönen im zu nahe gelegenen Nebengemach haben wehren müssen. –

Von selber hatte es sich trotz meines innerlichsten schaudernden Widerstrebens gemacht, daß ich in dem Gemache stand, wo Velten Andres gestorben war und Helene Trotzendorff auf seiner leeren Bettstatt saß.

Helene Trotzendorff! Unsere Elly aus dem Vogelsang – verwitwete Mistreß Mungo – unsere Helene. Mit den Ellenbogen auf den Knieen und dem Kopf in den Händen, im letzten grauen Tageslicht des Monats November – die Öde um sich her – eigentumlos, besitzesmüde in der Welt, sie, die in New York zu den reichsten Bürgerinnen der Vereinigten Staaten gerechnet wurde!

»Ellen!«

»Bist du das, Karl?« fragte sie, das Gesicht langsam aus den Händen erhebend.

Wie viele Jahre waren es her, daß wir unsere Stimmen nicht mehr gehört hatten? Und wie sie nun aus dem langen Zeitraum sich so fremd und doch so bekannt entgegenklangen!

Sie richtete sich auf – zu stattlicher Höhe. In der Erinnerung hatte ich sie, wenn nicht klein, doch von nur mittlerem Wuchs und zierlich gelenkig. Alle Hügel, Büsche, Mauern, ja, auch Bäume um den Osterberg herum konnten ja davon berichten, wie sie sich durchzuwinden, zu springen und zu klettern wußte. Nun stand sie in dem letzten grauen Licht des Novembertags so ganz anders als die, auf welche ich mich die letzten Tage vorbereitet hatte, um ihr hülfreiche Hand in einem großen Schmerz zu leisten. Später bei Tageslicht würde ich wohl gesehen haben, daß sie noch immer eine schöne Frau war, trotz dem Silber, in das sich ihr goldenes Haar verwandelt hatte, doch das geht zu den Akten wie so manches andere von geringer Bedeutung. Als die Frau Fechtmeisterin jetzt mit der Lampe kam, sah ich auch auf ihrer weißen, klugen, vom Alter nur leicht gefurchten Stirn das Wort geschrieben:

»Sei gefühllos!
Ein leichtbewegtes Herz
Ist ein elend Gut
Auf der wankenden Erde.« –

Sie reichte mir jetzt erst die eine Hand her, dann auch die andere, und über die Schulter nach dem leeren Bett zurückblickend sagte sie:

»Wie gut von dir, daß du auf meinen Brief so rasch durch dein Kommen geantwortet hast. Ich hätte dich gern früher hier gehabt, aber – er wollte es nicht. Eure gute Leonie und mich hat er sich um sich gefallen lassen müssen, wohl oder übel. Da habe ich, da haben wir auch unsern Willen gehabt! Sie, eure Leonie, ist nun wohl schon wieder in ihren Frieden heimgekehrt; aber ich – ich habe noch nicht wieder gehen können. Ja, Karl, ich habe hier gesessen und auf dich gewartet, um dir von uns zu sprechen – von ihm und mir, und wenn es auch nur wäre, um einen bessern Platz in deinem Gedächtnis zu bekommen, als ich ihn bis jetzt gehabt habe, seit er dir zuletzt bei euch – im Vogelsang von mir gesprochen hat.«

Nun hätte ich ihr sagen müssen, wie wenig von ihr zwischen uns die Rede gewesen war in der Zeit, da Velten Andres mit seinem Eigentum in der Heimat aufräumte; aber die Frau Fechtmeisterin ließ mir glücklicherweise nicht dazu Zeit.

»Ja, sprechen Sie sich nur aus, armes, liebes Frauchen; der Herr Oberregierungsrat ist immer ein guter Zuhörer gewesen«, sagte sie und fügte kopfschüttelnd bei: »Wo die Leute aus so verschiedenen Welten kommen wie jetzt bei mir, da muß man ja wohl für jeden ein anderes Wort haben. Fräulein Leonie –«

Mistreß Mungo fuhr mit einem so wilden Schulterzucken auf, daß die Alte nur noch einmal den Kopf schüttelte, die Lampe ein wenig weiter in die Mitte des Tisches rückte und – Helene Trotzendorff und Karl Krumhardt mit Velten Andres allein ließ. –

»Er wollte nichts mehr um sich haben, der verrückte Mensch«, hatte mir vorhin die Frau Fechtmeisterin noch mitgeteilt. »Nichts weiter brauche er als einen Tisch, einen Stuhl und ein Bett. Du lieber Gott, als ob hier jemals bei meinem jungen Volk von Überflüssigem hätte die Rede sein können! Er aber schob alles und jedes von sich ab und mir vor die Tür. Ja, sehen Sie sich nur drüben um. Um ein festes Herz zu kriegen, hat er sich zu einem Tier, zu einem Hund gemacht; – sehen Sie sich nur bei ihm um, Herr Oberregierungsrat.«

Das tat ich nun bei dem trüben Licht der kleinen Lampe und empfand nichts von einer Befreiung von der Schwere des Erdendaseins in dieser Leere, sondern im Gegenteil den Druck der Materie schwerer denn je auf der Seele. Ich hätte freier geatmet im Staube, der aus hundert Fächern die Wände uns verenget, unter dem Trödel, der mit tausendfachem Tand in dieser Mottenwelt uns dränget. Die Luft entging mir, und es war mir eine Erlösung aus traumhaft wüstem Bann, als mich doch noch eine Menschenstimme ansprach und die Freundin, unsere Freundin, sagte:

»Laß uns niedersitzen, lieber Karl«, und mit hartem Lächeln hinzufügte: »erzählen trübe Mär vom Tod der Könige.«

Sie sprach das Dichterwort englisch: »Let us sit upon the ground and tell sad stories of the death of kings«, und als ich nach dem Stuhl griff, ließ sie sich wieder auf der eisernen Bettstatt nieder, von der sie sich bei meinem Eintritt erhoben hatte, und deutete auf den Platz ihr zur Seite:

»Dahin, mein Freund! Erinnerst du dich wohl noch der Bank auf dem Osterberge, von welcher aus wir vor hundert Jahren einmal die Sterne fallen sahen und die Götter versuchten, indem wir unsere Wünsche und Hoffnungen damit verknüpften?«

Sie wartete meine Antwort nicht ab, sondern fuhr hastig fort, als fürchte sie sogar, durch eine Zwischenrede in ihrem wilden Drange, ihrer Seele Luft zu machen, aufgehalten zu werden:

»Seht« (sie sprach, als ob Velten noch wie damals zwischen uns sitze), »ich hätte mir lieber die Zunge abgebissen als ganz wahr davon gesprochen, wie ich mir mein Lebensglück dachte. Und ihr kanntet das ja auch zur Genüge; meine arme Mutter hat gut dazu geholfen, und ich kannte euer Grinsen und Lachen. Das war euer albernes Jungensrecht, und er vor allem hat Gebrauch davon gemacht – nicht bloß im Vogelsang und auf dem Osterberge, sondern auch im großen Leben, drüben in Amerika, in London, in Paris und Rom, wo wir nachher einander getroffen haben! Und wir haben einander wieder getroffen, Karl. Wie wir uns sträuben mochten, wir mußten einander suchen – bis in den Tod, bis auf dieses harte Bett, in allem Sturm und Sonnenschein des Daseins bis hinein in diesen Novemberabend. Das war noch stärker als er, und er hielt sich für sehr stark; ich aber kenne ihn in seiner Schwäche. Da er sich nicht anders gegen mich wehren konnte und mich überall in seinem Leben, in seinen Gedanken und Träumen und in seinem Tun fand, da er mich nicht aus seinem Eigentum an der Welt loswurde, mußte er ja allem Besitz entsagen, alles Eigentum von sich stoßen und hat – doch vergeblich den Vers dort an die Wand geschrieben! Es war ja auch nur ein törichter Knabe, der mit seinem leichtbewegten Herzen zuerst in jenen nichtigen Worten Schutz vor sich selber suchte!«

Sie wies auf die ärmlich weißgetünchte Wand, auf die letzte Spur von Velten Andres' Erdenwanderschaft; dann nahm sie das Gesicht in beide Hände und senkte das Haupt tiefer, und ein Frostschauer schien ihr über den Nacken zu laufen. Nun griff sie nach meiner Hand und drückte sie zusammen, daß sie schmerzte:

»Sprich nicht zu mir, Karl! Was könntest du mir sagen? Laß mich sprechen! Wen habe ich denn auf der ganzen weiten Erde, zu dem ich von mir reden könnte? Ich, die ich die ganze weite Erde zum Eigentum habe und nur die mit Gold gefüllte Hand hinzuhalten brauche, um meinen Willen zu haben, wie ich ihn auf dem Osterberge in mein Herz desto zorniger verschloß, weil ihr schon zuviel davon wußtet! Wäre ich doch wie andere, die sich damit trösten können und es auch tun, daß sie verkauft worden seien, daß es von Vater und Mutter her sei, wenn sie gleich wie andere auf dem Markte der Welt eine Ware gewesen sind! Aber das wäre eine Lüge, und gelogen habe ich nie, und feige bin ich auch nicht, und wenn er was von mir wußte, war es das. Was ich geworden bin, ist aus mir selber, nicht von meiner armen Mutter her und noch weniger von meinem Vater. In unserm Vogelsang unter unserm Osterberge war ich dieselbe, die ich jetzt war, wo ich hier lag vor diesem Bett und ihn mit meinen Armen umschlossen hielt und auf seine letzten Worte wartete. Da strich er mir mit seiner Hand noch einmal über die Stirn und lächelte: 'Du bist doch mein gutes Mädchen!' Das war auch wie in unseren Wäldern zu Hause, wo er mich mit dem Worte tausendmal zum Küssen und Kratzen, zu Tränen und zum Fußaufstampfen brachte. Was wußte eure weiche, fromme Leonie von ihm und mir? Deine liebe Frau zu Hause, in deinem lieben Hause, Karl, könnte da vielleicht noch mehr von uns wissen, denn die lebt nicht allein im Traum, sondern hat dich und ihre Kinder und nicht bloß die Geschichte ihrer Väter von vor Jahrhunderten und ihr Reich Gottes von heute. Was hatte diese Fromme, Milde, Sanfte sich zwischen mich und ihn zu drängen? Was wollte sie hier? Ich, ich, ich, die Witwe Mungo hatte allein das Recht, in diesem leeren Raum mit ihm den Kampf bis zum Ende zu ringen. Auch ihn zu begraben, hatte ich keinen von euch nötig, auch euren Herrn Leon nicht, obgleich ich mir dessen Freundlichkeit gefallen lassen habe. Was hättet ihr ihm in seine letzten Tage und Stunden hinsprechen können, was ihm den alten Glanz in seinen Augen festgehalten hätte? Lache nicht über meine greisen Haare, über das verrückte alte Frauenzimmer. Vor zwei Jahren war ich, ich, die Witwe Mungo, mit meiner Jacht von Brindisi nach Alexandrien gekommen und er als Dolmetscher auf einem Pilgerschiff durch den Suezkanal von Dscheddah, da haben wir uns auch getroffen im Hotel an der Wirtstafel. Was wißt ihr hier im Land von uns beiden? Damals hat auch er mich seine alte Nilschlange genannt – oh, ich habe seinetwegen mir ja die ganze Gelehrsamkeit von Poughkeepsie zusammentragen müssen in mein armes Hirn: sie waren auch in unserm Alter, der Mark Anton und seine ägyptische Königin. Sie waren auch alte Leute, er über die Fünfzig hinaus, sie vierzig Jahre alt, und haben doch ihren Kampf um sich kämpfen müssen bis zum Tode, bis sie beide tot waren. Sie zuletzt! Ja, auch ich lebe noch und habe noch meine ganze Herrlichkeit um mich her und sie nicht verloren wie die Ägypterin die ihrige bei Aktium. Ja, merkst du, ich habe seinetwegen Geschichte und auch Literaturgeschichte getrieben. Da ist noch ein ander Paar aus euren Büchern. Am achtzehnten Oktober achtzehnhundertdreizehn hat euer alter Goethe – nicht mehr der junge, der uns den giftigen Vers gab, den Vers, der unser Leben vergiftet hat! – ja, was wollte ich sagen? ja, hat euer alter Goethe sein letztes schönes Gedicht gemacht – auf die Elisabeth von England, die ihrem Liebsten den Kopf abschlagen lassen mußte. Das konnte die Witwe Mungo – nein, das konnte Helene Trotzendorff nicht, wie gern sie ihm auch oft den Fuß auf das Herz, das gefühllose Herz gesetzt haben würde! Sie hat ihm nur die Hand darunterlegen dürfen – hier auf seinem Sterbebett, in seiner Todesstunde, darunterlegen müssen! Wie konnte sie anders, die Witwe Mungo, da er sie nicht erwürgt und sie auch nicht angespieen hatte – da der arme Komödiant das elendeste Gut auf dieser Erde, das leichtbewegte Herz, trotz aller Reime eurer Poeten und aller Sprüche eurer Weisen in seiner Brust hatte behalten müssen, so süß und so bitter wie ich, die arme Komödiantin, das meinige, trotzdem daß ich mit dem Vogelsang und dem Osterberg auch unser liebes fürstliches Residenzschloß im Tal und die ganze Stadt und das halbe Herzogtum aus meinen amerikanischen Eisenbahnen und Silberbergwerken kaufen könnte?! Sein weises, törichtes Haupt in meiner leeren Hand – meiner leeren, leeren, besitzlosen Hand: oh wie schade, daß du kein Versmacher bist, du guter Freund Karl, sonst solltest du über Velten Andres' und Helene Trotzendorffs Sterne, Wege und Schicksale ein Lied machen. Ob du ein Philosoph bist, weiß ich nicht; aber daß du ein kluger, guter, verständiger Mann bist, das weiß ich; und so, wenn wir jetzt, wohl auf Nimmerwiedersehen, voneinander scheiden, dann gehe heim zu deiner lieben Frau und deinen lieben Kindern und erzähle den letzteren zu ihrer Warnung von Helene Trotzendorff und Velten Andres, und wie sie frei von allem Erdeneigentum ein trübselig Ende nahmen. Schreib in recht nüchterner Prosa, wenn du es ihnen, der bessern Dauer wegen, zu Papier bringen willst, und laß sie es in deinem Nachlaß finden, in blauen Pappendeckeln, wie ich sie immer noch unter deines guten Vaters Arme sehe; und da er darauf schreiben würde: 'Zu den Akten des Vogelsangs', so kannst du das ihm zu Ehren auch tun, ehe du sie in dein Hausarchiv schiebst – ein wenig abseits von deinen eigensten Familienpapieren.« – – –


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